Die Vorstellung, dass das Gehirn sich selbst heilen kann, hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen. Lange Zeit galt das Gehirn als ein starres Organ, dessen Schäden irreversibel sind. Doch die Entdeckung der Neuroplastizität und der adulten Neurogenese hat dieses Dogma in Frage gestellt und neue Hoffnung für die Behandlung neurologischer Erkrankungen geweckt.
Das Dogma der fehlenden Regeneration
Anfang der 1990er Jahre wurde die Entdeckung, dass auch das erwachsene Gehirn noch neue Nervenzellen bilden kann, oft als Widerlegung des Dogmas interpretiert, das Gehirn könne nicht regenerieren. Dieses Dogma wurde fälschlicherweise Santiago Ramón y Cajal zugeschrieben, der sich pessimistisch über die Regenerationsfähigkeit des Gehirns geäußert hatte. Tatsächlich liegt die Herausforderung bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen in der Tatsache, dass das Gehirn offenbar kaum oder gar nicht regeneriert.
Was bedeutet "Regeneration" in diesem Zusammenhang? Man würde unwillkürlich an die Wiederherstellung des Zustands vor der Erkrankung denken. Nach einem Schlaganfall, bei dem ein Teil des Gehirns kurzzeitig von der Sauerstoffversorgung abgeschnitten wird und Nervenzellen absterben, würde Regeneration die Rekonstitution der untergegangenen Hirnstruktur und der verlorenen Funktion bedeuten.
Diese Vorstellung von Regeneration ist von der Regeneration anderer Organe abgeleitet. Unsere Haut heilt sehr gut, und auch ein Knochenbruch heilt meist vollständig aus. Das Gehirn hingegen ist anfälliger für bleibende Schäden und neigt dazu, chronisch zu werden.
Die Komplexität des Gehirns als Herausforderung
Das Gehirn ist ein Sonderfall, da seine Struktur überaus komplex ist und die Breite seiner Aufgaben eine Kompensation nur begrenzt zulässt. Die Vorstellung, dass nach einem Schaden eine andere Hirnregion die Aufgaben der geschädigten übernimmt, stimmt nur bedingt. Hinzu kommt, dass das Gehirn der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres Ichs und unserer individuellen Geschichte ist. Bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen und insbesondere bei Verletzungen des Gehirns gehen Inhalte verloren, da das Gehirn ein Speicher ungeheurer Informationsmengen ist.
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Das Gedächtnis ist dabei erheblich fluider und veränderbarer als die Nullen und Einsen auf der Festplatte eines Computers. Informationen treten unaufhörlich miteinander in Austausch, weshalb die Hirnrinde auch "Assoziationskortex" genannt wird. Erinnerungen sind im Gehirn nicht säuberlich abgelegt, sondern reflektieren "Zustände" von Netzwerken von Nervenzellen, die sich überlappen können. Schäden müssen daher nicht immer die gesamte Erinnerung und Funktion betreffen, können aber auch Assoziationen auslöschen.
Selbst wenn die Rekonstruktion von strukturellen Schäden des Gehirns möglich wäre, wären viele Inhalte und Funktionen mit der untergegangenen alten Struktur unwiederbringlich verloren. Die fehlende Regenerationsfähigkeit bedeutet auch, dass gerade das Organ, das die psychologische Verarbeitung des Problems leisten könnte, miterkrankt ist.
Zellersatztherapie als möglicher Ansatz
Die Vorstellung, dass man das, was das Gehirn aus eigener Kraft nicht schafft, durch Ersatz der untergegangenen Zellen von außen bewerkstelligen könnte, erscheint ambitioniert. Je diffuser das Problem, je umfänglicher das Gehirn von einer Schädigung betroffen ist und je länger der Prozess seine schädigende Wirkung ausüben konnte, desto schwieriger wird es, durch einen Ersatz untergegangener Zellen das Defizit aufzufangen. Je umschriebener der Schaden und je einfacher die Funktion jedoch ist, desto plausibler erscheint eine direkte Zellersatztherapie.
Die Parkinson-Krankheit ist ein Beispiel für eine chronische Erkrankung des Gehirns, die durch Zellersatztherapie behandelbar ist. Beim Morbus Parkinson ist zunächst nur eine spezifische Gruppe von Nervenzellen betroffen, deren Untergang einen klar definierten Regelkreis stört. Diese komplexe Störung ist durch die Gabe des fehlenden Botenstoffes Dopamin prinzipiell behandelbar, aber die Wirkung lässt oft nach. In solchen Fällen kann eine Transplantation von dopaminergen Zellen helfen.
Eine Zellersatztherapie will daher gut abgewogen sein und ist extrem aufwendig, da es nicht trivial ist, transplantierbare Zellen zu gewinnen. Stammzellen stellen hier einen besseren Ausgangspunkt dar, weil sie prinzipiell beliebig vermehrbar sind. Eines der realistischsten Ziele für die therapeutische Anwendung embryonaler Stammzellen liegt in der Herstellung dopaminerger Nervenzellen, die anstelle der fetalen Zellen eingesetzt werden könnten.
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Es hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei Techniken gegeben, embryonale Stammzellen in dopaminerge Nervenzellen zu differenzieren. Man bedient sich dabei einer Abfolge von Zugaben zu den Nährflüssigkeiten der Zellkultur, die den Faktoren entsprechen, denen dopaminerge Zellen auch während ihrer Entwicklung im Organismus ausgesetzt sind. Zuletzt gilt es zu zeigen, dass die gebildeten Zellen auch "wirklich" die gewünschten Nervenzellen sind. Dennoch ist anzunehmen, dass hier eher früher als später ein Durchbruch erfolgen wird und man transplantierbare Zellen zur Verfügung haben wird.
Aber auch dann ist man noch nicht am Ziel, denn die Entwicklung klinischer Routinen, die den praktischen Einsatz der Zelltherapie beim Morbus Parkinson erlauben, wird ebenfalls äußerst aufwendig sein. Zelltherapie steht angesichts des zu betreibenden Aufwands und möglicherweise auch wegen zum Teil noch zu eruierender Risiken in Konkurrenz zu anderen Verfahren. Viele Parkinsonpatienten sind medikamentös gut behandelbar, und therapierefraktäre Fälle sprechen oft gut auf die so genannte Tiefenhirnstimulation an. Die Zellersatztherapie tritt also gegen eine oft wirksame und weniger invasive Therapieform an. Die Zeit wird zeigen, welche Behandlung überlegen ist; wahrscheinlich haben beide ihre Vorzüge und Anwendungsbereiche, die es zu erkennen und zu beschreiben gilt. Diese Tatsache spricht nicht gegen die Forschung an Zellersatztherapien, sondern warnt nur davor, dass auch diese keine Wundermittel sind.
Es gibt weitere neurologische Erkrankungen, die mit Zelltherapie behandelbar werden könnten. Hierzu gehört die Chorea Huntington, bei der ebenfalls eine umschriebene Zellpopulation betroffen ist, für die es jedoch anders als beim Morbus Parkinson keine alternativen Therapien gibt. Zellersatz wird auch immer wieder für die Multiple Sklerose diskutiert, bei der zunächst nicht vorrangig Nervenzellen, sondern die Oligodendrozyten betroffen sind.
Grundsätzlich gilt für Zellersatz, dass 1) die Risiken nicht größer als die möglichen Nutzen sein dürfen, 2) die transplantierten Zellen nicht der gleichen Erkrankung anheim fallen dürfen, die schon die ursprünglichen Zellen dezimiert hat, und die neuen Zellen also gegenüber den alten einen Vorteil besitzen müssen und 3) die Behandlung nicht auf Wiederholungen angewiesen ist, um erfolgreich zu sein.
Transdifferenzierung und unterstützende Zelltherapie
Um die Jahrtausendwende sah es eine Zeitlang so aus, als ob sich das Potenzial der Stammzellen des Knochenmarks darin nicht erschöpfte. Eine Serie von Aufsehen erregenden Berichten schien nahe zu legen, dass aus Knochenmark auch Gehirn entstehen könnte. Nach einer Knochenmarktransplantation fand man im Gehirn des Empfängers Nervenzellen mit Merkmalen des Spenders. Man nennt das Phänomen "Transdifferenzierung": Die Blutstammzellen differenzierten offenbar entlang einer Entwicklungslinie, hier der des Nervensystems, die ihnen "eigentlich", nach allen Regeln der Entwicklungsbiologie, gar nicht zustand.
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Es stellte sich heraus, dass Transdifferenzierung nicht oder nur extrem selten vorkommt. Vielmehr neigen die transplantierten Blutzellen dazu, mit verschiedenen Körperzellen des Empfängers zu verschmelzen. Solche Fusionen erklären die Befunde zur angeblichen Transdifferenzierung.
Die Experimente zur Transdifferenzierung waren mitunter von einem eindrucksvollen therapeutischen Erfolg begleitet. Auch als man nach Hinweisen aus Tierversuchen begann, Patienten mit einem Herz- oder Hirninfarkt Blutstammzellen zu verabreichen, fanden sich Verbesserungen, die nicht durch Transdifferenzierung erklärbar waren. In gewissem Maße scheinen Stammzellen aus dem Knochenmark die Regeneration zu fördern oder zumindest das Fortschreiten der Erkrankung zu hemmen. Ein Teil dieses Prinzips könnte darin liegen, dass die implantierten Zellen zur Neubildung von Gefäßen beitragen und damit die Durchblutung des Gewebes sicherstellen. Allerdings scheint dieser Mechanismus im Gehirn weniger relevant zu sein als im Herzmuskel. Noch interessanter, aber ebenfalls noch unbewiesen, ist die Idee, dass der zu Grunde liegende Mechanismus ein immunologischer sein könnte.
Die modulierende oder unterstützende Zelltherapie erfordert noch umfangreiche Forschung. Eine unterstützende Zelltherapie hat mit der Idee eines klassischen Zellersatzes nur wenig gemeinsam. Es werden nicht die "Hauptdarsteller", also die betroffenen Nervenzellen, ersetzt. Dies limitiert natürlich die Reichweite des Ansatzes. Unterstützende Zelltherapie steht näher bei konventionellen, zum Beispiel medikamentösen Ansätzen, um Regeneration zu aktivieren, als bei der Idee, verlorenes Gewebe wirklich zu ersetzen. Der fundamentale Unterschied zur Medikamentenbehandlung liegt aber in der Tatsache, dass mit der Transplantation einer Zelle eine biologisch hochgradig komplexe Einheit eingesetzt wird, die anders als ein isolierter Faktor auf sehr vielfältige Weise in den Regenerationsprozess eingreifen könnte.
Neuroplastizität: Die Reparaturzentrale des Gehirns
Schäden im Gehirn sind fatal, doch unser Denkorgan kann sich selbst helfen. Der Prozess der Neuroplastizität ermöglicht es Nervenzellen, sich neu zu organisieren und geschädigte Funktionen zu kompensieren. Ein Neuron kommuniziert über Synapsen mit etwa 10.000 anderen Nervenzellen. Nach einem Schlaganfall gehen mit jeder Minute 1,9 Millionen Nervenzellen zugrunde.
Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich immer wieder neu zu organisieren und das komplexe Netzwerk aus Nervenzellen veränderten Gegebenheiten dynamisch anzupassen. Diese Fähigkeit ist nach einem Schlaganfall oder einem Unfall von großem Wert. Schon Stunden später beginnen die überlebenden Nervenzellen, sich anders zu verknüpfen. Sie bilden Fortsätze, Axone genannt, die aussprießen und sich über Synapsen mit anderen Nervenzellen verbinden.
Christian Grefkes-Hermann, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Frankfurt, erklärt: »Man muss sich das Gehirn vorstellen wie ein Netzwerk aus Kabeln. Geht eins davon kaputt, bilden Ersatzkabel Umgehungskreisläufe.«
Kompensation einer fehlenden Hirnhälfte
Ausgerechnet eine Hirnschädigung versetzt das Organ in einen höchst formbaren Zustand. Während die Hirnrinde zunächst weniger aktiv ist, steigt die Erregbarkeit vor allem in bestimmten Regionen, die an der Neuorganisation der geschädigten Gebiete beteiligt sind. Dabei findet die Reorganisation meist in Arealen statt, die entweder ähnliche Aufgaben erfüllen wie der geschädigte Bereich oder in räumlicher Nähe dazu liegen.
Wird zum Beispiel durch einen Schlaganfall ein Areal geschädigt, das die Hand steuert, können Nervenzellen aus den angrenzenden Arealen die verloren gegangenen Funktionen übernehmen. Ist ein Hirnschaden relativ klein, kann das Gehirn ihn durch die neue Verkabelung meist recht gut aus eigener Kraft beheben. Bei größeren Läsionen, die weite Teile einer Hirnhälfte betreffen, ist das allerdings nicht mehr möglich, da es keine direkt benachbarten oder funktionell verwandten Schaltkreise mehr gibt. In dem Fall kann das Gehirn aber womöglich auf die andere, noch gesunde Hirnhälfte zurückgreifen.
Dorit Klieman vom California Institute of Technology (Caltech) konnte zeigen, dass in jungen Jahren sogar der Verlust einer kompletten Hirnhälfte kompensiert werden kann. Sie untersuchten mit MRTs das Gehirn von Erwachsenen, denen in der Kindheit im Alter von drei Monaten bis elf Jahren auf Grund einer schweren Epilepsie eine Hemisphäre entfernt worden war. Die Aufnahmen zeigten, dass die Nervenverbindungen in bestimmten Arealen, die nun Funktionen wie Sehen, Sprechen und Bewegung kontrollierten, den Mustern von Personen mit zwei Hirnhälften ähnelten.
Faktoren, die die Kompensation beeinflussen
Wie gut eine Funktion von anderen Regionen übernommen werden kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Ausmaß der Verletzung, dem Ort des Geschehens und dem zeitlichen Verlauf von Schädigung und Reha. Kleine Schäden könne das Gehirn vor allem dann kompensieren, wenn sie langsam auftreten. Das zeige sich an neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson, bei denen Nervenzellen schleichend absterben. »Der Verfall verläuft so langsam, dass andere Hirnregionen die Verluste immer wieder ausgleichen und die Erkrankung lange nicht auffällt«, so der Neurologe Christian Grefkes-Hermann. »Erst wenn die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeschöpft ist, bemerken Patienten Symptome.«
Unterstützung der Heilung durch Technologie
Der Neurologe und sein Team setzen auf ein technologisches Verfahren, um die Reparatur des Gehirns nach einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung zu unterstützen: die Stimulation mit Magnetfeldern. Das magnetische Feld einer Magnetspule bewirkt im Nervensystem einen Stromfluss. Damit lassen sich ausgewählte Areale aktivieren oder hemmen, was die Hirnregeneration in die richtigen Bahnen lenkt.
Denn manchmal reagiert das Gehirn falsch auf einen Defekt: »Wir haben herausgefunden, dass es nach einem Schaden auch zu fehlgeleiteten Neuorganisationen kommen kann, bei denen sich Hirnregionen falsch vernetzen oder überaktiv werden und die Wiederherstellung der Funktion sogar stören«, so Christian Grefkes-Hermann.
Umgekehrt lassen sich Areale, die den Schaden erfolgreich kompensieren, per Magnetstimulation aktivieren, so dass die Neuorganisation besser gelingt. Eine Spule sendet dabei ein starkes, gepulstes Magnetfeld durch Haut und Knochen ins Gehirn, erreicht aber nur die oberflächennahen Bereiche der Hirnrinde. In den Neuronen des Zielgebiets erzeugt das Feld elektrische Ströme und verändert so ihre Aktivität.
Der richtige Zeitpunkt für die Reha
Christian Grefkes-Hermann ist überzeugt davon, dass die Reha bereits am ersten Tag nach einem Schlaganfall beginnen sollte. Die Neurowissenschaftlerin Anna-Sophia Wahl vom Brain Research Institute der Universität Zürich hat hingegen herausgefunden, dass eine zu frühe Reha die Heilung eher stört. Sie ist der Meinung, dass sich das Nervengewebe von Schlaganfallpatienten in der sehr frühen Phase lieber erst mal selbst reorganisieren sollte.
Zu lange warten sollte man mit den unterstützenden Maßnahmen allerdings auch nicht: »Die stärkste Dynamik hat die Erholung des Gehirns in den ersten drei bis sechs Monaten«, so Christian Grefkes-Hermann. »Danach sprechen wir von einem chronischen Defizit.«
Aktives Training und äußere Reize
Sich einfach eine Magnetspule an den Kopf zu halten, reicht allerdings nicht aus, um sich von einem Schlaganfall zu erholen. Die Stimulation von außen regt das Hirn zwar an und versetzt es in einen Lernmodus. Neue Verknüpfungen entstehen aber nur, wenn die verloren gegangenen Fähigkeiten immer wieder geübt werden. »Neuroplastizität ist kein passiver Zustand«, erklärt DGKN-Präsident Grefkes-Hermann. »Das Gehirn braucht äußere Reize, damit es Wachstumsfaktoren ausschüttet und eine zielgerichtete Reorganisation der Faserbahnen stattfinden kann.«
Auch Erholungsphasen sind dabei wichtig, denn guter Schlaf verbessert die Neuroplastizität ebenfalls - und damit den Rehabilitationserfolg.
Hilfe zur Selbsthilfe: Das Gehirn aktivieren
Ulrich Dirnagl (Charité) sucht mit seiner Arbeitsgruppe nach Behandlungsmöglichkeiten, die zu einem späteren Zeitpunkt der Krankheitsphase wirksam sind. Wie Prof. Dirnagl auf dem Symposium sagte, sterben im Randgebiet des Schlaganfalls auch gesunde Nervenzellen. Diese Zellen begehen Selbstmord, der unter anderem durch die Entzündung des betroffenen Gewebes verursacht wird. Ein Ziel der Arbeit von Prof. Dirnagl ist deshalb, das Sterben gesunder Nervenzellen nach einem Schlaganfall einzudämmen. In Tierexperimenten entwickelten er und seine Kollegen bereits Strategien, um hirneigene Schutzmechanismen „anzuschalten“. So leisten die Forscher Hilfe zur Selbsthilfe für das Gehirn, das seine Nervenzellen vor dem Absterben schützen soll. Ein Protein, das sie dabei unterstützt, ist das Erythropoietin. Es wird nicht nur von roten Blutzellen, sondern auch von Hirnzellen produziert und „wirkt gegen die Apoptose von Nervenzellen“.
Das Gehirn als wandelbares Organ
Unser Denkorgan ist hochempfindlich. Abgestorbene Neurone wachsen in der Regel zwar nicht wieder nach, viele Schäden aber repariert das Nervengewebe von ganz allein - vorausgesetzt, wir funken nicht zur falschen Zeit dazwischen!
Im Jahr 2019 baten die Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann und ihr Team von der University of Iowa sechs Erwachsene zwischen 20 und 30 Jahren in den Magnetresonanztomografen. Allen sechs Probanden war während ihrer Kindheit wegen schwerer epileptischer Anfälle eine Hemisphäre entfernt worden. Die Forscherinnen und Forscher untersuchten diverse Hirnfunktionen, darunter auch, wie gut die einzelnen Areale zusammenarbeiteten. Dabei stellten sie kaum Unterschiede zu Kontrollprobanden mit vollständigem Gehirn fest.
Die Bedeutung von Training und Übung
Die neue Vorstellung, das Gehirn sei formbar wie Knete, unterscheidet sich radikal von jener Sicht, wie sie von vielen Behandlern noch immer vertreten wird: Ihnen zufolge ist es eine starre Struktur, auf die man hauptsächlich mit Medikamenten, weniger aber mit Training einwirken kann. Miltner: "Es wird nicht lange und intensiv genug therapiert."
Psychologen haben einen Trick gefunden, der genau dieses Vermeidungsverhalten durchkreuzt. Dazu lassen sie je vier sprachgestörte Patienten ein Spiel spielen, bei dem es darum geht, Karten zu sammeln, auf denen Objekte abgebildet sind. Am Anfang der Spielserie sind Umschreibungen erlaubt.
Die Rolle der Hirnregionen bei der Kompensation
Hartwigsen und ihr Team haben in einer Studie einen neuen Weg beobachtet, durch den es dem Gehirn gelungen ist, eine Störung in einem speziellen Netzwerk auszugleichen: Nachdem das Netzwerk gestört war, in dem die Bedeutung der Sprache verarbeitet wird, hatte das Gehirn benachbarte Regionen aktiviert, die eigentlich für andere Funktionen zuständig sind. Dieses zusätzlich engagierte Netzwerk war vor allem für die Verarbeitung von allgemeinen kognitiven Prozesse wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis oder kognitiver Kontrolle zuständig, d.h. für die Fähigkeit, Prozesse überwachen und kontrolliert auswählen zu können. Durch diese zusätzlich aktivierten Kontrollprozesse konnte die Sprachverarbeitung weiterhin weitgehend unbeeinträchtigt ablaufen. Die Wissenschaftler vermuten daher, dass eine spezifische Störung ausgeglichen werden kann, indem das Gehirn allgemeine geistige Ressourcen vermehrt bereitstellt.
Das Modell der Kompensation
Dieses Modell basiert im Wesentlichen auf Studien, in denen bei Probanden mithilfe der sogenannten transkraniellen Hirnstimulation bestimmte Hirnareale mittels elektrischer Reize gezielt kurzzeitig gestört wurden. Basierend auf ihren Studien nimmt die Neurowissenschaftlerin an, dass das für spezifische geistige Fähigkeiten wie die Sprache generell auf zwei Wegen funktionieren kann: Einerseits können andere, noch intakte Hirnareale im selben Netzwerk einspringen, die auf die gleiche Funktion spezialisiert sind. Andererseits kann das auch durch die Aktivierung von Arealen eines benachbarten Netzwerks geschehen.
Selbstheilung des Gehirns: Ein Plädoyer für die Plastizität
Norman Doidge betrachtet das Gehirn als plastisches Organ, das sich selbst heilen kann, wenn es die Gelegenheit dazu erhält. Er beschreibt Fälle von Patienten, die schwere Sehstörungen oder die Folgen eines Schlaganfalls durch bewusstes Training, durch kalte Laserbestrahlung oder Übungen und Berührungen, die die Körperwahrnehmung verbessern, überwunden haben.
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