Das Gehirn und seine Wirklichkeit: Eine Zusammenfassung

Gerhard Roth, ein führender deutscher Neurobiologe, hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie das Gehirn die Welt wahrnimmt und konstruiert. Seine Arbeit beleuchtet die Beziehung zwischen dem Gehirn, dem Bewusstsein und der Realität, wobei er zu dem Schluss kommt, dass jedes Gehirn seine eigene, individuelle Welt erschafft. Die individuelle Wirklichkeit und die vom Bewusstsein unabhängige Realität sind zwei verschiedene Dinge.

Die Seele im Gehirn: Eine neurobiologische Perspektive

Roth betont, dass der Begriff "Seele" nicht zwangsläufig etwas Religiöses sein muss. Er definiert die Seele als die Gesamtheit unserer Empfindungen, Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Schon Platon vermutete, dass die Seele im Gehirn sitzt, auch wenn er darunter etwas Mystisches verstand. Empfindungen, Selbstreflexion und Gefühle sind für unseren Körper so wichtig, dass diese Zustände sehr viel Sauerstoff und Zucker verbrauchen. Das Gehirn würde für ein Nebenprodukt gar nicht so viele Ressourcen verschwenden.

Die Funktionen des Bewusstseins

Unser Bewusstsein dient zum einen dem Gedächtnis: An die bewusst erlebten Dinge können wir uns sehr viel besser erinnern als an die unbewussten. Zum anderen wären die sprachliche Kommunikation und Handlungsplanung ohne Bewusstsein völlig unmöglich. Diese beiden Dinge, Handlungsplanung und Sprache, machen uns Menschen zu Menschen. Der Mensch hat vielleicht die komplexeste Seele, aber es gibt Vorstufen. Wir müssen annehmen, dass die Entwicklung der Seele ein langer evolutionärer Prozess war, der eine Reihe von Tieren hervorgebracht hat, von denen wir mit ziemlicher Sicherheit sagen können, dass sie ein Bewusstsein, vielleicht sogar ein Selbstbewusstsein und natürlich auch bewusste Gefühle haben.

Die Erfindung der menschlichen Sprache vor etwa 100.000 Jahren war ein entscheidender Sprung, ein Intelligenzverstärker. Natürlich sind wir den Tieren da sehr überlegen, aber auch Menschenaffen können lernen, die menschliche Sprache zu verstehen. Auch der Vogelgesang scheint nach neuesten Erkenntnissen eine Sprache zu sein. Eine ganz andere Sprache als die unsrige, aber eventuell genauso effektiv, mit eigener Grammatik, Syntax und so weiter.

Wahrnehmung: Mehr als nur eine Abbildung der Realität

Ein bekanntes Nachschlagewerk definiert das Phänomen der Wahrnehmung sinngemäß so: „Das menschliche Gehirn erstellt aus den Signalen, die ihm über die Sinnesorgane zugehen, ein anschauliches Bild seiner Umwelt und seines Körpers.“ Wahrnehmung wäre also eine Spiegelung der Umwelt. Roth argumentiert, dass Wahrnehmung nicht einfach eine Spiegelung der Umwelt ist, sondern vielmehr eine Interaktion. Die Hauptaufgabe des Gehirns ist, ein Verhalten zu erzeugen, mit dem ich als Mensch in meiner spezifischen Umwelt - der natürlichen und der sozialen - überleben kann. Wenn diese Umwelt sehr komplex ist - und das ist sie -, dann überfordert eine komplette Abbildung unser Aufnahmevermögen völlig. Unser Gehirn tastet vielmehr die Umwelt blitzschnell ab und prüft, was für uns in der jeweiligen Situation wichtig und was unwichtig ist. Es konzentriert sich dann auf die wichtigen Dinge und fragt in seinem Gedächtnis nach: Welche Erfahrung habe ich mit diesen Dingen, was bedeuten diese Signale für mich. Auf dieser Basis plant es ein Verhalten, das für mein Überleben hilfreich ist. Das bedeutet aber: Mein Gehirn bildet nicht die Umwelt detailgetreu ab, sondern nur das Allerwichtigste davon, und alles andere erinnert, interpretiert und plant es aus sich heraus, auf der Grundlage seiner individuellen Erfahrungen. Im Klartext: Wahrnehmung ist nicht Abbildung, sondern Interaktion. Die Welt, in der wir bewusst leben, ist nicht die Wiedergabe unserer realen Umwelt, sondern vor allem ein Produkt unseres Gedächtnisses und damit unserer Erfahrung.

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Konstruktivismus: Die Erschaffung der eigenen Welt

Roth betont, dass wir philosophisch gesprochen keine Gewissheit über die Existenz einer Welt außerhalb unseres Kopfes haben können. Wir haben nur die Gewissheit über unsere eigenen Sinnesdaten. Ob diese Sinneseindrücke aus einer äußeren Welt stammen, kann ich nicht unmittelbar überprüfen. Ich kann sie ja nicht anfassen, sondern was mein Gehirn verarbeitet sind immer nur Sinneseindrücke, von druckempfindlichen Tastsensoren in meinen Fingerspitzen etwa. Die Frage kann also nicht sein, ob ich nachweisen kann, daß es eine unabhängige Welt gibt, sondern nur, ob es plausibel ist, von ihrer Existenz auszugehen.

Drei Denkrichtungen beantworten diese Frage ganz verschieden:

  • Solipsismus: Es gibt keine äußere Welt, alles, was ich wahrnehme, ist eine Konstruktion meines Gehirns.
  • Radikaler Konstruktivismus: Es mag eine bewusstseinsunabhängige Umwelt geben, wir können aber ihre Existenz nie beweisen, und wir können auch nichts über sie aussagen.
  • Gemäßigter Konstruktivismus: Man kann doch etwas über die bewusstseinsunabhängige Welt aussagen, man muss es sogar, wenn man zum Beispiel Neurobiologe ist. Ich muss mir aber klar darüber sein, dass ich mich immer nur in Umschreibungen, bildhaften Vergleichen, Metaphern ausdrücken kann.

Roth selbst vertritt einen gemäßigten Konstruktivismus. Er ist überzeugt von der Existenz einer Welt außerhalb unseres Bewusstseins, einer Welt, in der Tiere und Menschen leben, die ein Gehirn haben. Die objektive Welt erregt die Sinnesorgane dieser Tiere und Menschen.

Implikationen für das zwischenmenschliche Verständnis

Roth betont, dass wir nie davon ausgehen dürfen, dass der andere so wahrnimmt wie wir, auch nicht, dass er so denkt oder fühlt, wie wir glauben, dass er denkt oder fühlt. Selbst bei Lebenspartnern, mit denen man 20, 30, 40 Jahre zusammen ist, ist die Wahrnehmung nie identisch. Manche Ehepartner entdecken erst nach 50 Jahren, dass sie viele Dinge in ihrem Umgang miteinander und in ihrem sozialen Umfeld ein Leben lang fundamental verschieden gesehen und interpretiert haben.

Um dies zu veranschaulichen, verwendet Roth das Bild eines Systems von aufeinanderstehenden Sockeln. Der unterste gemeinsame Sockel ist die Tatsache, dass wir Menschen sind, dass wir ähnliche Sinnesorgane und ähnliche Gehirne haben. Die sorgen dafür, dass bestimmte Schalldruckwellen von uns automatisch als menschliche Sprache interpretiert werden. Zu diesem angeborenen Sockel, auf dem alle Menschen stehen, gehört auch die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, Wut, Enttäuschung, Trauer und Freude als solche unmittelbar zu erkennen - jedenfalls, wenn der Mensch normal entwickelt ist. Auf diesem Sockel des Menschseins stehen weitere, die verschieden sind, zum Beispiel die der frühkindlichen Prägung. Bei Menschen, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, in einer bestimmten Kultur, in einer Familie mit Mutter und Vater, wird das Gehirn ähnlich geprägt und demzufolge werden die Signale aus der Außenwelt ähnlich interpretiert. Und so stehen auf jedem Sockel immer weitere, immer schmalere, deren Grad von Verschiedenheit zunimmt - Sprachgemeinschaft, Jugend, Ausbildung, Erfahrung. Auf jeder höheren Stufe stehen weniger Menschen auf einem gemeinsamen Sockel.

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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Roth hat sich auch intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Persönlichkeit im Gehirn verankert ist und wie sie sich im Laufe des Lebens verändert. Sein Buch "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten" bietet ein neurobiologisch fundiertes Modell der Persönlichkeit. Er verknüpft neurobiologisches Wissen mit psychologischen und handlungspsychologischen Modellen, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Anlage, Umwelt und Verhalten zu erklären. Dabei geht es um das Verhältnis von Persönlichkeit, Anlage und Umwelt. Bindungserfahrungen sind wichtig für die Persönlichkeit. Roth beschreibt die Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn und wie Verknüpfungsstrukturen in den ersten Lebensjahren eingegangen werden.

Die Rolle der Hirnentwicklung

Die Hirnentwicklung, also Reifungsprozesse, beeinflusst Begabungen und den Intelligenzgrad. Psychische Belastungen, vor allem im engeren Umfeld, wirken sich besonders auf das limbische System aus. Die Persönlichkeit wird durch diese Faktoren geformt, wobei kognitiv-intellektuelle Fähigkeiten eine wichtige Rolle spielen.

Entscheidungsprozesse

Roth untersucht auch die Auseinandersetzung mit menschlichem Handeln und Entscheiden. Er analysiert Entscheidungsprozesse und stellt ein Modell vor, das ein stimmiges Handeln aus. Er geht der Frage nach, welche Entscheidungsstrategie wir verwenden und wie wir Entscheidungen unter Komplexitäts- und Ungewissheitsdruck treffen.

Veränderbarkeit von Verhalten und Persönlichkeit

Roth befasst sich auch mit der Veränderbarkeit des Verhaltens aus Sicht der Lernpsychologie. Er betont, dass die Veränderung von Verhalten und Persönlichkeit möglich ist, auch wenn er die Vorstellung einer unbegrenzten Willensfreiheit verwirft.

Kritik an Roths Ansatz

Roth's Arbeit ist nicht ohne Kritik geblieben. Einige Kritiker bemängeln seine biologistischen Grundannahmen und seine reduktionistische Sichtweise auf komplexe psychologische Phänomene. Andere kritisieren, dass er die Bedeutung von sozialen und kulturellen Faktoren für die menschliche Entwicklung zu wenig berücksichtigt.

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Einige Rezensenten seines Buches "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten" bemängeln, dass es unsystematisch sei und Vieles "nicht zu Ende" diskutiert werde. Zudem wird kritisiert, dass Roth's sprachliche Ausrichtung eher an wissenschaftlich Forschende gerichtet sei als an Praktiker im Bildungsbereich.

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