Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die durch das wiederholte Auftreten unprovozierter epileptischer Anfälle gekennzeichnet ist. Diese Anfälle entstehen durch plötzliche, abnormale elektrische Aktivität im Gehirn. Mehr als 3 % der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer Epilepsie, wobei ein Viertel der Neuerkrankungen Kinder betrifft. Mit optimaler Therapie können etwa 70 % der Patienten in Remission gebracht werden, und die meisten Patienten mit Epilepsie sind kognitiv normal entwickelt.
Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Klassifikation, Diagnostik und Therapie von Epilepsie, insbesondere unter Berücksichtigung der Leitlinien und Empfehlungen für die Behandlung.
Klassifikation von Anfallsformen und Epilepsiesyndromen
Die Klassifikation der verschiedenen Anfallsformen und Epilepsiesyndrome erfolgt nach den Maßgaben der "International League Against Epilepsy" (ILAE). Unterschieden werden hauptsächlich symptomatische Epilepsien mit erkennbarer Ursache und idiopathische Epilepsien mit genetischem Hintergrund, bei denen der Patient - mit Ausnahme der Epilepsie selbst - keine Symptome aufweist. Die Zuordnung der Epilepsiesyndrome erfolgt nach der vermuteten Ätiologie und der Anfallssymptomatik.
Wegweisende Klassifikationsvorschläge wurden in den Jahren 1981 und 1989 und kürzlich durch die internationale Fachgesellschaft „International League Against Epilepsy“ (ILAE, www.ilae-epilepsy.org) veröffentlicht.
Idiopathische Epilepsien
Als idiopathisch werden Epilepsiesyndrome bezeichnet, die einen genetischen Ursprung haben und bei denen die Betroffenen sonst neurologisch unauffällig sind. In den letzten Jahren konnten bei einer Vielzahl von Epilepsiesyndromen - oft in exemplarischen Großfamilien - Defekte verschiedener spannungsabhängiger und ligandenmediierter Ionenkanäle nachgewiesen werden. Dies stellt die meisten idiopathischen Epilepsien in eine Reihe mit paroxysmalen neuromuskulären Erkrankungen, den sogenannten Ionenkanalerkrankungen.
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Symptomatische Epilepsien
Als symptomatisch bezeichnet man Epilepsien mit belegbarer Ursache und als vermutlich symptomatisch (früher kryptogen) solche, bei denen ein Auslöser wahrscheinlich ist, aber nicht bewiesen werden kann. Symptomatische Epilepsien können entweder läsionell (z. B. Trauma, Tumor, Entzündung, Fehlbildung) oder durch genetische Systemerkrankungen verursacht sein.
Im klinischen Alltag relevante, das heißt häufige, idiopathische Epilepsiesyndrome sind durch das komplexe Zusammenspiel mehrerer genetischer Faktoren und die modifizierenden Einflüsse von Umweltfaktoren bedingt.
Ätiologie und Pathogenese
Die Ursachen von Epilepsie variieren abhängig vom Alter der Patient*innen. Kinder und Jugendliche häufiger angeborene, genetische Erkrankungen, Epilepsie-Syndrome und Geburtskomplikationen. Erwachsene häufiger strukturelle Ursachen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma, Schlaganfall, Hirntumoren, neurodegenerative Erkrankungen).
Die Ursache eines epileptischen Anfalls ist die pathologische Aktivität kortikaler Neurone. pathologische, exzessive Entladungen kortikaler Neurone (Paroxysmal Depolarization Shift). abnorme Synchronisation der Aktivität von Neuronenverbänden.
Eine Ausbreitung der abnormen Hirnaktivität auf benachbarte Areale ist möglich (sekundäre Generalisierung). Alterationen von Hirnstruktur und -physiologie bei bestimmten genetisch bedingten Epilepsien z. B. aufgrund von Störungen der neuronalen Ionenkanäle. bei erworbenen Epilepsien Reaktion des Gehirns auf unterschiedliche Veränderungen.
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Diagnostische Kriterien
Die Diagnose der Epilepsie erfolgt in der Regel retrospektiv auf der Basis von Eigen- und Fremdanamnese. Goldstandard in der Diagnosesicherung von epileptischen Anfällen: direkte Beobachtung mit simultaner Video-EEG-Registrierung.
Epilepsie liegt vor bei einem signifikant erhöhten Risiko für das Auftreten weiterer unprovozierter Anfälle. mindestens zwei unprovozierte Anfälle im Abstand von mehr als 24 Stunden. Ein unprovozierter Anfall und eine Wahrscheinlichkeit für weitere Anfälle, die dem allgemeinen Rezidivrisiko nach zwei unprovozierten Anfällen (mindestens 60 %) innerhalb der nächsten 10 Jahre entspricht. Entspricht dem Nachweis epilepsietypischer Potenziale im EEG und/oder einer potenziell epileptogenen Läsion im MRT.
Diagnose eines Epilepsiesyndroms z. B. Lennox-Gastaut-Syndrom oder West-Syndrom.
Anamnese
Eine Fremdanamnese ist von großer Bedeutung. nach Möglichkeit Videoaufnahmen des Anfallsereignis durch Dritte. Auslöser Schlafdefizit und Zusammenhang mit Schlaf-Wach-Rhythmus. Substanzkonsum. Aufstehen oder längeres Stehen bei Synkopen. psychische Belastungssituationen bei psychogenen, nicht-epileptischen Anfällen (PNEA). Prodromi bei fokalen Epilepsien oft Aurasymptomatik vor dem Anfallsereignis.
Klinische Untersuchung
Allgemeine klinische Untersuchung Zeichen einer möglichen Grunderkrankung akut-symptomatischer Anfälle. Vitalparameter (Temperatur, Blutdruck, Herzfrequenz). Klinisch-neurologische Untersuchung zwischen den Anfällen (interiktal) meist unauffälliger Untersuchungsbefund. Meningismus als Zeichen einer Meningitis bzw. Meningoenzephalitis. fokal-neurologische Defizite als Zeichen einer ZNS-Läsion Lähmungen (Paresen). Sensibilitätsstörungen. Sprach-/Sprechstörungen. Sehstörungen. Neglect.
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Differenzialdiagnosen
Es gibt Hinweise auf eine hohe Rate an Fehldiagnosen. Bei bis zu 1/3 der Fälle wird fälschlicherweise eine Epilepsie diagnostiziert.
Wichtige Differenzialdiagnosen epileptischer Anfälle sind:
- Synkopen (neurokardiogene Synkopen, Hyperventilationssynkopen, zwanghaftes Valsalva-Manöver, neurologische Synkopen, orthostatische Intoleranz/posturales orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS), Long-QT-Syndrom)
- Verhaltensstörungen, geistige und psychiatrische Störungen (Panikattacken, dissoziative Zustände, Halluzinationen bei psychiatrischen Störungen, psychogene nicht-epileptische Anfälle)
- Schlafbezogene Erkrankungen (hypnagoge Myoklonien (Einschlafmyoklonien), Non-REM-Parasomnien (z. B. Schlafwandeln), REM-Schlaf-Verhaltensstörung, periodische Beinbewegungen (PLMS), Narkolepsie-Kataplexie)
- Paroxysmale Bewegungsstörungen (Tics, Stereotypien, paroxysmale kinesiogene Dyskinesie)
- Weitere Differenzialdiagnosen (TIA oder Schlaganfall, Migräne (z. B. Migräne mit Hirnstammaura), Hypoglykämie, Rhythmusstörungen (z. B. höhergradiger AV-Block), Hyperventilation, Motorische Stereotypien, z. B. bei Autismus oder Intelligenzminderung)
Ergänzende Untersuchungen
Bei V. a. akut-symptomatische Anfälle durch z. B. metabolische oder infektiöse Ursache oder Erkennung unerwünschter Arzneimittelwirkungen:
- Hb, Blutbild
- BSG, CRP
- Blutzucker
- Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium
- Leberenzyme (GGT, AP, GOT, GPT)
- Kreatinin
- in Einzelfällen Vitamin D, Folsäure, Vitamin B12
- Alkoholkonsumparameter und/oder Drogenscreening
- Biomarker eines stattgehabten epileptischen Anfalls zur Abgrenzung von psychogenen nicht-epileptischen Anfällen (PNEA) und Synkopen
EKG 12-Kanal-EKG selten Arrhythmie als autonomes, kardiales Symptom epileptischer Anfälle vor und während der Therapie mit bestimmten Antisuppressiva.
EEG Spezifischste Methode in der Diagnostik der Epilepsien. Der Nachweis von epilepsietypischen Potenzialen (ETP) im interiktalen EEG nach einem ersten Anfall sichert die Diagnose Epilepsie.
Zerebrale Bildgebung CT Nachweis einer akut behandlungsbedürftigen Ursache (z. B. Hirnblutung). MRT Durchführung zeitnah (innerhalb weniger Tage nach dem ersten Anfall).
Therapie
Die medikamentöse Therapie wird in der Regel nach zwei unprovozierten epileptischen Anfällen eingeleitet.
Therapieziele
Als primäres Therapieziel wird die Anfallsfreiheit definiert, als weiteres Therapieziel die Vermeidung von beeinträchtigenden Nebenwirkungen durch Medikamente oder operative Behandlung.
Durchführung der Therapie
Es stehen eine Reihe von älteren und neueren Antikonvulsiva zur Verfügung, die nach individuellen Gesichtspunkten auszuwählen sind. Bei der Erstbehandlung wird in der Regel eine Monotherapie bis zum Sistieren der Anfälle oder Auftreten von Nebenwirkungen durchgeführt. Beim Versagen der ersten Monotherapie kann eine alternative Monotherapie und schließlich Kombinationsbehandlungen erwogen werden.
Die Behandlung mit Levetiracetam-Monotherapie und Zonisamid-Kombinationstherapie ist in den bisherigen Leitlinien noch nicht aufgeführt, da die Zulassung erst zwischenzeitlich erfolgte.
Medikamentöse Therapie im Kindesalter
Die wichtigsten altersgebundenen Epilepsiesyndrome bei Kindern und Jugendlichen:
- Mit Beginn im ersten Lebensjahr
- Benigne infantile Partialepilepsie (Ätiologie: idiopathisch)
- Dravet-Syndrom
- West-Syndrom (Ätiologie: symptomatisch oder kryptogen)
- Mit Beginn im frühen Kindesalter (etwa bis sechstes Lebensjahr)
- Frühkindliche Absenceepilepsie (Ätiologie: idiopathisch)
- Doose-Syndrom (Ätiologie: idiopathisch)
- Lennox-Gastaut-Syndrom (Ätiologie: symptomatisch oder kryptogen)
- Mit Beginn im Kindesalter (etwa bis 12. Lebensjahr)
- Absenceepilepsie des Kindesalters, sogenannte Pyknolepsie (Ätiologie: idiopathisch)
- Rolando-Epilepsie (Ätiologie: idiopathisch)
- Mit Beginn im Jugendlichenalter (ab etwa 13. Lebensjahr)
- Juvenile Absenceepilepsie (Ätiologie: idiopathisch)
- Epilepsie mit isolierten generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Ätiologie: idiopathisch)
- Juvenile myoklonische Epilepsie oder Janz-Syndrom (Ätiologie: idiopathisch)
Akut symptomatische Anfälle (ASA)
Unter akut symptomatischen Anfällen (ASA) versteht man epileptische Anfälle, die zeitnah zu einem auslösenden Ereignis auftreten. ASA sind also situations- und zeitgebunden. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Anfall und dem zugrunde liegenden Ereignis variiert entsprechend der Genese.
Die Ursachen der ASA sind mannigfaltig und reichen von vaskulären Ereignissen über Infektionen bis zu metabolisch/toxischen Ursachen.
Elektrolytentgleisungen beeinflussen neben anderen Organen und Strukturen auch direkt das Gehirn. Vor allem akut auftretende und schwere Elektrolytentgleisungen können ASA zugrunde liegen.
Eine Vielzahl von internistischen Erkrankungen und Störungen führt zu einer Hyponatriämie. Die häufigsten Ursachen sind dabei eine Verdünnungshyponatriämie oder eine übermäßige Wasseraufnahme.
Klassische klinische Manifestationen der Hypokalziämie sind Bewusstseinsstörungen und epileptische Anfälle. Grundsätzlich können bilateral tonisch-klonische Anfälle, generalisiert nichtmotorische, atypische Anfälle (atypische Absencen), fokale, bewusst erlebte, motorische Anfälle, nicht bewusst erlebte, nichtmotorische Anfälle bis hin zu non-konvulsiven Status epileptici auftreten.
Ein Diabetes mellitus (DM), unabhängig ob Typ I oder II, ist mit dem Auftreten von epileptischen Anfällen und mit Epilepsien assoziiert. Hyperglykämien führen immer wieder zu akut symptomatischen Anfällen. Eine nennenswerte Sonderform ist hierbei sicher die nichtketotische Hyperglykämie, die sich meist als fokal motorische Anfälle manifestiert. Hypoglykämien sind v. a. bei Neugeborenen und Kindern mit ASA verbunden, wobei hier die Gefahr der Entwicklung einer Epilepsie aufgrund von rezidivierenden neonatalen Hypoglykämien im Vordergrund steht.
Schilddrüsenhormone können die Erregungsbereitschaft im Gehirn steigern. Vor allem im Rahmen von thyreotoxischen Zuständen können in seltenen Fällen ASA auftreten.
Akute wie chronische Leberfunktionsstörungen führen oft zu weiteren neurologischen Komplikationen. Allen voran ist hierbei die hepatische Enzephalopathie zu nennen, die einen direkten Einfluss auf das Zerebrum hat.
In der Literatur findet sich kein Hinweis, dass Nierenfunktionseinschränkungen oder Niereninsuffizienzen direkt mit dem Auftreten von ASA zusammenhängen.
ASA treten bei systemischen Lupus erythematodes (SLE) meist im Rahmen einer systemischen Exazerbation auf.
Sowohl eine akute Alkoholintoxikation als auch der Alkoholentzug führen zu akut symptomatischen Anfällen.
Eine Vielzahl von meist illegalen Drogen können auch in niedrigen Dosen akut symptomatische Anfälle auslösen.
Es sind 1,4-14 % der ASA medikamentös-toxischer Genese. ASA können im Rahmen einer Überdosierung, aber auch bei Entzug auftreten. Neuroleptika und antipsychotische Medikamente sind mit einem vermehrten Auftreten von epileptischen Anfällen verknüpft.
Maßnahmen bei Anfällen
- 4 - 8 mg Lorazepam als Mittel der 1.
- Bei Anfallsserien in Abhängigkeit von individueller Situation Einsatz der gleichen Substanzen und Applikationswege wie beim Status epilepticus (ggf. 1 oder 2,5 mg Lorazepam s.l. keine rektale Diazepam-Gabe wegen Eingriffs in die Intimsphäre der Patient*innen, sofern andere genannte Alternativen verfügbar bzw.
- Nach akut-symptomatischen Anfall im Rahmen des Alkoholentzugssyndroms Gabe von 2 mg i.v.
- Niedrigschwellige unfallchirurgische Vorstellung nach bilateralen oder generalisierten tonisch-klonischen Anfällen und weiteren anamnestischen Angaben wie Stürzen oder Schmerzen, v.a.
Lebensführung
Beim Auftreten eines oder mehrerer Anfälle muss ergänzend zur medikamentösen Behandlung auch eine Regelung der Lebensführung erfolgen. Hierzu gehören Auslösefaktoren, wie Schlafmangel, aber auch die Vermeidung bestimmter Gefährdungssituationen.
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