Phineas Gage: Eine bahnbrechende Gehirnverletzung

Einführung

Der Fall von Phineas Gage, einem US-amerikanischen Eisenbahnarbeiter des 19. Jahrhunderts, ist einer der bekanntesten und am meisten diskutierten Fälle in der Geschichte der Neurowissenschaften. Am 13. September 1848 erlitt Gage einen schweren Unfall, bei dem eine Eisenstange seinen Schädel durchbohrte. Obwohl er den Unfall überlebte, veränderte sich seine Persönlichkeit dramatisch. Dieser Vorfall lieferte frühe Beweise dafür, dass das Frontalhirn eine entscheidende Rolle für Persönlichkeit, Verhalten und soziale Interaktion spielt.

Der Unfall

Phineas Gage war ein 25-jähriger Vorarbeiter, der im Eisenbahnbau in Vermont arbeitete. Seine Aufgabe war es, Sprengungen vorzubereiten, um den Weg für die Eisenbahntrasse freizumachen. Dabei wurden Löcher in den Fels gebohrt, mit Schießpulver gefüllt und mit Sand verschlossen, bevor die Ladung mit einer Eisenstange verdichtet wurde.

Am 13. September 1848 unterlief Gage ein fataler Fehler: Er vergaß, Sand in eines der Bohrlöcher zu füllen, bevor er das Schießpulver mit der Eisenstange verdichtete. Durch die Reibung der Stange am Gestein entzündete sich das Schießpulver, was zu einer heftigen Explosion führte. Die Eisenstange, die etwa 1,10 Meter lang war und einen Durchmesser von 3 cm hatte, wurde mit großer Wucht aus dem Loch geschleudert und durchbohrte Gages Schädel. Sie trat unterhalb des linken Wangenknochens ein, durchquerte das Gehirn und trat oben am Kopf wieder aus.

Das unmittelbare Überleben

Trotz der Schwere der Verletzung überlebte Gage den Unfall auf wundersame Weise. Er war nur kurz bewusstlos und konnte sich kurz darauf wieder aufrichten und sprechen. Seine Kollegen berichteten, dass er benommen, aber ansprechbar war. Er wurde in einem Ochsenkarren in seine Unterkunft gebracht, wo der Arzt John Martyn Harlow ihn behandelte.

Harlow beschrieb, dass er seinen Zeigefinger in das Loch im Schädel von Gage schieben und den anderen Finger, den er in das Loch in der Wange schob, berühren konnte. Anfangs gab der Arzt seinem Patienten geringe Überlebenschancen, doch Gage erholte sich gegen alle Wahrscheinlichkeiten beinahe vollständig. Innerhalb weniger Monate war er bei alten Kräften und kehrte zurück an seine Arbeitsstelle.

Lesen Sie auch: Faszination Nesseltiere: Wie sie ohne Gehirn leben

Die Persönlichkeitsveränderung

Obwohl Gage körperlich genesen war, bemerkten seine Freunde und Kollegen bald eine drastische Veränderung seiner Persönlichkeit. Vor dem Unfall galt er als zuverlässig, verantwortungsbewusst, still und fleißig. Nach dem Unfall wurde er launisch, respektlos, ungeduldig und unzuverlässig. Er fluchte bei der Arbeit, neigte zu cholerischen Ausbrüchen und zeigte wenig Achtung vor seinen Mitmenschen.

Sein behandelnder Arzt, John Harlow, notierte, dass das Gleichgewicht zwischen Gages „geistigen Fähigkeiten und seinen tierischen Leidenschaften“ verloren gegangen sei. Er entsprach damit der dominierenden Anthropologie der westlichen Welt im 19. Jahrhundert: Der Mensch als schlaustes unter den Tieren, weil er den Verstand besitzt, sich zu zügeln, rational zu handeln und seine Triebe zu kontrollieren. All das schien Gage verloren zu haben.

Gages Leben nach dem Unfall

Aufgrund seiner Persönlichkeitsveränderung war Gage nicht mehr in der Lage, seinen früheren Beruf als Vorarbeiter auszuüben. Er zog unstet umher und wechselte ständig seinen Job. Er arbeitete als Kutscher in Chile und reiste später zu Verwandten nach San Francisco, wo er 1860 im Alter von 36 Jahren an einem epileptischen Anfall starb, vermutlich eine Spätfolge seines Unfalls.

Die Bedeutung des Falls für die Neurowissenschaften

Der Fall von Phineas Gage erregte großes Aufsehen und wurde zu einem wichtigen Fall in der Medizingeschichte. Er lieferte frühe Beweise dafür, dass das Frontalhirn eine entscheidende Rolle für Persönlichkeit, Verhalten und soziale Interaktion spielt. Vor Gages Fall glaubten viele Wissenschaftler, dass das Gehirn ein undifferenziertes Organ sei, ähnlich der Leber, und dass psychische Funktionen nicht bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden könnten.

Gages Fall widerlegte diese Vorstellung und zeigte, dass Schäden in bestimmten Bereichen des Gehirns zu spezifischen Veränderungen im Verhalten und der Persönlichkeit führen können. Insbesondere die Schädigung seines Frontalhirns führte zu einem Verlust der Fähigkeit, sein Verhalten in der Gesellschaft zu kontrollieren, was Moral, Affektkontrolle und Gewissen beeinträchtigte.

Lesen Sie auch: Lesen Sie mehr über die neuesten Fortschritte in der Neurowissenschaft.

Spätere Forschungen und Rekonstruktionen

Nach Gages Tod ließ sein ehemaliger Arzt John Harlow den Leichnam exhumieren, um den Schädel für weitere Untersuchungen zu sichern. Der Schädel und die Eisenstange wurden später der Harvard Medical School übergeben, wo sie bis heute aufbewahrt werden.

In den folgenden Jahren wurden verschiedene Studien durchgeführt, um die genauen Auswirkungen der Verletzung auf Gages Gehirn zu rekonstruieren. Im Jahr 1994 erstellte ein amerikanisches Forscherteam ein dreidimensionales Modell von Gages Schädel auf der Basis von Fotografien und Röntgenaufnahmen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Eisenstange nicht nur den linken, sondern auch den rechten Frontallappen beschädigt hatte.

Eine spätere Computersimulation aus dem Jahr 2012 ergab jedoch, dass der rechte Frontallappen wahrscheinlich nicht direkt getroffen wurde, aber dass neuronale Verknüpfungen in diesem Bereich dennoch beschädigt wurden. Dies könnte ebenfalls zu den extremen Verhaltensänderungen des Unfallopfers beigetragen haben.

Kritik und alternative Interpretationen

Obwohl der Fall von Phineas Gage weithin als bahnbrechend in der Neurowissenschaft gilt, gibt es auch Kritik und alternative Interpretationen. Einige Forscher argumentieren, dass die Berichte über Gages Persönlichkeitsveränderung übertrieben sind und dass er sich im Laufe der Zeit möglicherweise erholt hat.

Der australische Psychologe Malcolm Macmillan hat die Biografie des historischen Phineas Gage eingehend untersucht und festgestellt, dass viele der Details, die in Lehrbüchern über seinen Fall berichtet werden, nicht durch Primärquellen belegt sind. Er argumentiert, dass Gage möglicherweise nicht so stark beeinträchtigt war, wie oft dargestellt wird, und dass er in der Lage war, als Kutscher zu arbeiten und soziale Kompetenzen zu zeigen.

Lesen Sie auch: Tinnitus und Gehirnaktivität: Ein detaillierter Einblick

Andere Forscher haben darauf hingewiesen, dass John Harlow, Gages Arzt, ein Anhänger der Phrenologie war, einer damals populären Theorie, die davon ausging, dass bestimmte Gehirnregionen für bestimmte psychische Funktionen verantwortlich sind. Es ist möglich, dass Harlows phrenologische Überzeugungen seine Interpretation von Gages Persönlichkeitsveränderung beeinflusst haben.

Die anhaltende Bedeutung des Falls

Trotz der Kritik und der alternativen Interpretationen bleibt der Fall von Phineas Gage ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Neurowissenschaften. Er hat dazu beigetragen, das Verständnis der Rolle des Frontalhirns für Persönlichkeit, Verhalten und soziale Interaktion zu verbessern.

Gages Fall hat auch die Entwicklung neuer Methoden zur Untersuchung des Gehirns angeregt, wie z. B. bildgebende Verfahren und Computersimulationen. Diese Methoden haben es Forschern ermöglicht, die Auswirkungen von Hirnverletzungen genauer zu untersuchen und die komplexen Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und Funktion besser zu verstehen.

tags: #Phineas #Gage #Gehirn