Die Sixtinische Kapelle im Vatikan ist ein Meisterwerk der Renaissancekunst und zieht seit über 500 Jahren Besucher aus aller Welt an. Vor allem die Deckenfresken Michelangelos haben die Kapelle berühmt gemacht. Dieser Artikel bietet eine kunsthistorische Analyse der Sixtinischen Kapelle, wobei insbesondere Michelangelos Werk und seine Bedeutung im Kontext der Kunstgeschichte betrachtet werden.
Michelangelos Auftrag und seine Hintergründe
Michelangelos Annahme des Auftrags zur Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle wurde in der kunstgeschichtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts oft als ein Kraftakt dargestellt. Dabei wurde betont, wie er die widrigen Umstände des Juliusgrabmals in einen Triumph verwandelte. Condivi und Vasari schilderten den Auftrag Julius' II. für die Sixtinische Decke als ein Komplott Bramantes, der Michelangelos vermeintliche Unfähigkeit als Maler bloßstellen wollte, um seinem Landsmann Raffael eine Chance zu verschaffen. Unabhängig von der Wahrheit dieser Darstellung zeigt sie, dass Julius II. großes Interesse an der Ausmalung der Decke hatte.
Michelangelo selbst vermerkte in seinem „Hausbuch“ am 8. Mai 1508 den Erhalt von 500 Kammerdukaten von Julius II. als Anzahlung für die Ausmalung der Decke. Zunächst engagierte Michelangelo Gehilfen und Freunde aus Florenz, um ihn zu unterstützen, sobald er die Kartons fertiggestellt hatte. Er hoffte, von ihnen die Technik der Freskomalerei zu erlernen, in der er unerfahren war. Doch als er sah, dass ihre Bemühungen ihn nicht zufriedenstellten, beschloss er, alles abzuschlagen, was sie geschaffen hatten. Vasari und Condivi zufolge führte er das Werk dann mit großem Einsatz innerhalb von zwanzig Monaten und nur mit den für die Herstellung des Putzes nötigen Handlangern (garzoni) aus.
Die Deckenmalerei: Konzeption und Ausführung
Die mehr als 1000 m² umfassende Malerei, bestehend aus 175 Bildeinheiten und ca. 570 Tagwerken, gilt nach der letzten Restaurierung als weitgehend eigenhändig, nicht aber die Scheinarchitekturen, die Ornamente und Nebenfiguren der Lünetten. Laut Condivi und Vasari kam es bei der Errichtung des Malgerüstes zu einer erneuten Konfrontation mit Bramante, dem es in seiner Position als Palastarchitekt oblag, das Gerüst zu konstruieren, zu dessen Befestigung er Löcher ins Gewölbe schlagen ließ. Michelangelo konzipierte daraufhin ein freitragendes Gerüst, das auf dem Konstruktionsprinzip der Brücke basierte und dessen Prinzip während der Restaurierungen der Decke in den 1980er Jahren weitgehend rekonstruiert werden konnte.
Nach diesen Vorarbeiten begann Michelangelo im Januar 1509 auf der Eingangsseite der Kapelle mit der Ausmalung. Er arbeitete dabei gegen den chronologischen Ablauf der darzustellenden Ereignisse der Genesis, was ein detailliertes Konzept voraussetzt. Im Herbst des gleichen Jahres war bereits der erste Abschnitt fertig, der vermutlich aus den drei Noah-Geschichten und den dazu gehörigen Sehern und nackten Jünglingen (ignudi) besteht. Condivi zufolge verlangte der Papst zu diesem Zeitpunkt, die bis dahin vollendeten Gemälde zu sehen. Danach habe Michelangelo seinen bis dahin eher kleinteiligen Stil geändert, um die Ausführung zu beschleunigen. Der zweite Teil des zentralen Gewölbes, der im August 1510 beendet wurde, aber erst ein Jahr später enthüllt wurde, dürfte anders als bisher angenommen, die gesamte Decke mit allen Szenen, Ignudi und Propheten und Sibyllen umfasst haben. Im September 1511 begann Michelangelo mit dem zweiten Teil, der im Oktober 1512 vollendet war. Ihm gehören die z. T.
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Inhaltliche Konzeption und theologische Bedeutung
In einem Bericht von 1523 schreibt Michelangelo über die Anfänge der Arbeit an der Sixtinischen Decke: „Der erste Entwurf zu diesem Werk waren die zwölf Apostel in den Lünetten und im Übrigen eine bestimmte Aufteilung mit Ornamenten, wie es gebräuchlich ist. Nachdem ich das Werk angefangen hatte, schien es mir ein ärmliches Ding zu werden, und ich sagte zum Papst, dass eine ärmliche Sache dabei herauskäme, wenn man nur die Apostel malen würde, Er fragte mich: warum: ich sagte ihm »Weil auch sie arm waren«. Darauf gab er mir einen neuen Auftrag, ich könnte so arbeiten, wie ich wolle, er würde mich schon zufrieden stellen, und ich sollte bis zu den unteren Historien malen.“ Im ersten Entwurf für die Decke sollten die von Julius II. verlangten Apostel in den Zwickeln zwischen den Schildbögen sitzen, die in der ausgeführten Decke von den Propheten und Sybillen eingenommen werden.
Michelangelo griff den älteren Bestand nicht an, was dafür spricht, dass eine Schmälerung der bestehenden Ausmalung damals noch nicht zur Debatte stand, auch weil Julius II. eine Beeinträchtigung dieser großartigsten Schöpfung seines Onkels Sixtus’ IV. kaum hingenommen hätte. Den durch die Generation seiner Lehrmeister bemalten Wänden der Kapelle „stülpte“ Michelangelo eine Scheinarchitektur über, die eine optische Erhöhung des flachen Muldengewölbes bewirkt, wodurch die Distanz zu dem älteren Gemäldezyklus auf den Wänden vergrößert wird. Dadurch befindet sich die Decke gegenüber den Wänden in einer Art von „Schwebezustand“.
Um die historische Tragweite der Gestaltung der Sixtinischen Decke zu ermessen, muss man sich vor Augen führen, dass Decken und Gewölbe bis dahin fast ausschließlich zur Simulierung von Himmel und zur Aufnahme von einzelnen Wesen gedient hatten, die der himmlischen Sphäre zugehören. Im sakralen Bereich gibt es nur wenige ältere, mit szenischen Kompositionen versehene Decken oder Gewölbe.
Die Sixtinische Kapelle als Spiegel Michelangelos Psyche
Brieflich schilderte er seine tiefe körperlicher Erschöpfung über das Malen in Zwangshaltung ständig über Kopf, wenn es „dem Pinsel über dem Gesicht gefällt, spielerisch ein reiches Mosaik zu klecksen“. Außerdem sei die Freskomalerei, obwohl bei Ghirlandaio in der Lehrzeit gelernt, nicht sein eigentliches Metier. Und dann begannen auch noch bereits fertiggestellte Gemälde auf der Wand an zu schimmeln, was aber nicht an falscher Maltechnik, sondern an ungeeigneter Grundierung lag und korrigiert werden konnte. Freudlosigkeit und Vereinsamung drohten. Die 20 Ignudi dagegen schweben in „idealer ungetrübter Existenz“ und Nacktheit über dem Gesims und präsentieren die Eicheln ihrer Genitalien direkt neben den in Girlanden gemalten Eicheln von Eichen. Die freie erotische Körperlichkeit wird auch deutlich, wenn Gott die Vegetation der Erde schafft und dabei dem Betrachter sein entblößtes Hinterteil darbietet, wenn Adam und Eva im Paradies nicht nur mit dem Apfel der Ursünde frönen oder die Söhne Noahs ihren betrunkenen Vater finden. Kein Wunder, daß der prüde niederländische Papst Hadrian VI. später von einem „Dampfbad der Nackten“ sprach und die Sistina am liebsten abgerissen hätte.
Das Jüngste Gericht: Eine kontroverse Darstellung
Mit seinem Vision vom Jüngsten Gericht hat Michelangelo alle älteren Verbildlichungen dieses seit dem Mittelalter zentralen Themas der christlichen Kunst übertrumpft. Das rahmenlose Riesenbild entfaltet sich oberhalb einer schmalen und kargen Landschaft am unteren Bildrand, in der die Toten aus den Gräbern steigen und sich gemäß der Vision des Hesekielmit Fleisch und Haut bedecken, als blauer und unendlicher Himmelsraum, der von den stark bewegten und sich zu kleineren und größeren Gruppen ballenden Figuren bevölkert ist. Diese Gruppen ordnen sich einem kompositionellen System ein, dessen vier Zonen auf die Gliederung der Kapellenwände Rücksicht nehmen. So schließt der von links nach rechts zu betrachtende untere Bereich mit den Auferstehenden, der Vorhölle, dem Styx und den Verdammten etwa auf der Höhe des unteren Gesimses der Wandgliederung ab. Die zweite Zone, die den aufschwebenden Seligen (links), den sieben Posaunenengeln in der Mitte und den zur Hölle Herabstürzenden auf der rechten Seite gehört, entspricht in etwa der Zone der Historienbilder. Die dritte Zone mit einer großen Anzahl von dicht gedrängten Gruppen, die sich stehend, sitzend und schwebend um den in einer Lichtaureole erscheinenden Weltenrichter scharen, umfasst den Bereich der Fenster mit den Papstbildnissen, während die beiden lünettenförmigen Abschlüsse der Wand, in denen Engel mit den Leidenswerkzeugen (Arma Christi) dargestellt sind, mit den Lünetten der Wände auf der Höhe der Vorahnen Christi korrespondieren.
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Michelangelo löst sich mit dieser Anordnung weitgehend von dem hierarchisch geordneten Prinzip, das bis dahin die monumentalen Gerichtsdarstellungen der italienischen Malerei bestimmt hatte. Aufgehoben ist vor allem die traditionelle Trennung der als Vier letzte Dinge bezeichneten Geschehnisse am Weltenende (Tod, Gericht, Himmel und Hölle). Auch noch in Signorellis Cappella Nuova im Dom von Orvieto von 1499-1503 ist die Trennung der Geschehnisse in einzelne Szenen beibehalten. Während dort aber die Bewohner des Himmels, die sich im Gewölbe um den Weltenrichter gruppieren, klar nach Kategorien getrennt sind (Engel, Propheten, Apostel, Patriarchen, Kirchenväter, Märtyrer, Jungfrauen), hebt Michelangelo die „Standesordnung“ der Bewohner des Himmels auf und begnügt sich damit, wenige Protagonisten (Maria, Johannes d. T., Petrus, Paulus, Laurentius, Bartholomäus u.a.) durch Attribute zu kennzeichnen.
Unterhalb der mittleren Konsole und des Propheten Jonas befindet sich genau auf der Mittelachse des Bildfeldes die zentrale Figur des halb stehenden, halb sitzenden und halb schreitenden Weltenrichters, dessen sowohl drohend wie besänftigend erscheinende Rechte sich zu den auf der rechten Seite Versammelten wendet. Unter ihnen fallen einzelne Figuren durch ihre Größe auf: von rechts naht der heilige Petrus mit den beiden Schlüsseln, die er in Umkehrung der Schlüsselübergabe, mit der die Stellvertreterrolle des Papstes begründet wurde, nun am Zeitenende wieder Christus überantwortet. Unter ihm sind der Diakon Laurentius und Bartholomäus zu sehen, der die Züge Papst Clemens‘ VII. trägtund dessen Attribut seine abgezogene Haut ist, auf der sich Michelangelo porträtiert hat.
Eng an Christus geschmiegt ist die Muttergottes, die ihre Blicke auf die linken Gruppen richtet, unter denen sich viele Frauen befinden und die von Andreas und Johannes dem Täufer angeführt werden. Mit der Präsenz Mariens und des Täufers verbindet sich das für Gerichtsdarstellungen traditionelle Motiv der Fürbitte (Deesis). Die vierte Zone ist mit zwei Engelsgruppen gefüllt, welche die sogenannten Leidenswerkzeuge tragen, also Gegenstände, die auf die einzelnen Stationen der Passion verweisen, deren körperliche Zeichen der Körper Christi in Gestalt der Fußnagellöcher und der Seitenwunde zeigt, auf die seine linke Hand deutet. Wie unkonventionell Michelangelos Interpretation ist, zeigt sich auch an anderen ikonographischen Details. So ist der Erzengel Michael, der als Seelenwäger einer der prominentesten Akteure der traditionellen Ikonographie des Jüngsten Gerichtes, hier nicht in der üblichen Weise charakterisiert. Statt seiner findet sich in der Gruppe der Sieben Posaunenengel auf einer Wolke in der Mitte zwischen den Auferstehenden und den Verdammten ein Engel mit dem Buch des Lebens und den Namen der Auserwählten (Off. Joh. 20:15). Ein zweiter Engel, auch er wie alle anderen Engel ohne Flügel, sitzt neben ihm und zeigt das sehr viel größere Buch vor, das die Namen der Verdammten enthält. Rechts neben ihnen sind die Sieben Todsünden als nackte athletische Figuren dargestellt, die die Verdammten herabziehen. Auch die Höllenvision weicht von der gängigen Tradition ab: im Rückgriff auf Dantes „Inferno“ ist unten rechts der Kahn des mythischen Fährmanns Charon zu sehen, in dem sich die von den Teufeln herabgezerrten Verdammten türmen.
Die Resonanz der Öffentlichkeit auf das ungeheuerliche Schauspiel des Weltendes, das Michelangelo in einem der wichtigsten Orte des päpstlichen Selbstverständnisses entfaltet hat, war gemischt aus Verstörung und Bewunderung für die künstlerische Virtuosität. Die Kritik, vor allem jene aus kirchlichen Kreisen, richtete sich gegen die Verletzung des decorum in der Darstellung von heiligen Gestalten als Aktfiguren sowie die dem Kanon widersprechende Auffassung des Weltenrichters als furchteinflößender athletischer Heros. Auf Vorwürfen dieser Art basierten die 1563 gefassten Beschlüsse des Trienter Konzils zur Frage der religiösen Bilderpraxis.
Die "Sixtinische Madonna" von Raffael
Die "Sixtinische Madonna" von Raffael ist ein weiteres bedeutendes Kunstwerk, das ursprünglich als Altarbild für die Klosterkirche in San Sisto gemalt wurde. Im 18. Jahrhundert wurde das Werk nach Dresden überführt und gilt als eines der zentralen Werke in der Alten Gemäldegalerie. Maria wird als leibhaftige Erscheinung in voller menschlicher Gestalt und Größe dargestellt, wobei der Zustand zwischen einer schwebenden und einer vorwärts schreitenden Bewegung ihre göttliche Erhabenheit unterstreicht.
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