Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht und unser Verständnis des menschlichen Gehirns revolutioniert. Einer der führenden Köpfe in diesem Bereich ist Prof. Dr. Gerhard Roth, ein renommierter Neurobiologe und Philosoph. Dieser Artikel beleuchtet Roths Arbeit und seine Beiträge zur Hirnforschung, wobei verschiedene Aspekte und Perspektiven berücksichtigt werden.
Einführung in Gerhard Roths Werk
Gerhard Roth, geboren 1942 in Marburg, ist einer der führenden deutschen Neurobiologen. Er leitete viele Jahre das Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen. Roth war promovierter Philosoph, ehe er sich der Biologie zugewendet hat. In seinem Alterswerk "Über den Menschen" zieht Gerhard Roth Bilanz. Eine These: Sein wahres Ich erkennen zu wollen, ist aussichtslos.
Die Bedeutung der Hirnforschung für die Geisteswissenschaften
Roth betont die große Bedeutung der Erkenntnisse der Hirnforschung für Psychologie und Psychiatrie. Tiefgreifende Auswirkungen haben sie für weite Bereiche der Philosophie, vor allem für die Erkenntnistheorie, die Philosophie des Geistes und die Ethik. Faszinierend ist auch der Brückenschlag von der Hirnforschung zu den Sprach-, Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften. In den Sprachwissenschaften sind die Erkenntnisse der Neurolinguistik nicht mehr fortzudenken. Und die Frage, was künstlerische Kreativität und Intuition ist, betrifft einen aktuellen Bereich der kognitiven Neurowissenschaften.
Kontroverse Positionen
Allerdings gibt es auch kritische Stimmen. Prof. Dr. Klaus Fischer (Philosophie) von der Universität Trier argumentiert, dass die Hirnforschung den Geist für nicht existent hält, da er sich ihrem Repertoire an Zugriffsmöglichkeiten entzieht, das die Introspektion und die Selbsterfahrung nicht mehr als legitime Quellen objektiven Wissens ansieht. Bisher hat kein Hirnforscher die Repräsentation eines Arguments (einer Hypothese, Norm, Idee, eines Phänomens) im Gehirn durch neuronale Messungen nachgewiesen. Somit ist die Nachfrage gestattet, ob sich der Sinn des von uns Gemeinten im Gehirn oder im Geist befindet.
Das Gehirn als sozial prägbares Organ
Für die Sozialwissenschaft ist der Mensch im Wesentlichen das, was die Gesellschaft aus ihm macht. Die Tatsache, dass der Mensch ein Gehirn besitzt, wird als triviale biologische Gegebenheit angesehen. Das menschliche Gehirn ist jedoch ein sozial prägbares Gehirn.
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Roths Kritik an traditionellen psychologischen Konzepten
Roth kritisiert traditionelle psychologische Konzepte, insbesondere jene der Psychoanalyse. Er argumentiert, dass sich die Freud’schen Vorstellungen der Funktion des Unbewussten und des Zugangs zu ihm oder erst recht die Traumdeutung oder der Ödipuskomplex nicht mehr aufrechterhalten lassen. Auch für die Komponenten Ich, Es und Über-Ich lassen sich neuronal keine „Orte“ oder Funktionen im Gehirn nachweisen. Die Verhaltenstherapie wiederum muss sich von den älteren Lernmodellen verabschieden, insbesondere von jenen, die noch von „Löschungsprozessen“ im Gehirn ausgingen. Man kann im Gehirn nichts „löschen“, sondern bestenfalls überlernen.
Das Unbewusste aus neurobiologischer Sicht
Das Unbewusste, das Freud meist meinte, ist das, was im Langzeitgedächtnis abgespeichert ist, es ist also vorbewusst und kann erinnert werden, wie alles, was im Langzeitgedächtnis abgelegt ist. Und im Langzeitgedächtnis findet sich auch alles das, was einmal gelernt worden ist, wodurch zum Beispiel nachvollziehbar wird, warum bei manchen psychotherapeutischen Klienten nach Jahrzehnten plötzlich unter bestimmten Stressbelastungen wieder Verhaltensmuster und emotionale Reaktionen durchbrechen, die nach der Therapie als „bearbeitet“ galten und lange Zeit völlig in den Hintergrund getreten waren. Das Unbewusste hingegen ist nicht in Bildern und Worten zu fassen.
Die Notwendigkeit einer neuen Therapiewirkungsforschung
Roth plädiert für eine ganz neue Therapiewirkungsforschung. Die Psychotherapeuten müssten viel stärker die Neurobiologie hinzuziehen, um diese neuen Wirkungsmodelle zu entwickeln.
Die Rolle des limbischen Systems
Psychotherapeuten sollten eine Kenntnis davon haben, wie zumindest Teile des limbischen Systems auf verschiedenen Ebenen unsere Affekte oder auch unser Temperament prägen. Da ist manches bereits ab der Geburt vorhanden. Man sollte den Rahmen der Veränderbarkeit realistisch abschätzen können. Vulnerabilität und Resilienz beispielsweise sind neurobiologisch verankert, auch wenn sie mit Umwelteinflüssen eng zusammenhängen. So kann man sich dann auch der Antwort nähern, warum man psychotherapeutisch bei dem einen sehr erfolgreich ist, bei einem anderen aber vielleicht nicht.
Neuromodulatoren und neuronale Abläufe
Die sogenannten Neuromodulatoren Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin und eine Reihe von Neuropeptiden und Neurohormonen (Cortisol, Oxytocin) sind hierbei von Bedeutung und prägen unsere neuronalen Abläufe weitgehend autonom. Das Gehirn ist selbstreferenziell.
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Die Grenzen der Hirnforschung
Trotz aller Fortschritte räumt die Hirnforschung ein, dass bisher nicht gezeigt werden kann, wie der Transfer von neuronalen Abläufen und Funktionen hin zum psychischen Inhalt verlaufen könnte. Wo wir noch keine Kausalitäten nachweisen können, da sollten wir auch nicht von ihnen reden. Das kausale Zusammenwirken wird sich aber früher oder später darstellen lassen.
Psychotherapie und Pharmakologie
Psychotherapie wirkt, wenn sie wirkt, im Gehirn. Pharmaka setzen am biochemischen Prozess an, aber auch Psychotherapie muss im Gehirn wirken, also biologisch und chemisch. Da auch Psychopharmaka nur bei einem Drittel der Klienten wirklich wirken, zeigt sich, dass auch sie zum großen Teil über eine gute Beziehung zwischen Therapeut und Klient funktionieren. Das können wir am Peptid Oxytocin inzwischen nachweisen. Deshalb kommt der Bindungsforschung in den letzten Jahren eine so große Bedeutung zu. Eine gute therapeutische Beziehung und ein hohes Vertrauen in den Therapeuten ist auch bei der Gabe von Pharmaka unerlässlich. Das heißt: Die Medikamentengabe braucht ebenfalls eine gute Beziehungsgestaltung - egal, was die Pharmaindustrie behauptet.
Roths Vision für die Zukunft der Psychotherapie
Roth befürwortet ein gesundes schulenübergreifendes Mixtum, das man vielleicht als „Bindungsorientierte emotional-kognitive psychodynamische Verhaltenstherapie“ beschreiben könnte. Also auf ein kluges Mixtum aus unterschiedlichen bisherigen Ansätzen, und zwar angewendet auf den individuellen Klienten.
Das Vier-Ebenen-Modell von Roth-Cierpka-Strüber
Die Entwicklung der Psyche und der Persönlichkeit findet nach dem Vier-Ebenen-Modell von Roth-Cierpka-Strüber auf drei limbischen und einer kognitiven Ebene des Gehirns statt:
- Untere limbische Ebene (Hypothalamus usw.): Ebene unbewusst wirkender angeborener Reaktionen und Antriebe: Schlafen - Wachen, Nahrungsaufnahme, Sexualität, Aggression - Verteidigung - Flucht, Dominanz, Wut usw. Diese Ebene ist überwiegend genetisch-epigenetisch oder durch vorgeburtliche Einflüsse bedingt und macht unser Temperament aus. Sie ist durch Erfahrung und Erziehung kaum zu beeinflussen. Hierzu gehören grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Stresstoleranz, Fähigkeit zur Selbstberuhigung, Selbstvertrauen, Offenheit - Verschlossenheit, Impulshemmung, Umgang mit Risiken.
- Mittlere limbische Ebene (basolaterale Amygdala, Nucleus accumbens, VTA): Ebene der unbewussten emotionalen Konditionierung: Anbindung elementarer Emotionen (Furcht, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung und Erwartung) an individuelle Lebensumstände. Fähigkeit zu nichtverbaler emotionaler Kommunikation. Grundlegende motivationale Antriebe: Art und Stärke der Belohnungserwartung (materiell, sozial, intrinsisch) und Enttäuschungsempfindlichkeit. Diese Ebene macht zusammen mit der ersten Ebene (Temperament) den Kern unserer Persönlichkeit aus. Dieser Kern entwickelt sich in den ersten Lebensjahren und ist im Jugend- und Erwachsenenalter nur über starke emotionale oder lang anhaltende Einwirkungen veränderbar.
- Obere limbische Ebene (prä- und orbitofrontaler, cingulärer und insulärer Cortex): Ebene des bewussten emotional-sozialen Lernens: Gewinn- und Erfolgsstreben, Anerkennung - Ruhm, Freundschaft, Liebe, soziale Nähe, Hilfsbereitschaft, Moral, Ethik. Sie entwickelt sich in später Kindheit und Jugend. Sie wird wesentlich durch sozial-emotionale Erfahrungen beeinflusst. Hier werden zusammen mit den unteren Ebenen grundlegende sozial relevante Persönlichkeitsmerkmale festgelegt wie Machtstreben, Dominanz, Empathie, Verfolgung von Zielen und Kommunikationsbereitschaft.
- Kognitiv-sprachliche Ebene (linke Großhirnrinde, bes. Sprachzentren und dorsolateraler präfrontaler Cortex): Ebene der bewussten sprachlich-rationalen Kommunikation: bewusste Handlungsplanung, Erklärung der Welt, Rechtfertigung des eigenen Verhaltens vor sich selbst und anderen. Sie entsteht relativ spät und verändert sich ein Leben lang. Hier lernen wir, wie wir uns darstellen sollen, um vorankommen. Abweichungen zwischen dieser Ebene und den anderen Ebenen führen zum Opportunismus oder zur Verstellung. Diese Ebene hat zu den anderen verhaltensrelevanten Ebenen keine direkte kontrollierende Verbindung: Einsicht führt nicht automatisch zum Handeln!
Sechs Psycho-Neutrale Systeme
Das Geistig-Psychische entsteht auf den geschilderten Ebenen über die Ausbildung von sechs psycho-neuralen Systemen, die sich ihrerseits teils genetisch, teils umweltbedingt entwickeln, z.T. schon vor der Geburt:
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- Stressverarbeitung: Wie werde ich mit Aufregungen fertig (aufregen und abregen)? Adrenalin- Noradrenalin, Cortisol, funktionierende negative Rückkopplung. Wird stark beeinträchtigt durch vorgeburtliche negative Einflüsse, d.h. über das Gehirn der Mutter, oder durch frühe nachgeburtliche Störungen, hauptsächlich im Rahmen einer negativen Bindungserfahrung wie Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch, depressive oder persönlichkeitsgestörte Mutter.
- Bedrohungsempfindlichkeit, Frustrationstoleranz: Wie bedrohlich erlebe ich die Welt, wie sehr fürchte ich Misserfolge, wie sehr suche ich Sicherheit? Mangel an Serotonin-1A-R, endogenen Opioiden, erhöhter Spiegel an Serotonin-2A-R, Hypercortisolismus. Ebenfalls starke Gen-Umwelt-Interaktion.
- Bindung und Sozialität: Wie wichtig ist mir das Zusammensein mit anderen, die Anerkennung durch sie; wie sehr ziehe ich mich von den anderen zurück, empfinde sie als Bedrohung? Oxytocin, endogene Opioide, Serotonin-1A-R und deren Mangel.
- Impulsivität und Impulskontrolle: Wie sehr werde ich von unmittelbaren Motiven getrieben? Dopamin, Serotonin-2A-R, Noradrenalin. Impulsbeherrschung, Selbstkontrolle: Glutamat, GABA. Toleranz für Belohnungsaufschub.
- Belohnungsempfänglichkeit und Belohnungserwartung: Wie stark suche ich die Belohnung, den Erfolg, das Risiko, den Kick? Erhöhte Ausschüttung von Dopamin, endogenen Opioiden.
- Realitätsbewusstsein und Risikowahrnehmung: Wie genau kann ich Situationen und Risiken einschätzen, wie sehr vermag ich aus (insbesondere negativen) Konsequenzen meiner Handlungen zu lernen? Acetylcholin, Glutamat, GABA.
Wie entstehen psychische Erkrankungen?
Psychische Erkrankungen beruhen auf strukturellen und funktionalen Störungen corticaler und subcorticaler limbischer Hirnzentren und ihrer Interaktion mit cortical-exekutiven Zentren (bes. präfrontaler Cortex). Sie werden verursacht durch eine Kombination genetisch-epigenetischer Vorbelastung (u. a. des Stressverarbeitungs- und serotonergen Systems), vorgeburtlicher Stresserfahrungen der Mutter, frühkindlicher Traumatisierung und negativer Erfahrungen in späterer Kindheit und Jugend und einer daraus resultierenden Schwächung der Stress-Achse.
Der Verlauf einer erfolgreichen Psychotherapie aus neurobiologischer Sicht
Zahlreiche Untersuchungen zur Effektivität von Psychotherapien ergaben, dass die gängigen Psychotherapien mehr oder weniger dieselbe Effektivität zeigen; 30-70 Prozent der Wirkung scheinen auf einen gemeinsamen Faktor zurückzugehen. Dieser scheint im Bindungs- und Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Patient, dem Glauben des Therapeuten an seine Methode (welcher Art auch immer) und dem Glauben des Patienten, dass ihm geholfen werden wird (»therapeutische Allianz«), zu bestehen.