Einführung
Die Gehirnforschung hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte im Verständnis von Schmerz, insbesondere im Zusammenhang mit psychischen Belastungen, erzielt. Dieser Artikel beleuchtet, wie das Gehirn psychischen Schmerz verarbeitet, welche Hirnregionen beteiligt sind und welche therapeutischen Ansätze sich daraus ergeben. Dabei werden sowohl akute als auch chronische Schmerzen sowie spezielle Erkrankungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung und Phantomschmerzen betrachtet.
Die Verarbeitung von Schmerz im Gehirn
Entgegen der Vorstellung eines spezifischen "Schmerzzentrums" verarbeitet das Gehirn Schmerz in einem komplexen Netzwerk von Hirnzentren. Diese Zentren interagieren stark miteinander, was es schwierig macht, einzelne Schmerzaspekte klar voneinander abzugrenzen. Die Verarbeitung umfasst verschiedene Aspekte wie Art der Stimulation, Intensität des Reizes, emotionale Reaktion und kognitive Bewertung.
Die erste Station der Schmerzleitbahnen ist der Thalamus, der als "Tor des Bewusstseins" fungiert. Hier werden Sinneseindrücke verschaltet und an andere Hirnregionen weitergeleitet. Bereits im Thalamus trennt sich die Verarbeitung somatosensorischer (objektiver) und affektiver (gefühlsmäßiger) Schmerzaspekte. Somatosensorische Aspekte werden über laterale Thalamuskerne in den somatosensorischen Kortex (SI und SII) geleitet, während affektive Informationen über mediale Thalamuskerne in den anterioren cingulären Kortex (ACC), den insulären Kortex und die Amygdala gelangen. Die kognitive Bewertung des Schmerzes, an der präfrontale Bereiche beteiligt sind, wirkt auf die affektive Schmerzverarbeitung zurück.
Psychischer Schmerz und soziale Ablehnung
Studien haben gezeigt, dass "soziale Schmerzen", wie Zurückweisung oder Ausgrenzung, dieselben Hirnregionen aktivieren wie körperliche Schmerzen. Eine Studie amerikanischer und australischer Wissenschaftler fand heraus, dass bei der Erfahrung sozialer Ablehnung Regionen im Gehirn aktiviert werden, die auch für physischen Schmerz zuständig sind. Dies deutet darauf hin, dass seelischer Schmerz ebenso "echt" ist wie körperlicher Schmerz und im Gehirn ähnlich verarbeitet wird.
Schmerz und die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Ein besonders interessantes Feld ist die veränderte Schmerzwahrnehmung bei Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Diese Patienten zeigen oft ein selbstverletzendes Verhalten und berichten, dass sie während dieser Episoden Schmerzen gar nicht oder nur in abgeschwächter Form wahrnehmen.
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Forschungen zeigen, dass Borderline-Patienten Schmerzen in der Regel weniger intensiv wahrnehmen als gesunde Personen. Dies gilt nicht nur während selbstverletzenden Verhaltens, sondern auch bei experimentellen Schmerzreizen. Im Zustand hoher Anspannung, den Borderline-Patienten häufig erleben, reduziert sich die Schmerzempfindlichkeit noch mehr. Dies könnte erklären, warum einige Patienten versuchen, durch Selbstverletzung diesen unangenehmen Zustand der Anspannung zu beenden.
Mithilfe bildgebender Studien wie fMRT und EEG wurde festgestellt, dass die sensorische Schmerzkomponente bei Borderline-Patienten normal verarbeitet wird. Allerdings gibt es ein charakteristisches Muster an Hirnaktivität bei schmerzhafter Reizung, das bei gesunden Probanden nicht zu finden ist. Insbesondere zeigt sich eine starke Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Cortex in Verbindung mit einer Deaktivierung des perigenualen ACC und der Amygdala. Dies könnte ein kognitiver Hemm-Mechanismus sein, der die affektiven Schmerzanteile reduziert.
Der Einfluss von Stress und traumatischen Erfahrungen
Chronischer Stress spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Schmerzsyndromen. Traumatische Erfahrungen in der Vorgeschichte der Patienten, wie körperlicher oder sexueller Missbrauch, sind häufig. Viele Betroffene leiden gleichzeitig unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Die "Stress-Alarmanlage" im Gehirn kann durch belastende Erlebnisse in den frühen Lebensjahren dauerhaft erhöht werden. Dies führt dazu, dass körperliche Empfindungen wie Schmerzen und Verspannungen zeitweise stark gedämpft oder unterdrückt werden. Die körperlichen Folgen von Stress werden oft erst wahrgenommen, wenn der Mensch zur Ruhe kommt.
Wie aus Stress Schmerz wird
Stress macht krank, wenn mehr Stress in das System hineinläuft als abgebaut werden kann. Nach einer Phase langanhaltender Überbelastungen wird die "Stress-Alarmanlage" ausgelöst, was zu Muskelverspannungen führt. Hält diese Anspannung länger an, verkürzen, verkleben und verhärten sich die Muskeln. Im späteren Verlauf können erste Schmerzen auftreten, zumeist an den Muskeln, Sehnenansätzen oder der Knochenhaut.
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Schmerzen erhöhen die bestehende Muskelverspannung zusätzlich, was zu Bewegungseinschränkungen, Erschöpfbarkeit und erhöhter Schmerzintensität führt. Es droht ein sich selbst verstärkender "Teufelskreis". In dieser Übergangsphase wird aus dem Akut-Schmerz oft ein "Dauerschmerz", der eine Folge der gesteigerten Reaktionsbereitschaft der für Schmerz zuständigen Nerven ist. Experten sprechen von der Bildung des "Schmerzgedächtnisses".
Gefühle als Ursache von Schmerzen
Sowohl bei körperlichen Verletzungen als auch bei sozialem Verlusterleben wird die gleiche Hirnregion aktiviert, die für die Schmerzintensität zuständig ist. "Seelischer" Schmerz ist somit "echt". Menschen mit hoher Selbstbeherrschung und den Einstellungen, ihre Gefühle nicht zeigen zu wollen, neigen dazu, ihre Gefühle zu unterdrücken. Da alle Gefühle mit einer körperlichen Aktivierung einhergehen, die durch muskuläre Anspannung zurückgehalten wird, kann es über die Zeit zu Schmerzen im Körper kommen, für die der behandelnde Arzt keine körperliche Ursache findet.
Psychosomatische Symptome
Psychosomatische Symptome, die häufig durch seelische Belastungen hervorgerufen oder verstärkt werden, umfassen Kopfschmerzen, Schwindel, Nacken- oder Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, Herzrasen, Schweißausbrüche oder Atemnot. Die Beschwerden können manchmal verschwinden und wiederauftauchen, aber auch chronisch verlaufen.
Wenn Schmerzen lange anhalten, senden Nerven dauerhaft Impulse an das Gehirn. Dort kann es zu einer Überreaktion kommen, die Reizweiterleitung und Verarbeitung im Gehirn verändert sich und ein Schmerzgedächtnis entsteht. Anstelle von Hormonen zur Schmerzhemmung sendet das Gehirn Botenstoffe aus, die die Schmerzempfindlichkeit erhöhen.
Die Bedeutung der Psychologie bei chronischen Schmerzen
Die traditionelle Medizin sucht oft nach mechanischen und anatomischen Erklärungen für chronische Schmerzen. MRTs können Verletzungen erkennen, Schmerzen jedoch nicht. Anomalien, die sich in medizinischen Scans zeigen, nehmen mit dem Alter zu, aber selbst bei Menschen, deren Rücken schmerzt, kam es vor, dass MRT-Anomalien keinen Zusammenhang mit ihren Schmerzen zeigten.
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Einer der Hauptgründe, warum Schmerzen chronisch werden, ist die Art und Weise, wie wir uns mit ihnen fühlen. Bei Menschen, die sich vor Schmerzen fürchten oder Angst vor ihnen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, chronische Schmerzen zu entwickeln, höher. Psychische Belastungen haben einen erheblichen Einfluss auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Rückenschmerzen.
Schmerzverarbeitungstherapie
Eine im Herbst 2021 veröffentlichte Studie wies auf die Wirksamkeit von Therapien hin, die darauf abzielen, wie wir uns bei Schmerzen fühlen. In der Studie erhielten Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen entweder die übliche Behandlung mit Schmerzmitteln und Physiotherapie, Placebos oder eine Schmerzverarbeitungstherapie. Bei der Schmerzverarbeitungstherapie wurde den Patienten beigebracht, dass das Gehirn chronische Schmerzen aktiv konstruiert, auch wenn keine aktive Verletzung vorliegt. Sie lernten, dass eine einfache Umdeutung der Bedrohung, die der Schmerz darstellt, diesen verringern oder beseitigen kann. Die Ergebnisse waren bemerkenswert: Von den Patienten, die eine Schmerzverarbeitungstherapie absolvierten, waren nach einem Jahr mehr schmerzfrei als in den anderen Gruppen.
Experimentelle Schmerzforschung
Die Schmerzwahrnehmung wird durch die Dauer des Schmerzes und die Wirkung von Placebos beeinflusst. Experimente mit langandauernden Schmerzen zeigten, dass diese von einem reinen Wahrnehmungsprozess zu einem mehr emotionalen Prozess werden. Alleine die Erwartung an einen Schmerzreiz beeinflusst die Wahrnehmung.
Schmerzgedächtnis und Phantomschmerzen
Chronische Schmerzen und Phantomschmerzen beruhen auf der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses im zentralen Nervensystem. Neuroplastische Veränderungen in Rückenmark und Gehirn spielen dabei eine wichtige Rolle.
Nach Fingeramputationen kommt es zu einer kortikalen Reorganisation, bei der Nervenimpulse aus benachbarten Gebieten in das Areal einwandern, das zuvor vom amputierten Finger besetzt wurde. Ähnliche kortikale Umorganisationen finden sich auch bei chronischen Schmerzen.
Therapeutische Maßnahmen gegen das Schmerzgedächtnis
Therapieverfahren, welche die kortikale Schmerzverarbeitung und das Schmerzgedächtnis ansprechen, können chronischen Schmerz und Phantomschmerz beseitigen. Eine verhaltensrelevante Stimulation könnte effektiv die kortikale Reorganisation und den Schmerz beeinflussen.
In einer Therapiestudie wurde mit Hilfe eines zielgerichteten Wahrnehmungstrainings versucht, die kortikale Reorganisation und damit auch die Phantomschmerzen der Patienten zu beeinflussen. Die Ergebnisse zeigten eine deutlich verbesserte Unterscheidungsfähigkeit der am Armstumpf gesetzten Reize und eine Reduktion des Phantomschmerzes.
Vorbeugende Maßnahmen
Durch vorbeugende Maßnahmen sollte verhindert werden, dass der Phantomschmerz überhaupt auftritt. Geht man davon aus, dass Schmerzen vor und um den Zeitpunkt der Amputation entscheidend dafür sind, ob Veränderungen im Gehirn und damit Phantomschmerzen auftreten, sollte mit einer peripheren Anästhesie verhindert werden können, dass sich ein Schmerzgedächtnis aufbaut und damit Stumpf- und Phantomschmerzen entstehen.
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