Die Anzahl der Demenzfälle scheint in der jüngsten Zeit zuzunehmen, was laut Prof. Gerald Hüther Ausdruck des Umstandes ist, dass an unserer Lebensweise etwas nicht stimmt. In seinem Buch "Raus aus der Demenzfalle" erläutert Hüther seine Thesen und fordert ein Umdenken in Forschung und Gesellschaft. Statt auf altersbedingte Abbauprozesse und Ablagerungen im Gehirn zu fokussieren, betont er die Bedeutung der Regenerations- und Kompensationsfähigkeit des Gehirns bis ins hohe Alter.
Die Nonnenstudie als Paradigmenwechsel
Hüther stützt seine These auf die berühmte Nonnenstudie des amerikanischen Epidemiologen David Snowdon. Diese Studie begleitete zwischen 1986 und 2001 mehr als 400 Nonnen eines Ordens im Alter von 75 bis 106 Jahren und überprüfte sie regelmäßig mit Demenztests. Überraschenderweise gab es nur sehr wenige Fälle von Demenz. Nach dem Tod der Nonnen wurden Autopsien ihrer Gehirne durchgeführt, wobei festgestellt wurde, dass ein Drittel der Nonnen ein stark abgebautes Gehirn aufwies, ähnlich wie bei der Durchschnittsbevölkerung. Trotzdem war kaum eine Nonne dement geworden.
Laut Hüther stellt die Nonnenstudie das bisherige Theoriegebäude zur Demenz in Frage und deutet darauf hin, dass unser Gehirn durch den richtigen Lebensstil lebenslang form- und regenerierbar ist. Die Nonnen hatten bereits vor ihrem Eintritt ins Kloster geistige Regsamkeit und Lebenstüchtigkeit bewiesen. Allen war eine hohe Bildung und regelmäßige intellektuelle Tätigkeit bei gleichzeitiger körperlicher Betätigung eigen.
Das Kohärenzgefühl als Schlüssel zur Prävention
Hüther führt das salutogenetische Prinzip des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky ein, nach dem es im Leben insbesondere auf ein "Kohärenzgefühl" ankommt. Dieses Gefühl entsteht durch Erfahrungen und beschreibt das subjektive Empfinden, in einer Welt zu leben, die versteh-, gestaltbar sowie sinnvoll erscheint und in der Konflikte aus eigener Kraft bewältigt werden können.
Das Kohärenzgefühl umfasst drei Komponenten:
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- Verstehbarkeit: Die Fähigkeit, die Welt um uns herum zu verstehen und zu erklären.
- Handhabbarkeit: Das Gefühl, dass die Ressourcen verfügbar sind, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Probleme sind prinzipiell lösbar, auch wenn nicht durch mich alleine.
- Sinnhaftigkeit: Die Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat und dass es sich lohnt, sich zu engagieren. Diese Anforderungen sind Herausforderungen, die Investition und Engagement verdienen.
Laut Hüther leiden die Selbstheilungskräfte unseres Gehirns vor allem durch Widersprüche, die wir nicht lösen können. Wenn wir hingegen unser kohärentes Selbstgefühl stärken, indem wir ein sinnhaftes, gestaltbares und verstehbares Leben führen, können Demenzerkrankungen abnehmen.
Lebensstilmodifikation zur Stärkung des Kohärenzgefühls
Hüther gibt konkrete Empfehlungen für eine Lebensstilmodifikation, die das Kohärenzgefühl stärken und somit Demenz vorbeugen kann:
- Freude am Entdecken und Lernen: Sich die Freude am eigenen Entdecken und Lernen nicht durch andere verderben lassen und begeisterungsfähig bleiben. Das stimuliert das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Bildung von Synapsen im Gehirn.
- Gesunde Ernährung und Bewegung: Weniger und besser essen sowie sich regelmäßig bewegen. Was gut ist für die Herzgesundheit, ist auch gut fürs Gehirn.
- Sinnfindung: Dem eigenen Leben einen Sinn verleihen und ein Leben führen, das dieser Sinngebung entspricht.
- Würdevolle Beziehungen: Beziehungen zu anderen Menschen würdevoll gestalten und sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg machen.
- Aktivität und Engagement: Sich nicht aufs Abstellgleis schieben lassen, sondern aktiv sein, sich engagieren und kulturell interessiert bleiben. Gemeinschaften bilden, zusammen Rad fahren oder wandern und Reisen unternehmen.
- Selbstliebe: Wer sich selbst nicht mag, neigt dazu, sich und andere zu verlieren. Wer sich nicht bewusst macht, wer er sein will, kann sich nur verlieren.
Kritik an der klassischen Demenzforschung und -behandlung
Hüther kritisiert die Starrheit der medizinischen Forschung, die sich auf den pathologischen Prozess in der Zelle konzentriert und den Gesamtzusammenhang dabei ausblendet. Er bemängelt, dass die Erkenntnisse aus der Hirn- und Gedächtnisforschung nur schwer Eingang in die Demenzforschung finden.
Auch die gängige Praxis in Pflegeeinrichtungen sieht Hüther kritisch. Um Geld zu sparen und Patienten effektiver begleiten zu können, werden Prozesse oft wie in einem Fabrikbetrieb organisiert, wodurch den Patienten alles abgenommen wird und sie immer unselbstständiger werden. Stattdessen plädiert er für eine menschlichere Lösung, bei der alte Menschen sich gegenseitig aktivieren und wieder Dinge tun, die sie schon jahrelang nicht mehr gemacht haben. Die alten Menschen aktivieren sich gegenseitig so, dass sie wieder Dinge tun, die sie schon jahrelang nicht mehr gemacht haben. Und wenn da noch gelegentlich Kinder aus dem benachbarten Kindergarten oder der Schule vorbeikommen, umso besser!
Die Bedeutung von Kohärenz in der Kriegsgeneration
Hüther betont, dass die rasante Zunahme von Demenz in der Kriegsgeneration diagnostiziert wurde. Viele dieser Menschen haben den Zweiten Weltkrieg als junge Soldaten, Schwestern oder Kinder in brennenden Städten erlebt und konnten das Geschehene oft nicht wirklich verstehen, gestalten oder einen Sinn darin finden. Sie bleiben zwar am Leben, weil sie medizinisch gut versorgt werden, erleben sich aber oft nicht als angenommen und bedeutsam.
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