Ritalin Langzeitfolgen auf das Gehirn: Was Studien wirklich zeigen

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird bei vielen Kindern und zunehmend auch bei Erwachsenen diagnostiziert. Medikamente wie Ritalin, das den Wirkstoff Methylphenidat enthält, sind ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Doch welche langfristigen Auswirkungen hat die Einnahme von Ritalin auf das Gehirn? Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Forschungsergebnisse und gibt einen Überblick über die potenziellen Langzeitfolgen.

Was ist Ritalin und wie wirkt es?

Ritalin, auch bekannt unter dem Handelsnamen Medikinet, enthält den Wirkstoff Methylphenidat. Es handelt sich um ein Psychostimulans, das zur Gruppe der Amphetamine gehört. Methylphenidat wirkt direkt auf das zentrale Nervensystem und erhöht die Konzentration von Dopamin im Gehirn. Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff, der bei ADHS-Betroffenen typischerweise zu schnell aus dem synaptischen Spalt abtransportiert wird. Durch die Erhöhung der Dopaminkonzentration kann Ritalin helfen, die Symptome von ADHS wie Hyperaktivität, Impulsivität und Konzentrationsschwierigkeiten zu reduzieren.

Ritalin wird als Teil einer multimodalen Therapie eingesetzt. Das bedeutet, dass zur erfolgreichen Behandlung auch psychotherapeutische Begleitung, Verhaltenstherapie oder Psychoedukation gehören. Die Wirksamkeit von Methylphenidat ist sehr gut dokumentiert. Zahlreiche klinische Studien und Metaanalysen zeigen: Bei korrekt diagnostiziertem ADHS hilft das Medikament in der überwiegenden Mehrheit der Fälle.

Sorgen um Langzeitfolgen

Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit von Ritalin gibt es Bedenken hinsichtlich der langfristigen Sicherheit. Viele Menschen machen sich Sorgen, was passiert, wenn man das Medikament über Monate oder gar Jahre nimmt. Schon die Packungsbeilage von Medikinet enthält eine lange Liste möglicher Nebenwirkungen, was viele verunsichert. Zu den möglichen Nebenwirkungen gehören Schlafstörungen und Appetitmangel. Vor allem bei Kindern wird auch von einer möglichen Wachstumsverzögerung berichtet. Seltener, aber schwerwiegender sind Herz-Kreislauf-Probleme wie Blutdruckanstieg, Herzrasen oder sogar Herzrhythmusstörungen. In extrem seltenen Fällen wurden sogar plötzliche Todesfälle beschrieben - allerdings zumeist bei vorbestehenden Herzproblemen.

Da Methylphenidat oft über Jahre hinweg eingenommen wird, stellt sich die Frage nach der Langzeitsicherheit. Einige Stimmen aus der Fachwelt warnen vor einem zu leichtfertigen Umgang mit solchen Medikamenten. Insbesondere, wenn sie von nicht spezialisierten Ärzten verschrieben werden, kann es zu Fehleinschätzungen und inadäquater Kontrolle kommen.

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Aktuelle Studien zur Langzeitsicherheit

Zwar liegen zur kurzfristigen Wirksamkeit sehr viele Daten vor, doch erst in den letzten Jahren wurden große Langzeitstudien zur Sicherheit und Verträglichkeit veröffentlicht. Ein besonders umfangreiches und aktuelles Projekt ist die ADDUCE-Studie, die 2023 als EU-finanzierte Untersuchung veröffentlicht wurde. Ziel war es, gezielt die langfristige Sicherheit von Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen zu prüfen. In die Studie wurden insgesamt 1.410 junge Menschen aus fünf europäischen Ländern eingeschlossen, die über einen Zeitraum von zwei Jahren begleitet wurden. Der Fokus lag auf den Auswirkungen auf körperliches Wachstum, das Herz-Kreislauf-System, mögliche psychiatrische Begleiterscheinungen sowie das Risiko für Missbrauch und Fremdgefährdung.

Ergebnisse der ADDUCE-Studie

Die Ergebnisse der ADDUCE-Studie sind beruhigend: Es zeigte sich kein signifikanter Anstieg des Suizidrisikos, und auch der beobachtete Anstieg von Puls und Blutdruck war statistisch gering und medizinisch unbedenklich. Weder neurologische noch psychiatrische Störungen traten vermehrt auf. Im Gegenteil: Die Studie deutet sogar darauf hin, dass eine stabile ADHS-Behandlung mit Methylphenidat das Risiko senken kann, Opfer von Gewalt oder Missbrauch zu werden.

MTA-Studie und skandinavische Kohortenstudien

Bereits zuvor hatte die MTA-Studie (Multimodal Treatment Study of ADHD), eine der größten Langzeitstudien aus den USA, wichtige Daten geliefert. Sie startete bereits in den 1990er-Jahren und begleitete Kinder mit ADHS über viele Jahre hinweg. Auch hier wurde die hohe Wirksamkeit von Methylphenidat im akuten Einsatz bestätigt. Ein interessanter Befund betraf das Körperwachstum: Dieses schien bei längerfristiger Einnahme etwas verlangsamt zu sein - allerdings ohne schwerwiegende gesundheitliche Folgen.

Ergänzend dazu liefern skandinavische Kohortenstudien aus Norwegen und Schweden (2015-2023) wichtige Erkenntnisse aus der Versorgungsrealität. Sie bestätigen, dass bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die Methylphenidat über längere Zeiträume einnehmen, kein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle oder substanzbezogene Störungen besteht.

Veränderungen im Gehirn?

Die neurowissenschaftliche Forschung hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, ob Methylphenidat langfristige strukturelle Veränderungen im Gehirn verursacht. Studien, die zwischen 2007 und 2020 mithilfe bildgebender Verfahren wie MRT durchgeführt wurden, identifizierten bei Kindern mit früher und langjähriger Einnahme Hinweise auf Veränderungen in bestimmten Hirnregionen. Ob diese Veränderungen aber tatsächlich eine funktionelle oder emotionale Auswirkung haben, ist bisher nicht belegt.

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Eine Studie aus Amsterdam untersuchte mit Magnetresonanztomografie (MRT) die Auswirkungen von Methylphenidat auf das Gehirn von Jungen und erwachsenen Männern mit ADHS. Die Ergebnisse zeigten, dass bei Jungen, nicht aber bei männlichen Erwachsenen, Veränderungen in der MRT auftraten, die auf strukturelle Veränderungen des Gehirns hindeuten. Die klinische Bedeutung dieser Befunde ist jedoch unklar.

Die Forscher stellten fest, dass bei Jungen die fraktionale Anisotropie (FA) in bestimmten Hirnregionen anstieg. Die FA ist ein Maß für die Unversehrtheit der Nervenfasern. Eine Veränderung der FA zeigt an, dass sich etwas in der Struktur der Nervenfasern geändert hat. In der Studie betrafen die Veränderungen den Fasciculus longitudinalis superior, Fasciculus longitudinalis inferior und den Fasciculus fronto-occipitalis inferior. Es handelt sich um Leitungsbahnen, die innerhalb einer Großhirnhemisphäre die verschiedenen Kernzentren miteinander verbinden.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Bedeutung dieser Beobachtung unklar ist. Die Forscher stellten die Veränderungen der FA nicht mit der Wirksamkeit von Methylphenidat in Beziehung.

Studie zur Veränderung des Hirnstoffwechsels

Eine Langzeitstudie von US-Forschern hat gezeigt, dass die regelmäßige Einnahme des Medikaments Ritalin bei ADHS-Patienten den Stoffwechsel im Gehirn deutlich verändert. Das Stimulans führt im Belohnungszentrum zu einer erhöhten Produktion eines Proteins, das eigentlich gehemmt werden sollte. Dies deutet darauf hin, dass im Laufe der Zeit eine Toleranz gegenüber dem Medikament entstehen kann. Das Absetzen von Ritalin könnte demnach zu einer verstärkten Ausprägung der Symptome führen.

Die Forscher um Gene-Jack Wang von der Universität Stony Brook in New York untersuchten, wie sich die dauerhafte Einnahme von Ritalin auf das Gehirn auswirkt. Dazu verglichen sie 18 erwachsene ADHS-Patienten, die das Stimulans erstmals bekamen und es ein Jahr lang einnahmen, mit elf gleichaltrigen Kontrollteilnehmern. Vor und nach der Studie wurden alle Probanden mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) untersucht.

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Das Medikament verbesserte die ADHS-Symptome der Patienten deutlich. Vor Beginn der Studie fanden die Forscher keine Unterschiede in der Dichte des DAT (Dopamintransporters) bei den Teilnehmern. Am Ende des Jahres hatte jedoch bei den Patienten die Verfügbarkeit des DAT in einigen Hirnarealen des Belohnungszentrums - Putamen, Caudate und ventrales Striatum - um 24 Prozent zugenommen.

Die Wissenschaftler betonen, dass dies erstmals beim Menschen Veränderungen im Nervensystem nach der langfristigen Einnahme von Ritalin zeigt. Laut der Studie könnte die erhöhte Dichte des DAT auf eine zunehmende Toleranzbildung hindeuten. Wenn das Medikament, wie zum Beispiel an Wochenenden, abgesetzt wird, könnten die Symptome verstärkt werden und somit der Bedarf an der Arznei steigen.

Elmira Anderzhanova vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München bezeichnet die Studie als einen großen Fortschritt. Sie erklärt einen möglichen Mechanismus, warum die Wirkung von Ritalin oft mit der Zeit nachlässt.

Suchtpotenzial und psychische Auswirkungen

Medikinet enthält einen amphetaminähnlichen Wirkstoff. Daher wird immer wieder über ein mögliches Suchtpotenzial diskutiert. Anders sieht es bei Personen ohne ADHS aus: Hier kann eine missbräuchliche Einnahme (z. B. zur Leistungssteigerung) tatsächlich zu Abhängigkeit führen.

In einzelnen Fällen wurden psychotische Symptome oder Depressionen im Zusammenhang mit Methylphenidat beobachtet. So zeigte eine ältere Studie mit 100 Kindern über 5 Jahre eine Psychose-Rate von etwa 6 %. Auch Suizidgedanken werden immer wieder thematisiert. Wichtig zu wissen: Medikamente wie Medikinet können bestehende psychische Belastungen verstärken, insbesondere bei Jugendlichen.

Einschätzung von Experten

Kerstin Konrad, Professorin für Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters der RWTH Aachen, forscht zu den Langzeitauswirkungen von Methylphenidat. Sie betont, dass es in diesem Bereich noch relativ wenig belastbare Daten gibt und Studienergebnisse teilweise widersprüchlich sind. In Übereinstimmung mit einer Definition der Europäischen Kommission bezieht sie sich auf eine Behandlung von mehr als einem Jahr, wenn sie von "Langzeitfolgen" spricht.

Sie weist darauf hin, dass Methylphenidat den Blutdruck leicht erhöht und die Herzrate beschleunigt. Es ist jedoch noch unklar, ob dies langfristige Folgen hat, insbesondere bei Personen mit Bluthochdruck. Auch Schlafstörungen können auftreten, da es sich um ein aufputschendes Stimulans handelt.

In Bezug auf Drogenmissbrauch sagt sie, dass nach der jetzigen Datenlage Methylphenidat hier keinen Einfluss hat. Bezüglich des Wachstums scheint es, dass ein reduziertes Wachstum bis zum Erwachsenenalter wieder ausgeglichen werden kann.

Was die Langzeitveränderungen im Gehirn angeht, gibt es fast keine Daten aus Studien mit Menschen, sondern nur von Tierversuchen. Offenbar führen aber Stimulanzien wie Methylphenidat eher zu einer Normalisierung sowohl von Hirnaktivierungen als auch der Hirnstruktur.

Tobias Banaschewski, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, betont, dass die ADDUCE-Studie gezeigt hat, dass eine längerfristige Behandlung mit Methylphenidat sehr gut verträglich ist und keine unbekannten Nebenwirkungen nach längerer Behandlungszeit auftreten. Er weist jedoch darauf hin, dass Puls und Blutdruck leicht ansteigen können und regelmäßig kontrolliert werden müssen.

Er betont, dass es in der Öffentlichkeit viel Sorge gab, ob nicht doch auch psychiatrische Nebenwirkungen, Veränderungen des Körperwachstums oder der Pubertätsentwicklung zu befürchten seien. Dafür gab es bisher keinen Anhalt.

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