Für Sprachtherapeuten in Ausbildung und in der Praxis ist ein fundiertes neurologisches Wissen unerlässlich, um Patienten mit neurologisch bedingten Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen adäquat zu behandeln. Dieses Wissen schafft die nötigen Grundlagen und Diagnostikmöglichkeiten, um eine qualitativ gute Sprachtherapie bei den häufig komplexen Störungsbildern durchführen zu können. Der vorliegende Artikel vermittelt einen Überblick über die wichtigsten neurologischen Grundlagen für Sprachtherapeuten.
Einführung in die neurologischen Grundlagen für Sprachtherapeuten
Die Neurologie befasst sich mit dem Aufbau, der Funktion und den Erkrankungen des Nervensystems. Für Sprachtherapeuten ist es wichtig, die Grundlagen der Neuroanatomie und Neurophysiologie zu verstehen, um die Ursachen und Auswirkungen neurologischer Erkrankungen auf die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten der Patienten einschätzen zu können.
Grundlagenwissen Logopädie ist Voraussetzung für Sprachtherapeuten eine Stimm- und/oder Sprachstörung zu erkennen und zu therapieren. Themen aus angrenzenden Fachgebieten werden speziell für Sprachtherapeuten bzw. Logopäden aufbereitet, wie z.B. neurologische und psychologische Einflüsse auf Stimme und Sprache und können Hilfestellung bei Diagnose und Auswahl der nötigen logopädischen Therapie leisten. Fachwissen und Erkenntnisse aus Anatomie und Physiologie für Logopäden halten zahlreiche Anatomieatlanten und andere Bücher bereit. Anatomische und physiologische Eigenschaften des menschlichen Körpers bilden die Voraussetzung für seine Sprach- und Stimmentwicklung. Logopäden und Sprachtherapeuten verfügen über fundiertes Wissen der Bereiche, die für die Stimm- und Sprachentwicklung verantwortlich sind. Fehlstellungen oder Beeinträchtigungen des Kiefers, Rachens, Halses oder Kopfes können Ursache für Störungen sein.
Altersgemäße und auffällige Entwicklung von Nervensystem und Sprache
Ein Einblick in die altersgemäße und die auffällige Entwicklung von Nervensystem und Sprache ist essenziell. Sprachtherapeuten müssen die normale Entwicklung des Nervensystems und der Sprache kennen, um Abweichungen und Störungen frühzeitig erkennen und behandeln zu können. Dazu gehört das Wissen über die verschiedenen Entwicklungsstadien des Gehirns, die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten und die Faktoren, die diese Entwicklung beeinflussen können.
Neuropädiatrische Diagnostik und Therapie
Informationen über neuropädiatrische Diagnostik und Therapie sind entscheidend. Die Neuropädiatrie ist ein wichtiger Bereich für Sprachtherapeuten, da viele neurologische Erkrankungen im Kindesalter auftreten und sich auf die Sprachentwicklung auswirken können. Die Diagnostik umfasst verschiedene Verfahren wie neurologische Untersuchungen, bildgebende Verfahren und entwicklungsdiagnostische Tests. Die Therapie zielt darauf ab, die Entwicklung des Kindes zu fördern und die sprachlichen Fähigkeiten zu verbessern.
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Neurologische Krankheitsbilder und ihre Entwicklungsperspektiven
Kenntnis über neurologische Krankheitsbilder und ihre Entwicklungsperspektiven ist unerlässlich. Sprachtherapeuten sollten über die häufigsten neurologischen Krankheitsbilder informiert sein, die Sprach-, Sprech-, Stimm- oder Schluckstörungen verursachen können. Dazu gehören beispielsweise Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Es ist wichtig, die Symptome, Ursachen, den Verlauf und die Behandlungsmöglichkeiten dieser Erkrankungen zu kennen, um die Patienten bestmöglich zu betreuen.
Aphasie
Aphasien sind erworbene Sprachstörungen, die infolge einer Schädigung sprachrelevanter Areale im Gehirn auftreten können. Betroffen sind die Fähigkeiten des Sprachverständnisses, des Sprechens, des Lesens und des Schreibens. Aphasien sind nicht Denk-, sondern Sprachstörungen. Die Angaben zur Prävalenz von Aphasien aller Ätiologien schwanken stark. Während in Deutschland von ca. 100 pro 100 000 ausgeht, werden in den USA ca. 400 pro 100.000 angegeben. Die Inzidenz eines Schlaganfalls mit resultierender Aphasie wird mit ca. 25 000 pro Jahr angegeben. Ursächlich sind meist Läsionen in der sprachdominanten (meist der linken) Hemisphäre.
Klassifikation und Symptomatik:
Die Klassifikation von Aphasien erfolgt traditionell anhand verschiedener Kriterien, wie z. B. der Sprachflüssigkeit, dem Sprachverständnis und der Fähigkeit zur Lautproduktion. Es werden verschiedene Aphasieformen unterschieden, darunter:
- Broca-Aphasie: Gekennzeichnet durch eine nicht-flüssige, angestrengte Sprachproduktion mit grammatikalischen Fehlern und reduziertem Sprachfluss. Das Sprachverständnis ist meist relativ gut erhalten.
- Wernicke-Aphasie: Gekennzeichnet durch eine flüssige, aber inhaltsleere Sprachproduktion mit Wortfindungsstörungen und semantischen Paraphasien. Das Sprachverständnis ist stark beeinträchtigt.
- Globale Aphasie: Schweregradigste Form der Aphasie mit Beeinträchtigung aller sprachlichen Modalitäten.
- Amnestische Aphasie: Gekennzeichnet durch Wortfindungsstörungen bei relativ gut erhaltenem Sprachverständnis und Sprachproduktion.
Die Symptomatik einer Aphasie kann sehr vielfältig sein und sich individuell unterschiedlich äußern. Neben den oben genannten Symptomen können auch folgende Beeinträchtigungen auftreten:
- Phonematische Paraphasien: Abweichungen in Auswahl und Reihenfolge der Sprachlaute.
- Morphologische Paraphasien: Fehler bei den kleinsten bedeutungstragenden Elementen eines Wortes.
- Semantische Paraphasien: Fehler in der Verwendung von Bedeutungseinheiten.
- Agrammatismus: Abweichungen im Satzbau.
Diagnostik:
Die Befundung einer Aphasie beinhaltet i. d. R. eine ausführliche Anamnese, eine neurologische Untersuchung und eine sprachtherapeutische Diagnostik. Im Akutstadium werden häufig Screening-Verfahren eingesetzt, um eine Aphasie schnell zu erkennen. Im subakuten/chronischen Stadium kommen umfassendere Testverfahren zum Einsatz, um die Art und den Schweregrad der Aphasie zu bestimmen. Es existieren im deutschsprachigen Raum noch keine standardisierten Assessments. Für die Aphasiediagnostik werden daher konventionelle Assessmentinstrumente herangezogen. Dazu gehören beispielsweise der Aachener Aphasie Test (AAT), das Bielefelder Aphasie Screening (BiAS) und die Aphasie Check Liste.
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Therapie:
Ziel der Therapie ist eine möglichst effektive Kommunikation im Alltag, u. U. (ggf. unter Einbeziehung kompensatorischer Strategien. Die Therapie sollte sich an den individuellen Bedürfnissen und Zielen des Patienten orientieren und auf seine spezifischen Stärken und Schwächen abgestimmt sein. Wichtige Therapieziele sind:
- Verbesserung sprachlicher Funktionen (z. B. Wortabruf, Sprachverständnis, Satzbau).
- Verbesserung kommunikativer Fähigkeiten (z. B. Gesprächsführung, nonverbale Kommunikation).
- Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten (z. B. Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, Ausübung des Berufs).
Es gibt verschiedene Therapieansätze, die bei Aphasie eingesetzt werden können. Dazu gehören beispielsweise:
- Sprachsystematische Therapie: Konzentriert sich auf die Verbesserung spezifischer sprachlicher Funktionen.
- Kommunikationsorientierte Therapie: Fokussiert auf die Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten im Alltag.
- Intensivtherapie: Umfasst individualisiertes Üben sowie Therapieintervalle mit hoher Therapieintensität.
Evidenzbasierte Intensivtherapieansätze wie z. B. Constraint Induced Language Therapy/Constraint Induced Aphasia Therapy/ILAT sind vielversprechend. Ob Pharmakotherapie einen positiven Effekt bei Aphasie hat, ist uneindeutig. Neuere Studien haben Magnetstimulation (TMS) begleitend zur Sprachtherapie eingesetzt. Auch die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) hat in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen.
Verordnung:
Die Verordnungsmenge für Sprachtherapie bei Aphasie beträgt in der Regel bis zu 20 ×/VO. Die Frequenz der Therapie sollte individuell angepasst werden, wird aber häufig als niedriger Frequenz verordnet.
Sprechapraxie
Neurogene Störungen des Sprechens umfassen die Mechanismen der motorischen Planung (Sprechapraxie) oder der Ausführung von Sprechbewegungen, z. B. am Sprechen beteiligten Muskulatur (Dysarthrien). Sprechapraxie ist eine neurologisch bedingte Störung der Planung (oder "Programmierung") von Sprechbewegungen. Sie ist nicht durch elementarmotorische Störungen wie z.B. Lähmungen oder Koordinationsstörungen der Muskulatur zu erklären. Zur Prävalenz der Sprechapraxie liegen keine gesicherten Daten vor.
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Ursachen:
Ursächlich für eine Sprechapraxie ist meist eine fokale Gewebeschädigung (z. B. Schlaganfall) in der sprachdominanten Hemisphäre. Es können aber auch entzündliche oder demyelinisierende Prozesse (z. B. Multiple Sklerose) eine Sprechapraxie verursachen.
Symptomatik:
Die Symptomatik einer Sprechapraxie ist sehr variabel und kann sich individuell unterschiedlich äußern. Typische Merkmale sind:
- Artikulatorische Such- und Korrekturprozesse.
- Sicht- und hörbare Sprechanstrengung.
- Überartikulation.
- Inkonsistente Lautbildungsfehler.
- „Inseln störungsfreier Produktion“.
Sprechapraktische Störungen ohne zusätzliche aphasische Symptomatik (z. B. Wortfindungsstörungen) kommen selten vor. Häufig werden Laute durch andere Sprachlaute ersetzt. Die Lautfehler folgen oft mühsame und langwierige Korrekturversuche.
Diagnostik:
Die Diagnostik der Sprechapraxie umfasst eine ausführliche Anamnese, eine neurologische Untersuchung und eine sprachtherapeutische Diagnostik. Wichtig ist die Abgrenzung zu anderen Sprechstörungen, insbesondere zur Dysarthrie und Aphasie. Die Beurteilung des Schweregrades muss anhand auditiver Bewertungsskalen bestimmt werden.
Therapie:
Ziel der Therapie ist die Verbesserung der Planung und Ausführung von Sprechbewegungen, um eine verständliche Kommunikation zu ermöglichen. Es gibt verschiedene Therapieansätze, die bei Sprechapraxie eingesetzt werden können. Dazu gehören beispielsweise:
- Artikulatorisch-kinematische Verfahren: Konzentrieren sich auf die Verbesserung der Artikulationsgenauigkeit.
- Auf Rhythmus- und Tempokontrolle beruhende Verfahren: Nutzen Rhythmus und Tempo, um die Sprechmotorik zu verbessern.
- Methoden der intersystemischen Reorganisation/Fazilitierung: Nutzen andere sensorische oder motorische Systeme, um die Sprechmotorik zu verbessern.
Die Therapie sollte sich an Prinzipien motorischen Lernens orientieren.
Verordnung:
Die Verordnungsmenge für Sprachtherapie bei Sprechapraxie beträgt in der Regel Erst-VO: bis zu 10 ×/VO, Folge-VO: bis zu 20 ×/VO.
Dysarthrie
Dysarthrien sind neurologisch bedingte Sprechstörungen, die durch Störungen der Ausführung von Sprechbewegungen verursacht werden. Betroffen sind die Bewegungen der für das Sprechen relevanten Muskulatur (z. B. Zunge, Lippen, Gaumensegel). Die Ursachen für Dysarthrien können vielfältig sein und umfassen beispielsweise:
- Fokale Gewebeschädigung (z. B. Schlaganfall).
- Entzündliche oder demyelinisierende Prozesse (z. B. Multiple Sklerose).
- Neuromuskuläre Erkrankungen (z. B. Myasthenia gravis).
- Morbus Parkinson.
Je nach Lokalisation und Art der Schädigung werden verschiedene Dysarthrieformen unterschieden:
- Peripher-paretische („schlaffe“) Dysarthrie.
- Zentral-paretische („spastische“) Dysarthrie.
- Hypokinetische Dysarthrie: v. a. bei Morbus Parkinson.
- Hyperkinetische Dysarthrie: z. B. choreatisch-hyperkinetisch oder athetotisch.
- Ataktische Dysarthrie.
Symptomatik:
Die Symptomatik einer Dysarthrie ist abhängig von der zugrunde liegenden Ursache und der betroffenen Muskulatur. Typische Merkmale sind:
- Ungenauigkeit der Artikulation.
- Verlangsamung der Sprechgeschwindigkeit.
- Veränderung der Stimmqualität (z. B. Heiserkeit, Behauchtheit).
- Störung der Sprechatmung.
- Veränderung der Prosodie (z. B. Monotonie).
Diagnostik:
Die Diagnostik der Dysarthrie umfasst eine ausführliche Anamnese, eine neurologische Untersuchung und eine sprachtherapeutische Diagnostik. Wichtig ist die genaue Analyse des Störungsmusters, d. h. die Beschreibung der Beeinträchtigungen in den Bereichen Atmung, Stimme, Artikulation und Prosodie. Zur Diagnostik gehören auch apparative Untersuchungen, wie z. B. eine Laryngoskopie oder eine Spirometrie.
Therapie:
Ziel der Therapie ist die Verbesserung der Verständlichkeit und der kommunikativen Fähigkeiten des Patienten. Es gibt verschiedene Therapieansätze, die bei Dysarthrie eingesetzt werden können. Dazu gehören beispielsweise:
- Übungen zur Verbesserung der Artikulation.
- Übungen zur Verbesserung der Stimmqualität.
- Übungen zur Verbesserung der Sprechatmung.
- Übungen zur Verbesserung der Prosodie.
- Kompensationsstrategien.
Die Therapie sollte sich an den individuellen Bedürfnissen und Zielen des Patienten orientieren und auf seine spezifischen Stärken und Schwächen abgestimmt sein.
Verordnung:
Die Verordnungsmenge für Sprachtherapie bei Dysarthrie beträgt in der Regel Erst-VO: bis zu 10 ×/VO, Folge-VO: bis zu 20 ×/VO.
Die Rolle des Sprachtherapeuten in der neurologischen Rehabilitation
Sprachtherapeuten spielen eine wichtige Rolle in der neurologischen Rehabilitation von Patienten mit Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Sie arbeiten eng mit anderen Berufsgruppen zusammen, wie z. B. Ärzten, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und Psychologen, um eine umfassende und individuelle Betreuung der Patienten zu gewährleisten. Die Aufgaben des Sprachtherapeuten umfassen:
- Diagnostik von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen.
- Erstellung von individuellen Therapieplänen.
- Durchführung von Sprachtherapie.
- Beratung von Patienten und Angehörigen.
- Anpassung von Kommunikationshilfen.
- Teilnahme an interdisziplinären Teamsitzungen.
Fort- und Weiterbildung für Sprachtherapeuten im Bereich Neurologie
Um Patienten mit neurologischen Erkrankungen kompetent behandeln zu können, ist eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung für Sprachtherapeuten unerlässlich. Es gibt zahlreiche Fortbildungen und Seminare, die sich speziell an Sprachtherapeuten richten, die im Bereich Neurologie tätig sind. Diese Fortbildungen vermitteln aktuelles Wissen über neurologische Krankheitsbilder, Diagnostikverfahren und Therapiemethoden. Einige Beispiele für Fortbildungen und Seminare sind:
- Online-Seminar - Kognitive Dysphasien
- Online-Seminar - MODAK® - Kommunikative Aphasietherapie auf neurolinguistischer Grundlage
- Präsenz-Seminar - Taping für Logopäden
- Präsenz-Seminar - Behandlung von fazialen und intra-oralen Paresen in Anlehnung an die Propriorezeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF)
- LoMo - Muskelerkrankungen im Erwachsenenalter mit Dysphagie als Begleit- oder Leitsymptom
- Online-Seminar - Diagnostik und Therapie bei peripherer Fazialisparese
- Online-Seminar: Sprachtherapie bei Morbus Parkinson
- Fachtherapeut Dysphagie - Atmung, Haltung und Bewegung
- Fachtherapeut Dysphagie (L) - Dysphagie Grundlagen: Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie und Ätiologie
- Fachtherapeut Dysphagie - Diagnostik der Schluckstörung
Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Die Behandlung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen erfordert eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit. Sprachtherapeuten arbeiten eng mit Ärzten, Pflegepersonal, Psychologen, Ergotherapeuten und Physiotherapeuten zusammen, um eine umfassende und individuelle Betreuung der Patienten zu gewährleisten. Durch den Austausch von Informationen und die gemeinsame Planung der Therapie können die Behandlungsergebnisse optimiert werden.
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