Das Recht auf Verwahrlosung bei Demenz: Definition, ethische und rechtliche Aspekte

Einleitung

Die Verwahrlosung in stationären Pflegeeinrichtungen ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Die demografische Entwicklung in Deutschland führt dazu, dass immer mehr Menschen im hohen Alter auf stationäre Pflege angewiesen sind. Dabei stellt sich die Pflegebranche der Aufgabe, nicht nur medizinische Versorgung sicherzustellen, sondern auch die Selbstbestimmung und Würde der Bewohner zu respektieren.

Doch in der Realität begegnen Pflegekräfte häufig Situationen, in denen Bewohner ihre grundlegenden Bedürfnisse wie Körperpflege, Ernährung oder Ordnung in der eigenen Umgebung massiv vernachlässigen. Die Frage, wann eine Verwahrlosung noch Ausdruck persönlicher Freiheit und Lebensgestaltung ist oder wann sie eine Gefährdung darstellt, ist keineswegs einfach zu beantworten. Pflegekräfte und Einrichtungsleitungen stehen in einem komplexen Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung zur Achtung der Autonomie ihrer Bewohner und ihrer Garantenstellung, die sie zur Abwendung von Gefahren verpflichtet.

Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen stellt sich auch eine ethische Verantwortung: Wie kann die Würde des Bewohners gewahrt werden, wenn sein Handeln für Außenstehende als unzumutbar oder gefährlich erscheint? Welche Maßnahmen sind erlaubt, welche geboten, und welche könnten die Grenze zum Übergriff überschreiten? Dieser Artikel möchte Praxisvertretern, Pflegefachkräften und Beratenden eine praxisorientierte Handreichung bieten. Ziel ist es, anhand rechtlicher, ethischer und praktischer Gesichtspunkte aufzuzeigen, wie Verwahrlosung in stationären Einrichtungen professionell und verantwortungsvoll eingeschätzt und bearbeitet werden kann. Dabei soll deutlich werden: Nicht jede Verwahrlosung ist automatisch eine Gefahr. Nicht jede unkonventionelle Lebensweise verlangt ein Eingreifen.

Definition: Was bedeutet Verwahrlosung im Kontext von Demenz?

"Verwahrlosung" ist kein juristischer Begriff, sondern ein umgangssprachlicher Ausdruck, der oft im Zusammenhang mit Menschen mit Demenz verwendet wird. Wenn wir von Verwahrlosung sprechen, geht es meist um Situationen, in denen Menschen mit Demenz Verhaltensweisen zeigen, die von Außenstehenden als Verwahrlosung angesehen werden könnten, wie beispielsweise mangelnde Hygiene oder eine unzureichende Ernährung.

Es ist wichtig zu betonen, dass Demenz nicht automatisch Geschäftsunfähigkeit bedeutet. Im Gegensatz zu früheren Praktiken wie der Entmündigung, die heute nicht mehr rechtsgültig ist, liegt der Schwerpunkt heute darauf, Menschen mit Demenz so viel wie möglich an Selbstständigkeit zu erhalten.

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Rechtliche Grundlagen: Menschenwürde, Selbstbestimmung und Garantenpflicht

Pflegekräfte in stationären Einrichtungen agieren nicht im rechtsfreien Raum. Ihre Entscheidungen und Handlungen - oder auch ihr bewusstes Unterlassen - sind eingebettet in ein dichtes Geflecht gesetzlicher Bestimmungen.

  • Menschenwürde und Selbstbestimmung (Art. 1 und 2 GG): Das deutsche Grundgesetz schützt das Recht auf Selbstbestimmung, auch im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen, ist ein grundlegendes Menschenrecht und wird in Deutschland durch Artikel 2 des Grundgesetzes geschützt. Artikel 1 GG schützt die Menschenwürde. Diese ist unantastbar und verpflichtet Staat und Gesellschaft, sie zu achten und zu schützen. Art. 2 Abs. 1 GG schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Art. 13 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Im Pflegeheim umfasst dies den persönlichen Bereich eines Bewohners, zum Beispiel das eigene Zimmer. Diese Grundrechte gelten uneingeschränkt auch für pflegebedürftige Menschen. Jeder hat auch das Recht, zu verwahrlosen.
  • Garantenpflicht (§ 13 StGB): Pflegekräfte haben eine Garantenpflicht gegenüber ihren Bewohnern. Das bedeutet, sie sind verpflichtet, diese vor Schaden zu bewahren. Ein Beispiel: Erkennt eine Pflegekraft, dass ein Bewohner schwer dehydriert ist, muss sie reagieren. Wichtig: Die Garantenpflicht bedeutet nicht, dass in jedem Fall in das Leben eines Bewohners eingegriffen werden muss. Betreuer oder Bevollmächtigte handeln stellvertretend nach diesen Grundsätzen.
  • Selbstgefährdung vs. Fremdgefährdung: Hier muss unterschieden werden. Selbstgefährdung bedeutet, der Bewohner gefährdet ausschließlich sich selbst, z.B. durch die Ablehnung notwendiger Medikamente. Fremdgefährdung bedeutet, das Verhalten eines Bewohners stellt eine Gefahr für andere dar, z.B. durch extreme hygienische Missstände, die Mitbewohner gefährden.
  • Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM): Freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) in Heimen, Krankenhäusern oder Einrichtungen sind ohne vorherige Genehmigung des Betreuungsgerichts nur bei akuter Gefahr erlaubt. Zu Hause sind sie hingegen ohne Zustimmung des Gerichts möglich. In beiden Fällen ist Freiheitsentzug nur bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung erlaubt. Zu den freiheitsentziehenden Maßnahmen (FEM) gelten alle Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit eines Menschen gegen dessen Willen einschränken. Normalerweise sind freiheitsentziehende Maßnahmen und eine freiheitsentziehende Unterbringung von Patienten nicht erlaubt, sondern strafbare Freiheitsberaubung (§ 239 StGB). Sie sind aber unter bestimmten Umständen erlaubt.

Bevor freiheitsentziehende Maßnahmen angewendet werden, sollten immer alternative Maßnahmen, z.B. technische Hilfsmittel oder die Anwesenheit einer Pflegekraft als Sitzwache, geprüft werden. Spezialisierte Verfahrenspfleger mit pflegefachlichem Grundwissen diskutieren im gerichtlichen Auftrag jeden Fixierungsfall individuell und gehen gemeinsam mit dem Heim und den Angehörigen/Betreuern Alternativen durch und regen im Einzelfall auch Erprobungen von Alternativmaßnahmen an. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft gibt "Empfehlungen zum Umgang mit Gefährdung bei Demenz". Bei einer Demenz kann unter Umständen eine Zwangsbehandlung nötig werden, wenn die Demenzsymptome eine Einsicht in die Behandlungsnotwendigkeit verhindern. Als rechtlicher Betreuer eines Menschen mit Demenz können Sie unter Umständen in eine Zwangsbehandlung einwilligen, aber nur mit Zustimmung des Betreuungsgerichts.

Ethische Aspekte: Würde, Autonomie und Fürsorge

Pflegekräfte stehen in Verwahrlosungssituationen nicht nur vor fachlichen, sondern oft vor tiefgreifenden ethischen Entscheidungen. Am Anfang steht die bewusste Benennung des ethischen Problems. Es genügt nicht, eine praktische Fragestellung zu formulieren, vielmehr muss der moralische Konflikt klar herausgearbeitet werden. Beispielsweise: Dürfen Pflegekräfte eine Bewohnerin, die jede Körperpflege ablehnt, trotz ihrer ausdrücklichen Weigerung zum Waschen bewegen?

Im zweiten Schritt werden alle relevanten Fakten umfassend zusammengetragen. Dazu gehören nicht nur medizinische Diagnosen und Prognosen, sondern auch pflegerische Einschätzungen, psychologische Aspekte, soziale Bedingungen sowie rechtliche Rahmenbedingungen. Die Informationssammlung erfolgt dabei multidimensional, damit alle Teammitglieder auf derselben Wissensbasis diskutieren können.

Besondere Bedeutung kommt im dritten Schritt der Perspektive des betroffenen Bewohners zu. Die Nimwegener Methode stellt konsequent den Willen und die Werte der betroffenen Person in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung. Ist der Bewohner einwilligungsfähig, muss sein aktueller Wille respektiert werden - auch dann, wenn dieser dem pflegerischen Fachwissen oder den Wertvorstellungen der Pflegekräfte widerspricht.

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Erst danach folgt die gemeinsame Entwicklung von Handlungsempfehlungen im Team. Verschiedene Optionen - vom Abwarten über sanfte Unterstützung bis hin zu behördlichem Einschreiten - werden gegeneinander abgewogen, auf ihre ethische Vertretbarkeit geprüft und im Lichte des Wohls und Willens des Bewohners bewertet. Am Ende steht idealerweise ein Konsens, der klar dokumentiert wird und als gemeinsame Grundlage für das weitere Vorgehen dient.

Die Stärke der Nimwegener Methode liegt darin, dass sie Entscheidungen nicht isoliert oder intuitiv trifft, sondern auf ein strukturiertes, partizipatives und wertorientiertes Verfahren setzt. Sie schützt Pflegekräfte vor Überforderung, gibt rechtliche Sicherheit und stellt sicher, dass ethische Fragen in der Praxis nicht unter Zeitdruck oder persönlichen Befindlichkeiten untergehen.

Fallbeispiele aus der Praxis

Um die abstrakten Prinzipien rund um Verwahrlosung, Selbstbestimmung und Fürsorgepflicht greifbar zu machen, lohnt sich ein Blick auf konkrete Alltagssituationen aus stationären Pflegeeinrichtungen.

  • Fallbeispiel 1: Herr M.
    • Ausgangslage: Herr M., 85 Jahre alt, lebt seit drei Jahren in einer Pflegeeinrichtung. Nach dem Tod seiner Ehefrau zieht er sich zunehmend zurück. Er verliert das Interesse an sozialen Aktivitäten, isst und trinkt unregelmäßig und vernachlässigt seine Körperpflege.
    • Ergebnis: Durch kontinuierliche Begleitung und Motivation verbessert sich Herr M.s Zustand.
  • Fallbeispiel 2: Frau T.
    • Ausgangslage: Frau T., 75 Jahre alt, lebt seit einem Jahr im Pflegeheim. Sie ist kognitiv klar, jedoch eigenwillig und legt bewusst wenig Wert auf Körperpflege.
    • Ergebnis: Nach längerer Beziehungsarbeit akzeptiert Frau T. gelegentliche Hilfen (z.B. Händewaschen). Ihre grundsätzliche Entscheidung, auf intensive Körperpflege zu verzichten, wird respektiert.
  • Fallbeispiel 3: Herr B.
    • Ausgangslage: Herr B., 82 Jahre alt, ist schwer dement. Er sammelt Lebensmittelreste in seinem Schrank, sein Zimmer verströmt einen intensiven Geruch, es kommt zu einem Schädlingsbefall, der andere Bereiche bedroht. Herr B. Sensibler Umgang mit Herrn B.
    • Ergebnis: Die Maßnahmen konnten rechtlich und ethisch sauber abgesichert werden.

Verwahrlosung ist kein einheitliches Phänomen. Die Reaktion muss immer individuell angepasst werden. Standardrezepte gibt es nicht. Der ethische und rechtliche Rahmen ist stets zu beachten.

Handlungsempfehlungen für Pflegekräfte

Um Verwahrlosung in stationären Pflegeeinrichtungen professionell zu begegnen, müssen Pflegekräfte und Pflegeberater*innen zunächst eine strukturierte Situationsbewertung vornehmen. Dazu gehört die Einschätzung von Körperpflege, Ernährungszustand, Wohnumfeld, sozialen Kontakten sowie der Umgang des Bewohners mit Unterstützungsangeboten. Eine isolierte Beobachtung reicht dabei nicht aus; vielmehr sollten die einzelnen Faktoren im Gesamtzusammenhang betrachtet werden.

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Entscheidend ist die Unterscheidung: Liegt keine akute Gefahr vor, ist Zurückhaltung geboten. Selbst wenn Pflegekräfte bestimmte Verhaltensweisen als unordentlich, unhygienisch oder unangemessen empfinden, darf ein urteilsfähiger Bewohner grundsätzlich selbst über seinen Lebensstil bestimmen. Besteht jedoch eine erhebliche Gefährdung - etwa durch Mangelernährung, Dehydration oder hygienische Risiken für andere Bewohner -, sind Pflegekräfte verpflichtet zu handeln.

Vor jedem Eingreifen muss die Einwilligungsfähigkeit des Bewohners geprüft werden. Kann die Person Art, Bedeutung und Tragweite einer Maßnahme erfassen und eine freie Entscheidung treffen, so ist ihr Wille grundsätzlich zu respektieren. Ist sie dazu nicht in der Lage, muss der mutmaßliche Wille anhand früherer Äußerungen und Wertvorstellungen ermittelt werden.

Komplexe Fälle sollten nie im Alleingang entschieden werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit - etwa mit Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern und externen Fachstellen - sorgt für eine umfassende Perspektive und erhöht die Qualität der Entscheidungsfindung. Alle Beobachtungen, Einschätzungen, Angebote und Maßnahmen müssen sorgfältig dokumentiert werden.

Ein zentrales Handlungsinstrument bleibt die Kommunikation. Motivierende Gesprächsführung - basierend auf reflektierendem Zuhören, offenen Fragen und Betonung der Autonomie - kann helfen, Widerstände abzubauen und Veränderungen im Verhalten des Bewohners anzustoßen. Grundsätzlich empfiehlt es sich, bei der Begleitung von Menschen mit Verwahrlosungstendenzen auf folgende Leitlinien zu achten: Autonomie respektieren, wo immer möglich, aber konsequent handeln, wo akute Gefährdung besteht. Ethische Diskussionskultur im Team fördern und auf rechtliche Maßnahmen nur als letztes Mittel zurückgreifen.

Die Rolle der Angehörigen und Betreuer

Angehörige und rechtliche Betreuer spielen eine wichtige Rolle bei der Wahrung der Rechte und des Wohls von Menschen mit Demenz. Sie sollten eng in die Entscheidungsfindung einbezogen werden und über die rechtlichen und ethischen Aspekte der Verwahrlosung informiert sein. Wichtig sind Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen. Sie ermöglichen eine vorausschauende Festlegung individueller Wünsche. Fehlen diese Vorsorgedokumente, ordnet das sogenannte Betreuungsgericht eine gesetzliche Betreuung an, die sich an den Bedürfnissen der betroffenen Person orientiert.

Es ist wichtig, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, wie man im Alter leben will. Bevor die «Babyboomer» in Rente gehen, muss aus Sicht der Vize-Vorständin der Badischen Diakonie, Manuela Striebel-Lugauer, das ambulante Netzwerk der Altenhilfe dringend ausgebaut werden. «Man will Menschen so weit wie möglich auch im Alter eigenbestimmt lassen. Angesichts von zu wenig Pflegepersonal schon heute und absehbar mehr Pflegebedürftigen könnten aus Sicht der Diakonie-Altersexpertin neue Strukturen und verstärkte Hilfe von Angehörigen nötig werden.

Gewalt in der Pflege

Eine gute und positive Beziehung zwischen Pflegepersonen und Pflegebedürftigen trägt zum Wohlbefinden aller bei. In dieser Beziehung kann es aber auch zu gewalttätigen Übergriffen kommen. Gewalt in der Pflege ist bis heute vielerorts ein Tabuthema. Was jede und jeder einzelne als Gewalt empfindet hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) definiert Gewalt folgendermaßen: „Unter Gewalt gegen ältere Menschen versteht man eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion im Rahmen einer Vertrauensbeziehung, wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird.“ Wenn von Gewalt gesprochen wird, ist zum einen körperliche Gewalt gemeint, es geht aber auch um andere Formen, wie psychische Gewalt oder Vernachlässigung.

Um der Gewalt in der Pflege entgegenzuwirken, müssen sich die Pflege- und Betreuungspersonen mit den unterschiedlichen Formen von Gewalt auseinandersetzen und ihr eigenes Verhalten reflektieren. Gewalt kann durch aggressives Verhalten, respektlose Kommunikation oder durch Drohungen beginnen. Gewalt in der Pflege kann aber auch Schläge und Übergriffigkeiten bedeuten. Pflegebedürftige Menschen haben das Recht, vor Gewalt geschützt zu werden. Pflegeeinrichtungen und ambulante Dienste tragen dafür eine besondere Verantwortung. Sie haben die Pflicht, pflegebedürftige Menschen vor Gefahren für Leib und Leben zu schützen (Garantenpflicht).

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