Gerhard Roth: Gehirn, Seele und der Zusammenhang

Die Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Seele beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Gerhard Roth, einer der führenden deutschen Neurobiologen, hat sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und versucht, eine Brücke zwischen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Fragestellungen zu schlagen. Dieser Artikel beleuchtet Roths Ansichten und Erkenntnisse zum Thema "Gehirn und Seele", basierend auf seinen Veröffentlichungen, Vorträgen und Interviews.

Was ist die Seele?

Roth definiert die Seele nicht im religiösen Sinne, sondern als die Gesamtheit unserer Empfindungen, Gedanken, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Sie umfasst also die gesamte Erlebnis- und Gefühlswelt eines Menschen und geht damit über den Begriff des "Geistes" hinaus. Diese Definition steht im Einklang mit dem Verständnis großer Philosophen wie Descartes oder Kant.

Der Sitz der Seele im Gehirn

Schon Platon vermutete, dass die Seele im Gehirn sitzt. Roth bekräftigt diese Annahme aus neurobiologischer Sicht. Er betont, dass es keinen vernünftigen Zweifel daran geben kann, dass das Gehirn das Psychische hervorbringt. Verletzungen des Gehirns führen zu kognitiven Einbußen, was diese These untermauert.

Ein wichtiger Bereich für die Entstehung des Psychischen ist das limbische System. Roth bezeichnet es als den "Sitz der Seele im engeren Sinne". Es ist zuständig für die Auslösung und Kontrolle angeborener Verhaltensweisen und elementarer affektiv-emotionaler Zustände wie Wut, Freude oder Trauer.

Evolution der Seele

Roth geht davon aus, dass die Entwicklung der Seele ein langer evolutionärer Prozess war. Der Mensch hat zwar die komplexeste Seele, aber es gibt auch Vorstufen bei Tieren. Einige Tiere verfügen über ein Bewusstsein, Selbstbewusstsein und bewusste Gefühle.

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Ein entscheidender Sprung in der Entwicklung der menschlichen Seele war die Erfindung der Sprache vor etwa 100.000 Jahren. Sie wirkte als Intelligenzverstärker und ermöglichte eine komplexere Kommunikation und Handlungsplanung.

Die Rolle des Bewusstseins

Das Bewusstsein spielt eine wichtige Rolle für das Gedächtnis, die sprachliche Kommunikation und die Handlungsplanung. Bewusst erlebte Dinge können wir uns besser merken als unbewusste. Ohne Bewusstsein wären die sprachliche Kommunikation und Handlungsplanung unmöglich. Diese Fähigkeiten machen uns Menschen zu Menschen.

Zusammenspiel von Gehirn und Seele

Roth betont, dass Psyche und Körper in Verbindung stehen. Denken, Handeln und Fühlen haben physiologische Entsprechungen im Gehirn. Die moderne Hirnforschung ermöglicht es, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen. Mit bildgebenden Verfahren lassen sich Korrelate des Entstehens psychischer Erkrankungen und der Wirkung psychotherapeutischer Methoden innerhalb bestimmter Nachweisgrenzen im Gehirn darstellen.

Roth weist darauf hin, dass die Erlebniswelt eines Menschen ein "Konstrukt" des Gehirns ist. Bewusstseinsprozesse schaffen einen mentalen Raum, in dem Körper, Welt und Ich direkt miteinander zu interagieren scheinen. Dieser Raum ist Voraussetzung für komplexe Informationsverarbeitung, Problemlösen und Handlungsplanung.

Neurobiologische Grundlagen der Persönlichkeit

Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich in engem Zusammenhang mit der Entwicklung seines Gehirns, insbesondere des limbischen Systems. Genetische und epigenetische Faktoren sowie Umwelteinflüsse vor und nach der Geburt spielen dabei eine wichtige Rolle.

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Roth und Strüber beschreiben sechs psychoneuronale Grundsysteme, die die Persönlichkeit prägen:

  1. Stressverarbeitung: Wie geht man mit Problemen und Herausforderungen um?
  2. Selbstberuhigung: Wie gut kann man sich selbst beruhigen und entspannen?
  3. Bindung und Sozialität: Wie wichtig sind Beziehungen zu anderen Menschen?
  4. Impulskontrolle: Wie gut kann man seine Impulse kontrollieren und soziale Regeln beachten?
  5. Belohnungsempfänglichkeit: Wie stark sucht man Belohnung, Erfolg und Risiko?
  6. Realitätsbewusstsein: Wie genau kann man Situationen und Risiken einschätzen?

Die individuelle Ausprägung dieser Systeme bestimmt die Persönlichkeit und das Seelenleben eines Menschen.

Psychische Erkrankungen und ihre neurobiologischen Grundlagen

Psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen beruhen auf Defiziten in der Ausbildung und Interaktion der genannten psychoneuralen Systeme. Traumatisierende Erlebnisse können im Gehirn deutliche Spuren hinterlassen und die Entwicklung dieser Systeme beeinträchtigen.

Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht

Roth betont, dass Psychotherapie und Neurowissenschaften sich gegenseitig unterstützen sollten. Die Hirnforschung kann dazu beitragen, die Wirkungsweise von Psychotherapien besser zu verstehen.

Studien zeigen, dass eine intensive therapeutische Allianz zwischen Patient und Therapeut zu einer Ausschüttung von Oxytocin führt, was eine Besserung der Symptomatik bewirken kann. Bei schwereren psychischen Störungen sind strukturelle Änderungen im Bereich der Basalganglien notwendig.

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Roth und Strüber nehmen auch zu den vorgeblichen Wirkfaktoren der psychodynamischen Verfahren Stellung. Sie stellen fest, dass die Konzepte der Traumdeutung und des Ödipuskomplex jeglicher empirischer Fundierung entbehren und dass die Freud`sche Trieblehre eindeutig falsch ist.

Die Bedeutung der frühkindlichen Bindung

Die frühkindliche Bindungserfahrung spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Persönlichkeit und des Gehirns. Eine fürsorgliche und liebevolle Bindungserfahrung fördert die Ausschüttung von Oxytocin, Serotonin und endogenen Opioiden, was sich positiv auf die Stressregulation und das Selbstberuhigungssystem auswirkt. Defizite in diesem Bindungssystem können zu Gefühlskälte, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Gewaltneigung führen.

Die Rolle der Gene und der Epigenetik

Gene spielen eine Rolle bei der Entstehung von Persönlichkeitsmerkmalen und psychischen Erkrankungen, aber es gibt keine einzelnen Gene für bestimmte Eigenschaften oder Erkrankungen. Die Aktivierung der Gene, die Epigenetik, wird teils vererbt, teils über Umwelteinflüsse modifiziert. So können traumatische Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft die Entwicklung des Stressverarbeitungssystems im Gehirn des Kindes negativ beeinflussen.

Kritik am Neuroreduktionismus

Roth betont, dass er kein Reduktionist ist. Ohne Gehirn kann man die Mona Lisa nicht schön finden, aber das heißt nicht, dass man die Empfindung der Schönheit in den Neuronen finden würde. Die Neuronen müssen in irgendeiner Weise interagieren, damit auf einer anderen Ebene das Erlebnis ästhetischer Schönheit entsteht. Diese "andere Ebene" unterliegt aber auch den Naturgesetzen.

Roth kritisiert auch einen platten Neuroreduktionismus, für den psychische Erkrankungen nichts anderes als "falsch feuernde Amygdala-Neuronen" seien. Er betont, dass psychische Erkrankungen komplex sind und auf dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren beruhen.

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