Stressentstehung im Gehirn: Definition, Mechanismen und Auswirkungen

Stress ist ein allgegenwärtiges Phänomen des modernen Lebens. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse leidet rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung häufig unter Stress (Techniker Krankenkasse 2021). Frauen sind im Durchschnitt stärker betroffen als Männer und auch Kinder und Jugendliche berichten zunehmend über Stress. Obwohl er oft negativ konnotiert ist, ist Stress an sich nicht schädlich. Er ist ein evolutionär betrachtet lebenswichtige Aktivierung des Organismus in Bedrohungssituationen und hilft uns dabei, belastende Situationen zu bewältigen und uns an Veränderungen anzupassen. Die evolutionär betrachtet lebenswichtige Aktivierung des Organismus in Bedrohungssituationen ist heutzutage häufig mit negativen Auswirkungen für Körper und Psyche verbunden. Problematisch wird es, wenn Stress zum Dauerzustand wird. Dieser Artikel beleuchtet, wie Stress im Gehirn entsteht, welche Mechanismen dabei ablaufen und welche Auswirkungen anhaltender Stress auf unsere Gesundheit hat.

Definition von Stress

Unter Stress versteht man die starke Beanspruchung eines Organismus durch innere oder äußere Reize. Diese als Stressoren bezeichnete Reize stören das innere Gleichgewicht des Organismus (Homöostase) und erfordern von ihm eine Anpassungsreaktion. Sie führen zu einem typischen Reaktionsmuster, das den Organismus kurzfristig besonders leistungsfähig macht und ihn befähigen soll, die herausfordernde Situation zu meistern. Die meisten Menschen verbinden mit dem Wort Stress negative Einflüsse, wie z. B. zwischenmenschliche Konflikte oder Zeitdruck. Dieser sogenannte Disstress beschreibt einen unangenehmen Zustand, bei dem es der Person nicht vollständig gelingt, die Situation zu bewältigen. Disstress wird als Belastung empfunden und ruft Angst und Hilflosigkeit hervor. Im Gegensatz dazu gibt es auch positiven Stress (Eustress). Er wird als Herausforderung empfunden und motiviert zum aktiven, gestaltenden Handeln.

Die Unterscheidung zwischen Dis- und Eustress macht deutlich, dass Herausforderungen nicht per se negativ sind, sondern durch das Erleben und Bewerten der Person ihre Bedeutung erhalten. Durch ihre individuellen Motive, Einstellungen und Bewertungen, mit denen eine Person an Herausforderungen herangeht, beeinflusst sie, wie stark das Stresserleben und damit die körperliche Stressreaktion ausfällt (vgl. Kaluza 2018).

Wie Stress im Gehirn entsteht

Die Stressreaktion entsteht im Gehirn und wird durch die innere Bewertung äußerer Reize ausgelöst. Im Falle einer Aktivierung wird der Organismus „bis zur letzten Zelle“ über das Nerven- und Hormonsystem in einen Alarmzustand versetzt. Die sog. Stressreaktion wurde vom Begründer der Stresskonzepts Prof. Hans Selye erforscht und erstmals beschrieben. Selye setzte Versuchstiere unterschiedlichen Extrembelastungen aus. Bei den Belastungen handelte es sich um Reize wie Infektion, Vergiftung, Trauma, nervöse Beanspruchung, Hitze, Kälte, Muskelanstrengung oder Röntgenstrahlung. Seit der Erstbeschreibung der Stressreaktion von Selye in den 50er Jahren wurde die Pathophysiologie der Stressreaktion immer weiter erforscht. So wurden die Untersuchungen von Selye vorwiegend an Versuchstieren durchgeführt und die Befunde sind aus heutiger Sicht relativ grob.

Der Einfluss von Stress auf körperliche und psychische Prozesse ist erheblich. Dabei entsteht Stress im Gehirn. Wenn die vorhandenen Bewältigungsmechanismen subjektiv nicht der anstehenden Herausforderung entspricht entsteht Stress. So kann ein und derselbe Reiz für die eine Person eine angenehme Herausforderung darstellen und für eine andere Person eine Bedrohung.

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Die Rolle der Amygdala

Eine sehr wichtige Hirnregion für unser Stresserleben ist die Amygdala, das Angstzentrum unseres Gehirns. Sie spielt eine große Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen. Hier ist vor allem die Entstehung von Wut und Angstgefühlen verankert. Die Amygdala wird aktiv, sobald unser Gehirn eine Situation als neu oder potenziell gefährlich interpretiert. Die Amygdala nimmt Informationen über die Sinnesorgane auf und bewertet diese anschließend. Immer dann, wenn eine Person etwas als ungewöhnlich einstuft, aktiviert die Amygdala ihre Nervenzellen. Überschreitet die Nervenaktivität eine bestimmte Schwelle, leitet sie die Ausschüttung von Stresshormonen und somit die Stressreaktion ein. Die Amygdala schüttet die Stresshormone aber nicht selbst aus, sondern informiert die Nebenniere mithilfe des sympathischen Nervensystems und des Hypothalamus über die drohende Gefahr - die Nebenniere setzt dann die Stresshormone frei.

Zwei Wege der Stressreaktion

Um die Kampf- und Fluchtreaktion auszulösen, nutzt die Amygdala zwei Wege. Der schnellere Weg läuft über das sogenannte sympathische Nervensystem, das den Körper auf Aktivität einstimmt. Etwas langsamer ist der Weg über den Hypothalamus. Der Hypothalamus ist ein komplexes Gebilde im Zwischenhirn, das grundlegende Funktionen unseres Körpers steuert. Für die Stressreaktion setzt er eine ganze Kaskade von Hormonen in Gang.

Der schnelle Weg: Das sympathische Nervensystem

Über die Nervenstränge des sympathische Nervensystem im Rückenmark gelangt die Information "Gefahr" zum Mark der Nebenniere. Dort werden Adrenalin und - in geringerem Maß - Noradrenalin ausgeschüttet. Diese Hormone nennt man auch Katecholamine. Sie treiben zum Beispiel den Herzschlag und den Blutdruck in die Höhe, sorgen für eine größere Spannung der Muskeln und bewirken, dass mehr Blutzucker freigesetzt wird, so dass die Muskelzellen besser versorgt werden können.

Der "langsame" Weg über den Hypothalamus

Parallel informiert die Amygdala den Hypothalamus, dass Gefahr im Verzug ist. Der Hypothalamus schüttet hormonelle Botenstoffe aus, unter anderem das Corticotropin-releasing-Hormon. Dieses Hormon wirkt auf die Hirnanhangdrüse im Gehirn - auch Hypophyse genannt. Es sorgt dafür, dass sie ein weiteres Hormon freisetzt, das Adrenocorticotropin, kurz ACTH. Es gelangt mit dem Blut zur Rinde der Nebenniere und veranlasst diese, das Stresshormon Kortisol auszuschütten. Kortisol ist ein lebenswichtiges Glukokortikoid, das auch viele andere Funktionen im Körper hat. Ist es im Übermaß vorhanden, kann es den Körper aber auch schädigen. Zusammen sorgen die Hormone und das sympathische Nervensystem dafür, dass unser Körper mehr Sauerstoff und Energie bekommt, um schnell zu handeln.

Was die Hormone bewirken

Die Ausschüttung von Stresshormonen führt zu einer Reihe von körperlichen Reaktionen:

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  • Der Atem beschleunigt sich
  • Puls und Blutdruck steigen an
  • Die Leber produziert mehr Blutzucker
  • Die Milz schwemmt mehr rote Blutkörperchen aus, die den Sauerstoff zu den Muskeln transportieren
  • Die Adern in den Muskeln weiten sich. Dadurch werden die Muskeln besser durchblutet
  • Der Muskeltonus steigt. Das führt oft zu Verspannungen. Auch Zittern, Fußwippen und Zähneknirschen hängt damit zusammen
  • Das Blut gerinnt schneller. Damit schützt sich der Körper vor Blutverlust
  • Die Zellen produzieren Botenstoffe, die für die Immunabwehr wichtig sind
  • Verdauung und Sexualfunktionen gehen zurück. Das spart Energie

Auswirkungen von Stress auf das Gehirn

Wenn Stress über lange Zeit oder sehr häufig auftritt, gerät unser Körper aus seinem natürlichen Gleichgewicht. Anhaltender Stress führt dazu, dass sich bestimmte Zellen in der Amygdala stärker vermehren und die neuronalen Verbindungen zu anderen Hirnregionen gestärkt werden. Die Amygdala wird dann schneller überstimuliert. Wir fühlen uns überfordert und hilflos, werden nervös und reizbar. Immer mehr Erinnerungen werden so mit Angst und Gefahr verbunden. Dadurch bleibt der Cortisolspiegel konstant hoch. Wenn der Körper dauerhaft auf Gefahr eingestellt ist, hemmt das Gehirn Funktionen, die bei akuter Gefahr nicht notwendig sind.

Wenn die Amygdala durch dauerhaften Stress überstimuliert wird, beeinträchtigt das auch die Funktion anderer Bereiche im Gehirn. Im Hippocampus, der unter anderem für Lernen und Erinnern zuständig ist, werden dadurch weniger Gehirnzellen produziert. Das wirkt sich negativ auf unser Gedächtnis aus.

Die Amygdala ist auch mit dem präfrontalen Cortex eng verbunden. Er ist wichtig für die Kontrolle von Emotionen und beeinflusst unser Verhalten. Dauerstress führt dazu, dass hier Nervenverbindungen verloren gehen. Unser Urteilsvermögen ist beeinträchtigt und durch die Überaktivierung der Amygdala werden Situationen emotionaler bewertet als üblich.

Langanhaltender Stress bringt unser neuronales Netzwerk aus dem Gleichgewicht und kann zu dauerhaften Veränderungen in unserer Hirnstruktur führen. Die Amygdala wird größer, der Hippocampus und der präfrontale Kortex schrumpfen. Das ebnet den Weg für eine Reihe an körperlichen und psychischen Beschwerden. Wir fühlen uns erschöpft, gereizt und überfordert. Wir schlafen schlecht und werden vergesslich.

Stress und Gedächtnis

Die Amygdala setzt nicht nur die Stressreaktion in Gang. Sie veranlasst auch eine bedeutende Gedächtnisregion im Gehirn, den ganz in der Nähe gelegenen Hippocampus, sich die stressauslösende Situation gut zu merken. Auf diese Weise lernen wir, uns vor dem Stressor in Acht zu nehmen. Kommen wir erneut in eine derartige Situation, läuft die Stressreaktion noch schneller ab. Forschungen haben gezeigt, dass chronischer Stress die Zellfortsätze im Hippocampus schädigen kann. Sie sind Teil der Nervenzelle und wichtig für die Aufnahme von Information. Schrumpfen sie, wirkt sich das negativ auf das Gedächtnis aus.

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Denken und Stress

Auch mit dem "denkenden" Teil des Gehirns ist die Amygdala eng verbunden, vor allem mit einem stammesgeschichtlich jüngeren Teil unseres Hirns, dem Stirnlappen. Er ist wichtig für die Kontrolle der Emotionen. Wie der Name sagt, sitzt er hinter der Stirn. Er wird auch präfrontaler Cortex genannt. Mit seiner Hilfe können wir durch logische Analyse und Denken unsere Emotionen beeinflussen. Er spielt eine große Rolle bei der Bewertung, ob wir einen Stressor für bewältigbar halten oder nicht, und für unser Verhalten in der stressigen Situation. Chronischer Stress allerdings kann den präfrontalen Cortex verändern, so dass es schwieriger wird, sinnvolle Entscheidungen zu treffen.

Eingebaute Stressbremse

Zum Glück regen wir uns meistens nach Stress auch wieder ab. Dabei hilft eine eingebaute Stressbremse. Ist nämlich das Stresshormon Kortisol in ausreichendem Maß im Blut vorhanden, merken das bestimmte Rezeptoren im Drüsensystem und im Gehirn, die Glucocorticoidrezeptoren. Daraufhin stoppt die Nebennierenrinde die Produktion von weiterem Kortisol. Das parasympathische Nervensystem - der Teil des Nervensystems, der unseren Körper zur Ruhe kommen lässt - wird aktiv. Wir werden wieder ruhiger und entspannen uns.

Wenn die Hormone aus dem Ruder laufen

Anders sieht es aus, wenn das Zusammenspiel der Hormone nicht optimal funktioniert. Zum Beispiel, wenn nicht genug Rezeptoren vorhanden sind, die merken könnten, dass genug Kortisol vorhanden ist. Oder wenn die vorhandenen Rezeptoren nicht richtig arbeiten. Dann wird die Achse aus Hypothalamus, Hirnanhangdrüse und Nebenniere zu aktiv. Sie produziert zu viel Kortisol.

So etwas kann in schlimmen Fällen zu Denkstörungen, zu Gewebeschwund im Hirn und zu Störungen des Immunsystems führen. Auch die Entstehung von Depressionen wird auf diesen Einfluss zurückgeführt, ebenso Stoffwechselstörungen, die Diabetes fördern.

Frühe traumatische Erfahrungen beeinflussen die Stressreaktion

Intensiver Stress in der frühen Kindheit kann die Arbeitsweise von Genen, die an der Stressreaktion beteiligt sind, so beeinflussen, dass Stresshormone schneller und intensiver ausgeschüttet werden. Das wiesen Neurowissenschaftler aus dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München an Tieren nach. Dieser Effekt bleibt lebenslang bestehen. Ähnliche Ergebnisse scheint es unter bestimmten genetischen Bedingungen auch bei Menschen zu geben, die ein Trauma erlebt haben, etwa durch eine Naturkatastrophe, durch Missbrauch oder durch Gewalt.

Stressauslösende Reize (Stressoren)

Folgt man dem Transaktionalen Stressmodell (siehe Psychologische Stressmodelle in diesem Beitrag) wird deutlich, dass Reize nicht bei jeder Person gleichermaßen Stress auslösen. Es existieren jedoch Reize, die unabhängig von der jeweiligen subjektiven Bewertung von vielen Menschen als stresshaft erlebt werden. Dazu gehören physische und psychosoziale Belastungen ebenso wie sogenannte Life events (siehe Tab. 1). Hierbei handelt es sich um lebensverändernde Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, eine schwere Krankheit oder Verlust eines nahen Angehörigen, die intensive Anpassungsleistungen vom Organismus erfordern. Auch tägliche Ärgernisse (Daily hassles) können zu Stressreaktionen führen, wenn sie gehäuft oder dauerhaft auftreten.

Die Bedeutung eines Stressors wird durch seine Intensität, Häufigkeit, Dauer, Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit bestimmt. Treten mehrere Stressoren zeitgleich auf, können sie sich in ihrer Wirkung potenzieren. Stressoren-Listen, die durch Aufsummieren einzelner Stressoren die Stressbelastung ableiten wie die Social Readjustment Rating Scale, greifen jedoch zu kurz, da sie individuelle und soziale Faktoren zu wenig berücksichtigen.

  • Physikalisch-sensorische Stressoren
    • Lärm
    • Hitze, Kälte
    • Nässe
    • Reizüberflutung
  • Körperliche Stressoren
    • Hunger, Durst
    • Schlafentzug
    • Verletzung, Schmerz
    • Starke Funktionseinschränkungen
  • Leistungs- und soziale Stressoren
    • Zeitdruck
    • Über- und Unterforderung
    • Konkurrenz
    • Zwischenmenschliche Konflikte
    • Isolation, Trennung
  • Lebensverändernde kritische Ereignisse (Life events)
    • Verlust von Bezugspersonen
    • Arbeitslosigkeit
    • Krankheit

Umgang mit Stress

Die gute Nachricht ist: die schädlichen Wirkungen von Stress auf unseren Körper und Geist scheinen weitgehend umkehrbar zu sein. Körperliche Aktivität, ausreichend Schlaf, eine ausgewogene Lebensweise und gezielte Entspannung durch Progressive Muskelentspannung oder Autogenes Training bringen deinen Hippocampus wieder in Schwung. Dabei unterstützen kann dich unser HelloBetter Stressbewältigungskurs. Hier lernst du verschiedene Strategien kennen, wie du im Alltag besser mit Stress und seinen Folgen umgehen kannst.

Es ist wichtig, regelmäßig positive Aktivitäten in den Alltag einzubauen. Dazu können körperliche Aktivitäten wie Spaziergänge, Gartenarbeit oder Sport zählen. Unser Körper ist darauf eingerichtet, uns so gut wie möglich vor Gefahren zu schützen.

Fazit

Stress entsteht im Gehirn als Reaktion auf wahrgenommene Bedrohungen oder Herausforderungen. Die Amygdala spielt dabei eine zentrale Rolle, indem sie die Stressreaktion initiiert und den Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Während akuter Stress uns helfen kann, mit schwierigen Situationen umzugehen, kann chronischer Stress negative Auswirkungen auf das Gehirn und den Körper haben. Glücklicherweise gibt es viele Möglichkeiten, Stress zu bewältigen und die schädlichen Auswirkungen zu reduzieren.

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