Ulrike Meinhof: Die Untersuchung ihres Gehirns – Eine Kontroverse

Der Fall Ulrike Meinhof, einer der zentralen Figuren der Roten Armee Fraktion (RAF), ist bis heute von vielen Kontroversen umgeben. Ein besonders umstrittenes Kapitel stellt die Untersuchung ihres Gehirns nach ihrem Tod im Jahr 1976 dar. Dieser Artikel beleuchtet die Hintergründe, die beteiligten Personen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die ethischen Fragen, die diese Untersuchung aufwirft.

Der Tod in Stammheim und die Obduktion

Am 9. Mai 1976 wurde Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim gefunden. Die offizielle Todesursache war Suizid durch Strangulation. Unmittelbar nach ihrem Tod wurde eine Obduktion im Stuttgarter Bürgerspital durchgeführt. Im Rahmen dieser Obduktion entnahmen die Professoren Rauschke und Mallach, wie in solchen Fällen üblich, das Gehirn und andere Organteile für spätere feingewebliche Untersuchungen. Das Ergebnis der Obduktion bestätigte den Suizid und schloss Fremdeinwirkung aus. Eine zweite Obduktion, die auf Antrag von Meinhofs Schwester und ihren Verteidigern durchgeführt wurde, kam zum selben Ergebnis.

Das verschwundene Gehirn

Was jedoch lange Zeit unbekannt blieb, war die Tatsache, dass Ulrike Meinhof ohne ihr Gehirn beigesetzt wurde. Nach der ersten Obduktion wurde ihr Gehirn Professor Jürgen Peiffer, einem Neuropathologen in Tübingen, übergeben. Peiffer konservierte das Gehirn in Formalin und lagerte es in seinem Institut. Er erklärte, dass die für Forschungszwecke aufgehobenen Gehirne so besser stapelbar seien.

Die Enthüllung durch Bettina Röhl

Die Geschichte von Ulrike Meinhofs Gehirn gelangte erst viele Jahre später an die Öffentlichkeit, als Bettina Röhl, Meinhofs Tochter, die Recherchen durchführte und ihre Ergebnisse in der Magdeburger Volksstimme veröffentlichte. Röhl, eine Kritikerin der Alt-68er-Bewegung, hatte bereits zuvor für Schlagzeilen gesorgt, als sie Joschka Fischers Vergangenheit als Straßenkämpfer thematisierte.

Röhl enthüllte, dass Professor Peiffer das Gehirn ihrer Mutter nach der Obduktion eingehend untersucht hatte. Dabei stellte er "mit bloßem Auge erkennbare Abweichungen in der für Emotionen zuständigen Hirnregion" fest. Diese Abweichungen führte er auf einen operativen Eingriff zurück, dem sich Ulrike Meinhof 1962 unterzogen hatte. Bei dieser Operation wurde ein gutartiger Tumor in ihrem Gehirn entdeckt und abgeklemmt.

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Peiffers Gutachten und die Frage der Zurechnungsfähigkeit

Professor Peiffer erstellte 1976 ein Gutachten, in dem er die möglichen Auswirkungen der Hirnschädigung auf Ulrike Meinhofs Zurechnungsfähigkeit erörterte. Er argumentierte, dass Hirnschäden dieses Ausmaßes und dieser Lokalisation Anlass gegeben hätten, im Gerichtsverfahren Fragen nach ihrer Schuldfähigkeit aufzuwerfen. Peiffer stützte sich dabei auch auf Aussagen von Meinhofs Ziehmutter Renate Riemeck, die von Persönlichkeitsveränderungen nach der Operation berichtete.

Die Wanderung des Gehirns nach Magdeburg

Nach der Untersuchung durch Professor Peiffer lagerte das Gehirn von Ulrike Meinhof für etwa zwei Jahrzehnte in seinem Institut. Mitte der 1990er Jahre erinnerte sich Peiffer an das Gehirn, als er einen Vortrag von Professor Bernhard Bogerts, dem Direktor der Magdeburger Universitätsklinik für Psychiatrie, hörte. Bogerts referierte über den Fall eines Mehrfachmörders, dessen Gehirn ebenfalls Auffälligkeiten im emotionalen Zentrum aufwies.

Peiffer und Bogerts beschlossen, ihre Forschungen zu kombinieren und einen Artikel über den medizinischen Vergleich der Gehirne des Mörders Wagner und der Terroristin Meinhof zu veröffentlichen. Zu diesem Zweck holte Peiffer das Gehirn von Ulrike Meinhof heimlich aus dem Tübinger Institut und brachte es nach Magdeburg. Dort wurde das Gehirn erneut untersucht, diesmal mit moderneren Methoden und Geräten. Bogerts kam zu dem gleichen Ergebnis wie Peiffer: Die Schädigung von Ulrike Meinhofs Gehirn könnte dazu beigetragen haben, dass aus der Journalistin die Terroristin wurde.

Die ethischen und rechtlichen Fragen

Die Geschichte von Ulrike Meinhofs Gehirn wirft eine Reihe von ethischen und rechtlichen Fragen auf. War es rechtens, das Gehirn ohne das Wissen und die Zustimmung der Angehörigen zu entnehmen und für Forschungszwecke zu verwenden? Durften die Forschungsergebnisse veröffentlicht werden, ohne die Persönlichkeitsrechte der Verstorbenen und ihrer Familie zu verletzen?

Die Angehörigen Meinhofs, insbesondere ihre Tochter Regine Röhl, erstatteten Strafanzeige wegen Störung der Totenruhe. Sie argumentierten, dass die geheimen Forschungen am Gehirn ihrer Mutter eine Verletzung ihrer Würde darstellten.

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Die wissenschaftliche Kontroverse

Auch die wissenschaftliche Interpretation der Befunde ist umstritten. Einige Forscher argumentieren, dass die Hirnschädigung Ulrike Meinhofs Verhalten maßgeblich beeinflusst haben könnte. Sie verweisen auf die Bedeutung des limbischen Systems, insbesondere des Mandelkerns, für die Steuerung von Emotionen und Aggressionen. Andere Wissenschaftler betonen, dass die komplexen Einflüsse des sozialen und gesellschaftlichen Umfelds nicht ignoriert werden dürfen. Sie warnen davor, die Lebensentscheidungen und das Schicksal der Ulrike Meinhof auf rein medizinische Faktoren zu reduzieren.

Die Rolle der Medien

Die Medien spielten eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung und Verbreitung der Geschichte von Ulrike Meinhofs Gehirn. Bettina Röhl nutzte die Magdeburger Volksstimme, um ihre Enthüllungen zu veröffentlichen und dem Spiegel zuvorzukommen, der ebenfalls an der Geschichte recherchierte. Die Berichterstattung in den Medien trug dazu bei, eine breite öffentliche Debatte über die ethischen und wissenschaftlichen Aspekte der Hirnforschung und die Geschichte der RAF anzustoßen.

Das Schicksal der anderen Gehirne

Im Zuge der Recherchen zu Ulrike Meinhofs Gehirn kam auch die Frage nach dem Verbleib der Gehirne von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe auf. Auch diese Gehirne waren nach ihrem Tod obduziert und zu Forschungszwecken aufbewahrt worden. Doch im Gegensatz zu Meinhofs Gehirn sind die Gehirne der anderen RAF-Terroristen spurlos verschwunden. Es wird vermutet, dass sie möglicherweise beim Aufräumen des Tübinger Hirnarchivs aussortiert und verbrannt wurden.

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