Das Konzept des therapeutischen Gammelns stellt einen innovativen Ansatz in der Betreuung von Menschen mit Demenz dar. Es zielt darauf ab, die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen, indem es ihnen ermöglicht, ihren Tag selbstbestimmt zu gestalten. Entwickelt wurde dieses Konzept von Dr. Stephan Kostrzewa, einem Diplom-Sozialwissenschaftler, examinierten Altenpfleger und Fachpfleger für Palliative Care.
Ursprung und Philosophie des therapeutischen Gammelns
Dr. Kostrzewa entwickelte die Idee des therapeutischen Gammelns aufgrund seiner Erfahrungen in der Altenpflege und seines Studiums der Sozialwissenschaften. Er hinterfragte die traditionellen Leitsätze, die eine enge Strukturierung des Tagesablaufs für Menschen mit Demenz vorsahen. Seine Recherchen ergaben, dass die Erkrankung sehr individuell erlebt wird und es keinen allgemeingültigen Königsweg gibt. Vielmehr sollte man sich an den Wünschen der Betroffenen orientieren.
Der Begriff "Gammeln" hat seinen Ursprung im Althochdeutschen "gaman", was so viel wie Lust, Spaß, Fröhlichkeit oder Genuss bedeutet. In Kombination mit dem Attribut "therapeutisch" soll dieser Begriff einen Widerspruch darstellen, der Aufmerksamkeit erregt und zum Nachdenken anregt.
Das therapeutische Gammeln basiert auf dem personenzentrierten Ansatz nach Tom Kitwood, der die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Betroffenen in den Vordergrund stellt. Es geht darum, den Menschen mit Demenz die Regie über ihren Alltag zurückzugeben und ihnen ein Gefühl von Autonomie zu vermitteln. Nicht Training und Therapie stehen im Mittelpunkt, sondern Ansätze, die Freude, Lust und Eigenständigkeit unterstützen. Die Devise lautet: "Lasst sie doch einfach einmal in Ruhe!"
Umsetzung des Konzepts in der Praxis
Das Konzept des therapeutischen Gammelns wird derzeit in Deutschland in der ersten Einrichtung, dem Julie-Kolb-Seniorenzentrum, einer AWO-Einrichtung im nordrhein-westfälischen Marl, ausprobiert. Dort gibt es eine sogenannte "Gammeloase", eine weitere ist geplant.
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In der Gammeloase wird auf eine vorgetaktete Tagesstruktur und ein festes Programm verzichtet. Stattdessen stellen die Mitarbeitenden Angebote bereit, die jedoch auch abgelehnt werden dürfen. Die Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft stellen sich immer wieder die Frage: "Hat mir die demenzerkrankte Person den Auftrag dafür gegeben?"
Ein wichtiger Aspekt ist die Entschleunigung des Alltags. Die Bewohner müssen beispielsweise nicht zu einer bestimmten Uhrzeit Mittagessen. Um dies zu ermöglichen, gibt es eine eigene Spülmaschine und eigenes Geschirr, um nicht auf die Zentralküche angewiesen zu sein.
Die Gammeloase ist ein offener Bereich, in dem sich die Bewohner frei bewegen können. Auch Bewohner mit einem starken Bewegungsdrang werden hier aufgenommen. Das Team begegnet diesem sogenannten "herausfordernden Verhalten" mit Verstehenshypothesen, um die Ursachen zu ermitteln. Oftmals liegen die Ursachen nicht an der Demenz selbst, sondern an somatischen Problemen wie Schmerzen oder Juckreiz. Erst dann wird der psychosoziale Bereich betrachtet, wie etwa Probleme mit Angehörigen.
Die Mitarbeiter der Gammeloase sind geschult im Themenfeld "Trauerarbeit für Menschen mit Demenz". Trauerreaktionen werden nicht "weg-geschunkelt", sondern durch mitmenschliche Solidarität beantwortet und begleitet.
Vorteile des therapeutischen Gammelns
Das therapeutische Gammeln bietet eine Reihe von Vorteilen für Menschen mit Demenz:
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- Mehr Selbstbestimmung: Die Bewohner können ihren Tag selbst gestalten und ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen.
- Weniger Stress: Durch den Wegfall von starren Zeitplänen und Verpflichtungen wird Stress reduziert. Studien zeigen, dass die Stresswerte bei den Demenzerkrankten dadurch niedriger sind.
- Mehr Lebensqualität: Die Bewohner können ihren Tag mit Freude und Lust füllen und ihre Eigenständigkeit bewahren.
- Reduzierung von Psychopharmaka: In der Gammeloase konnte bei fast allen Bewohnern die Einnahme von Psychopharmaka reduziert oder ganz abgesetzt werden.
- Verbesserte Zusammenarbeit im Team: Beim therapeutischen Gammeln gibt es ein Konzept für das gesamte Team, in dem alle Aufgaben gemeinsam erledigt werden. Dadurch entsteht eine größere Wertschätzung unter den Mitarbeitenden.
- Intensive Angehörigenarbeit: Die Angehörigen werden als Experten für ihre erkrankten Familienmitglieder betrachtet und intensiv in die Betreuung einbezogen.
Herausforderungen und Hürden bei der Umsetzung
Das therapeutische Gammeln stößt auf großes Interesse, wird aber auch mit Vorsicht wahrgenommen. Eine Herausforderung ist die Notwendigkeit, Bewohner mit fortgeschrittener Demenz von orientierten Bewohnern zu trennen (segregiertes Modell). Letztere haben oft Berührungsängste oder gar Angst vor den Demenzerkrankten, was zu Konflikten führen kann.
Ein weiteres Problem ist, dass in der Gammeloase die Normalität in Frage steht. Es herrscht eine "Hausunordnung", die den dortigen Alltag regelt. Dies erfordert ein Umdenken bei den Mitarbeitenden, die lernen müssen, die Kontrolle abzugeben.
Die Einführung und Umsetzung des Konzepts sind mit Kosten verbunden, da die Mitarbeitenden geschult und engmaschig begleitet werden müssen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien
Eine Studentin der Sozialen Arbeit hat in ihrer Bachelorarbeit bestätigt, dass das therapeutische Gammeln die Autonomie von Menschen mit Demenz fördert. Zudem wird das Konzept kontinuierlich evaluiert.
Politische Rahmenbedingungen
Die Rahmenbedingungen für alle Pflegeeinrichtungen sind gleich. Auch die Gammeloase im Julie-Kolb-Seniorenzentrum unterliegt der WTG (Wohn- und Teilhabegesetz)-Behörde und dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Die Schaltstelle bei der Einführung und Umsetzung des Konzepts sind die Einrichtungs- und Pflegedienstleitung, die es wollen müssen.
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Mehrbettzimmer als Vorteil
Entgegen dem Trend, 2-Bettzimmer in Einzelzimmer umzuwandeln, bietet die Gammeloase ausschließlich 2-Bettzimmer an. Menschen mit fortgeschrittener Demenz profitieren eher von Mehrbettzimmern, da sie hier soziale Kontakte pflegen und sich weniger einsam fühlen können.
Kein Aktivierungsterror
In der Gammeloase gibt es keine Gruppenangebote und keinen "Aktivierungsterror". Das Miteinander-Leben, begleitet durch Alltagsaktivitäten und Utensilien mit Aufforderungscharakter, verleitet die Bewohner erst einmal zum Beobachten (aktive Passivität). Fühlt sich nun einer der Betroffenen intrinsisch motiviert zu einem Handeln, so wird dieses unterstützt - hingegen nicht pädagogisch initiiert.
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