Symptomatische Therapie der Multiplen Sklerose: Leitlinien und Empfehlungen

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen an MS erkrankt. Die Erkrankung tritt zumeist im jungen Erwachsenenalter auf, kann aber auch bei Kindern oder im höheren Erwachsenenalter erstmals auftreten. Die MS ist eine Erkrankung mit tausend Gesichtern, und ihr Verlauf ist individuell schwer vorherzusagen. Die Diagnose wird in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr gestellt. Weltweit gibt es fast drei Millionen Menschen mit MS, über 280.000 davon in Deutschland.

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat in Zusammenarbeit mit anderen deutschsprachigen Fachgesellschaften (ÖGN, SNG-SSN) und weiteren Organisationen eine vollständig überarbeitete und erweiterte Version ihrer Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen veröffentlicht. Diese Leitlinie trägt das S2k-Niveau, was bedeutet, dass sie von höherer Qualität ist als die vorangegangene Version, da eine systematische evidenzbasierte Recherche und Einordnung wissenschaftlicher Publikationen und Studien stattgefunden hat. Die neue Leitlinie berücksichtigt die revidierten Diagnosekriterien nach McDonald und erörtert ausführlich die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten in Schub-, Basis- und Eskalationstherapie. Sie stellt sämtliche verfügbaren MS-Therapeutika mit konkreten Anwendungshinweisen für die Praxis vor und widmet ein eigenes Kapitel der Therapie in Spezialsituationen wie Schwangerschaft oder Neuromyelitis optica. Erstmals umfasst die Leitlinie auch die symptomatische Therapie.

Ein wichtiger Aspekt der neuen Leitlinie ist die Betonung der Behandlung von Begleitsymptomen, die über die typischen Symptome der Schübe hinausgehen und teilweise unabhängig von der inflammatorischen Aktivität auftreten. Diesen Symptomen Aufmerksamkeit zu schenken, ist angesichts ihrer Häufigkeit und ihres Effekts auf die Lebensqualität ein wichtiger Bestandteil des Managements der MS. Begleitende Symptome der MS sollten daher mittels Screenings erkannt, gemessen und so gut wie möglich behandelt werden.

Symptomatische Therapie: Ein Überblick

Die symptomatische Therapie zielt darauf ab, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, indem die verschiedenen Symptome, die durch die MS verursacht werden, behandelt werden. Da die MS eine Vielzahl von Symptomen auslösen kann, ist die symptomatische Therapie ein wichtiger Bestandteil der Behandlung. Viele dieser Folgesymptome lassen sich medikamentös oder mit anderen Maßnahmen behandeln. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien. Zu den häufigsten Symptomen, die im Rahmen der symptomatischen Therapie behandelt werden, gehören:

  • Spastik
  • Paroxysmale Symptome
  • Ataxie und Tremor
  • Blasenstörungen

Im Folgenden werden die Empfehlungen der Leitlinie für die Behandlung dieser Symptome detaillierter dargestellt.

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Spastik

Die Spastik ist eine erhöhte Muskelspannung, die zu Steifheit und Verkrampfungen führen kann. Sie kann schmerzhaft sein und die Bewegungen zusätzlich stören. Laut Leitlinien-Empfehlung soll Spastizität mit einer multimodalen Strategie aus nicht medikamentösen und medikamentösen Maßnahmen angegangen werden.

Nicht-medikamentöse Maßnahmen

Dabei kommt zunächst der Physiotherapie besondere Bedeutung zu. So heißt es in Empfehlung D6 mit Konsens: „Neben der Vermeidung spastikauslösender Ursachen soll regelmäßige Physiotherapie (je nach individueller Situation 2-3x pro Woche, ggf.

Medikamentöse Maßnahmen

Wird mit den nicht medikamentösen Maßnahmen kein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht, stehen auch medikamentöse Optionen zur Verfügung. Zum Einsatz kommen können orale Antispastika (Baclofen, Tizanidin), die den spastischen Muskeltonus reduzieren. Darüber hinaus weist die Leitlinie auf die verbesserte Evidenzlage zu den Cannabinoiden und dabei besonders auf das in Österreich seit 2014 als Spray zur Add-on-Therapie der mittelschweren bis schweren Spastizität zugelassene Sativex® hin. Synthetisches THC wie Dronabinol oder Nabilon ist, ebenso wie Cannabisblüten, nicht zugelassen. Benzodiazepine, Dantrolen und Memantin spielen in der Behandlung von Spastizität bei MS keine Rolle mehr. In besonderen Fällen, etwa bei paroxysmaler Spastizität oder mangelndem Ansprechen, können auch andere Medikamente (Gabapentin) oder invasive Therapien indiziert sein. Konkret heißt es in Empfehlung D7 mit Konsens: „Bei funktionell beeinträchtigender Spastizität soll unterstützend eine medikamentöse Therapie mit oralen bzw. oromukosalen (‚add-on‘) Antispastika unter vorsichtiger Eindosierung (cave: Stützfunktion der Spastizität, Fatigue) angeboten werden, vorzugsweise in Absprache mit dem behandelnden Physiotherapeuten. Dabei soll mit Baclofen bzw. Tizanidin begonnen und ggf. kombiniert werden.

Paroxysmale Symptome

Paroxysmale Symptome sind überfallartig auftretende, kurze (maximal wenige Minuten dauernde), aber wiederkehrende Beschwerden. Meist handelt es sich um einschießende Schmerzen in einer bestimmten Körperregion, es kann sich aber auch um plötzliche Gefühls-, Sprech- oder Bewegungsstörungen handeln, seltener auch Juckreiz. Das häufigste paroxysmale Symptom ist die MS-bedingte Trigeminusneuralgie, die im Gegensatz zur „normalen Trigeminusneuralgie“ oft beidseitig auftritt. Außerdem werden das Lhermitte-Zeichen und das Uhthoff-Phänomen zu den paroxysmalen Symptomen gerechnet.

Paroxysmale Symptome werden durch verschiedene Reize ausgelöst: plötzliche Bewegungs- oder Haltungsänderungen, Sprechen, Lachen, Schlucken, heißes oder kaltes Essen und andere, können aber auch spontan entstehen.

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Therapieziele

Vermeidung der jeweiligen Symptome ohne Beeinträchtigung des Patienten durch die Therapie und damit Steigerung der Lebensqualität.

Nicht-medikamentöse Therapie

Es kann hilfreich sein, ein Tagebuch zu führen, um zu erkennen, in welchen Situationen paroxysmale Symptome auftreten. Unter Umständen lassen sich solche Situationen, wenn nicht vermeiden, so doch reduzieren.

Bei einem Uhthoff-Phänomen sollten Patienten Wärme meiden und kalte Duschen, kalte Getränke oder kühlende Kleidung (Westen, Stirnbänder etc.) einsetzen.

Medikamentöse Therapie

Die meisten paroxsymalen Symptome lassen sich gut mit Medikamenten behandeln. Eingesetzt werden Antiepileptika wie Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin, bei ausgeprägter Wärmeempfindlichkeit (Uhthoff-Phänomen) auch 4-Aminopyridin.

Verabreichungsform

  • Carbamazepin (unter anderem Finlepsin®, Sirtal®, Tegretal®, Timonil®): Tabletten, tägliche Dosis beginnend mit 100-300 mg, Steigerung bis 1200-1800 mg.
  • 4-Aminopyridin: Tabletten, tägliche Dosis: 3 x 5 bis 3 x 10 mg

Gegenanzeigen

  • Carbamazepin: Schwangerschaft.
  • Lamotrigin: Leberfunktionsstörungen.
  • 4-Aminopyridin: Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle.

Wirkweise

Alle genannten Medikamente beeinflussen die elektrisch-chemischen Abläufe im Gehirn; sie stabilisieren die Zellmembranen und hemmen offenbar die Reizübertragung zwischen Nerven.

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Nebenwirkungen

  • Carbamazepin: Benommenheit, Schwindel, Gangunsicherheit, Übelkeit, Doppelbilder. Die Wirkung der Antibabypille wird aufgehoben.
  • Gabapentin: Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtszunahme, Nervosität, Schlaflosigkeit.
  • Lamotrigin: Hautausschlag, Juckreiz, Kopfschmerzen, Schwindel, Doppeltsehen, Verschwommensehen, Müdigkeit, Schlafstörungen.
  • 4-Aminopyridin: Benommenheit, Übelkeit, Erbrechen, Missempfindungen.

Invasive Therapie

Schwere Fälle von Trigeminusneuralgie können mittels spezieller Operationen gebessert werden. Dabei wird der Trigeminus-Nerv entweder thermisch (Thermokoagulation des Ganglion Gasseri) oder chemisch (Glycerol-Injektion) teilweise ausgeschaltet. Diese Operationen können nur von ausgewiesenen Spezialisten durchgeführt werden.

Wissenswertes

Bei der Diagnose paroxsysmaler Symptome ist der Neurologe ausschließlich auf die Angaben des Patienten zu Art, Dauer, Auslöser, Ausbreitungsgebiet und Häufigkeit der Beschwerden angewiesen. Es ist daher sinnvoll, diese Angaben präzise in einem Tagebuch zu notieren und dem Arzt vorzulegen.

Wichtig

Moderne Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI) machen weder süchtig noch schränken sie das Reaktionsvermögen ein. Sie wirken erst nach zwei bis vier Wochen, aber: Nebenwirkungen können sofort auftreten.

Ataxie und Tremor

Die MS-bedingte Ataxie - auch ataktische Bewegungsstörung genannt - bezeichnet Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen: Das Zusammenspiel verschiedener Muskeln - vor allem der Arme und Beine, seltener des Rumpfes - ist beeinträchtigt. Feinmotorische, zielgerichtete Bewegungen, wie sie in vielen Alltagssituationen gebraucht werden, sind eingeschränkt. Dazu gehören zum Beispiel das sichere Greifen eines Glases, das Zähneputzen, das Ankleiden, Arbeiten im Haushalt und Tätigkeiten am Arbeitsplatz. Betrifft die Ataxie die Beine, wird der Gang unsicher und breitbeinig. Sturz- und Stolpergefahr sind erhöht.

Tremor, eine Form ataktischer Bewegungsstörungen, bezeichnet das gleichmäßige Zittern eines Körperteils oder des gesamten Körpers.

Ataktische Bewegungsstörungen betreffen etwa jeden zweiten MS-Patienten (Deutsches MS-Register). Die Ausprägung von Ataxie und Tremor ist oft abhängig von der seelischen und körperlichen Verfassung der Patienten: Schmerzen, Erschöpfung, Stress, Aufregung, Angst, manchmal nur die Gewissheit, beobachtet zu werden, verstärken die Symptome.

Therapieziele

  • Verbesserung der Feinmotorik mit dem Ziel, die Selbstständigkeit im Alltag und möglichst auch die Berufsfähigkeit zu erhalten.
  • Erhalt der Gehfähigkeit.

Nicht-medikamentöse Therapie

Basis der Behandlung ist eine intensive Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage (Bobath, propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation und andere), kombiniert mit Ergotherapie.

Sinnvoll ist darüber hinaus, Entspannungstechniken zu erlernen und anzuwenden, zum Beispiel Autogenes Training oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson.

Hilfsmittel - Gehstöcke, Rollatoren, spezielle Bestecke - erleichtern den Alltag.

Eisanwendungen (eine Minute Kältekompresse oder Eiswasserbad) können die Ataxie der Arme kurzfristig (für ca. 45 Minuten) bessern: hilfreich etwa vor dem Einnehmen einer Mahlzeit oder dem Leisten einer Unterschrift.

Medikamentöse Therapie

Medikamente sind wenig hilfreich und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Zudem könnnen sie ausschließlich den Tremor lindern. Deshalb werden Clonazepam (Rivotril®), Propranolol (Dociton®), Primidon (Liskantin®) oder Ondansetron (Zofran®) erst versucht, wenn nicht-medikamentöse Therapien bei Tremor versagen. Neueste Ergebnisse zeigen sehr gute Erfolge von Topiramat, sonst bei Migräne oder Epilepsie eingesetzt.

Verabreichungsform

  • Clonazepam (Rivotril®): Tabletten, tägliche Dosis 1-3 mg
  • Propranolol (Dociton®): Tabletten/Kapseln, tägliche Dosis 80-240 mg
  • Primidon (Liskantin®): Tabletten, tägliche Dosis 62,5-250 mg
  • Ondansetron (Zofran®): intravenöse Injektion/Tabletten, tägliche Dosis 1-2 x täglich 4-8 mg

Gegenanzeigen

  • Clonazepam (Rivotril®): Müdigkeit, schwere Muskelschwäche (Myasthenia gravis), Schwangerschaft, Stillzeit.
  • Propranolol (Dociton®); Asthma, ausgeprägt niedriger Blutdruck, schwere Durchblutungsstörungen, Herzschwäche, Schwangerschaft und Stillzeit.
  • Primidon (Liskantin®): Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Herzmuskelschwäche, Asthma, Schwangerschaft und Stillzeit.
  • Ondansetron (Zofran®): chronische Verstopfung, Verengungen im Magen-Darmtrakt, Schwangerschaft und Stillzeit.

Wirkweise

  • Clonazepam (Rivotril®) gehört zur Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine und ist ein Antiepileptikum, das normalerweise zur Krampfunterdrückung (Epilepsie) eingesetzt wird. Es wirkt allgemein dämpfend auf das Zentrale Nervensystem (ZNS).
  • Propranolol (Dociton®) ist ein unspezifischer Beta-Rezeptoren-Blocker, der nicht ausschließlich am Herzen wirkt (Beta-Blocker werden überwiegend bei Herz-Kreislauferkrankungen eingesetzt). Auf welche Weise er gegen Zittern wirkt, ist nicht bekannt.
  • Primidon (Liskantin®) gehört zur Wirkstoffgruppe der Barbiturate und ist ein Antiepileptikum, das krampflösend wirkt. Der Mechanismus der Wirkweise ist nicht bekannt.
  • Ondansetron (Zofran®) blockiert die Serotonin-Rezeptoren im Zentralen Nervensystem. Der Wirkstoff ist als Antiemetikum bekannt; er wird vor allem zur Behandlung von Erbrechen in der Tumor-Strahlentherapie oder nach Operationen eingesetzt.

Nebenwirkungen

  • Clonazepam (Rivotril®): Müdigkeit, Mattigkeit, Schwindel, Konzentrationsstörungen, Muskelspannung, Nervosität, Schlafstörungen. Clonazepam verstärkt Psychopharmaka, Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel sowie muskelentkrampfende Wirkstoffe. Darf nicht kombiniert werden mit MAO-Hemmern zur Behandlung einer Depression.
  • Propranolol (Dociton®): Müdigkeit, Schwindel, Durchblutungsstörungen, Empfindungsstörungen, trockene Augen. Beta-Blocker können allergische Reaktionen verstärken.
  • Primidon (Liskantin®): Gleichgewichts- und Sehstörungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit, Zittern, Sprachstörungen, Abgeschlagenheit, kognitive Störungen. Bei gleichzeitiger Einnahme von Psychopharmaka kann es zu gegenseitiger Verstärkung der Wirkung kommen. Die Wirkung von Antibaby-Pillen, Beta-Blockern, Blutgerinnungshemmern und Antibiotika kann verringert werden.
  • Ondansetron (Zofran®): Müdigkeit, Verstopfung, Durchfall.

Invasive Therapie

Bei erheblichem Tremor bleibt als letzte Möglichkeit die stereotaktische Operation mit Stimulation der Stammganglien an spezialisierten Zentren: Eine sehr dünne Sonde wird in einem bestimmten Gehirnareal (Thalamus) platziert, gleichzeitig ein Schrittmacher am Schlüsselbein unter der Haut eingesetzt und mit der Sonde verbunden. Vom Schrittmacher aus kann über die Sonde ein sehr schwacher elektrischer Strom verabreicht werden, der das Zittern verringert oder unterbindet. Die Einstellung des Schrittmachers lässt sich von außen ohne Operation verändern.

Wissenswertes

Clonazepam (Rivotril®) und Primidon (Liskantin®): Eine längere Behandlung kann zur Abhängigkeit führen. Sollen die Medikamente abgesetzt werden, muss die Dosis schrittweise verringert werden, da es sonst zu Entzugserscheinungen/Krampfanfällen kommen kann.

Wichtig

Ataxie und Tremor werden von Außenstehenden oft als Trunkenheit missdeutet.

Blasenstörungen

Neurogene, d. h. auf der fehlerhaften Funktion wichtiger Nervenbahnen beruhende, Blasenstörungen gehören zu den häufigsten Begleiterscheinungen der MS. Im Verlauf der Erkrankung sind 50 bis 80 Prozent der Patienten davon betroffen. In 2 Prozent der Fälle sind Blasenstörungen alleiniges Erstsymptom, aber bei immerhin 10 bis 14 Prozent wesentlicher Teil der Erstsymptomatik. Zwischen dem Schweregrad der Blasenstörung und dem Ausmaß der Spastik besteht ein enger Zusammenhang, was dafür spricht, dass im Wesentlichen Schädigungen des Rückenmarks für die Blasenstörung verantwortlich sind. Zur langfristigen Vermeidung von Folgeschäden ist die frühzeitige Erkennung und symptomorientierte Behandlung von zentraler Bedeutung. Dabei ist oftmals die Bestimmung der Restharnmenge mittels Sonographie oder Einmalkatheter ausreichend. Bei unzureichendem Therapieerfolg (fortbestehende Inkontinenz und Restharnbildung) ist allerdings unbedingt eine urodynamische Untersuchung erforderlich, um die Speicher- und Entleerungsfunktion der Blase zuverlässig bestimmen zu können.

Bei MS auftretende Blasenfunktionsstörungen lassen sich in 3 Gruppen unterteilen: Am Häufigsten ist die sogenannte Detrusor-Hyperreflexie („überaktive Blase“), bei der die Speicherfunktion der Blase eingeschränkt ist. Sie äußert sich zum Beispiel in häufigem Harndrang, Inkontinenz und Einnässen. Es kann aber auch das Gegenteil auftreten: eine Blasen-Hyporeflexie mit verzögerter Blasenentleerung, Entleerung kleiner Urinportionen, Nachträufeln und Restharnbildung. Daneben kommt auch eine Kombination beider Symptome vor. 6 bis 30 Prozent der Patienten betrifft die sogenannte Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, also eine unkoordinierte Aktivität von Austreibermuskulatur und Blasenschließmuskel. Sie ist gekennzeichnet durch Harndrang, Inkontinenz, verzögerter und nicht vollständiger Blasenentleerung.

Therapieziele

  • Verbesserung der Speicherfunktion der Blase, ihre möglichst vollständige Entleerung und Normalisierung des Harndrangs,
  • Vermeidung von Komplikationen wie wiederholte Harnwegsinfekte, Nierensteinbildung und eingeschränkte Nierenfunktion,
  • Verbesserung der Lebensqualität.

Nicht-medikamentöse Therapie

Durch das eigene richtige Verhalten können Blasenfunktionsstörungen vor allem im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Wichtig ist:

  • Regelmäßig ausreichend trinken (ca. 2 Liter über den Tag verteilt, sofern Herz und Nieren gesund sind)
  • Regelmäßige, auch vorbeugende Toilettengänge
  • Kontrolle von Trink- und Urinmenge durch ein Tagebuch
  • Harndrang nicht über längere Zeit unterdrücken (das Überkreuzen der Beine kann zur Verstärkung einer Spastik führen)
  • Beckenbodengymnastik (kann in der Physiotherapie erlernt werden)

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Behandlung umfasst - je nach Art der Funktionsstörung - verschiedene Substanzen:

  • Anticholinergika zur Dämpfung eines überaktiven Blasenmuskels unterdrücken das übermäßige Zusammenziehen der Blase. Erfolgreich eingesetzte Substanzen sind Oxybutynin (zum Beispiel Dridase®, Kentera®), Trospium (zum Beispiel Spasmex®, Spasmolyt®) und Propiverin (zum Beispiel Mictonorm®, Mictonetten®). Sie sind als Tabletten bzw. Pflaster (Kentera®) erhältlich. Bei nicht ausreichender Wirksamkeit oder beim Auftreten von Nebenwirkungen kann auf weitere Medikamente ausgewichen werden, nach denen Sie am besten Ihren Urologen fragen. Außerdem können einzelne Substanzen steril direkt in die Blase gegeben werden (intravesikale Therapie), insbesondere wenn Sie selbst katheterisieren (intermittierender Selbstkatheterismus/ISK).
  • Bei Blasenentleerungsstörungen mit Restharnbildung werden in der Regel Alphablocker (Tamsulosin, zum Beispiel Omnic®) eingesetzt, die zur Entspannung des Blasenschließmuskels beitragen. Da Spastik diese Form der Blasenstörung mitverursachen kann, erfolgt die Behandlung unter Umständen auch mit Antispastika (Baclofen, siehe Spastik-Kapitel).
  • Um die Urinproduktion und -ausscheidung vorübergehend zu verringern (zum Beispiel, um nachts durchschlafen zu können), kann Desmopressin (diverse Handelspräparate) eingesetzt werden.
  • Wenn andere Medikamente nicht vertragen werden und ISK nicht möglich ist, kann bei häufigem Harndrang mit kleinen Urinmengen und Inkontinenz Botulinumtoxin (zum Beispiel Botox®, Dysport®) unter Narkose direkt in den Detrusormuskel gespritzt werden. Das Medikament schwächt den Muskel gezielt; die Wirkung hält mehrere Monate an. Das Verfahren sollte nur von sehr erfahrenen Ärzten angewandt werden. Seit September 2011 ist BOTOX® (Botulinumtoxin Typ A) in Deutschland für die Behandlung der Harninkontinenz bei Erwachsenen mit "neurogener Detrusorhyperaktivität bei neurogener Blase infolge einer stabilen subzervikalen Rückenmarksverletzung oder Multipler Sklerose" zugelassen.
  • Akute Harnwegsinfekte werden mit Antibiotika behandelt.

Wiederholte Blaseninfekte können zur Verschlechterung der MS beitragen. Ihnen wird am besten durch eine restharnfreie Entleerung der Blase vorgebeugt. Wichtig ist darüber hinaus eine ausreichende Trinkmenge (2 Liter täglich). Zusätzlich kann es hilfreich sein, den Urin anzusäuern, um das Bakterienwachstum zu hemmen. Dies kann durch Trinken von Preiselbeer- oder Cranberrysaft oder durch Medikamente wie Methionin (zum Beispiel Acimethin®, Methiotrans®) geschehen. Wichtig: Präparate zur Vorbeugungvon Blasenentzündungen werden von den gesetzlichen Krankenkassen in der Regel nicht bezahlt.

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