Der Vagusnerv, der längste der zwölf Hirnnerven, spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung vieler Aspekte des menschlichen Verhaltens und der Verbindung zwischen Gehirn und Körper. Seine lateinische Bezeichnung "nervus vagus" bedeutet so viel wie "umherwandelnder Nerv", was seine weitreichende Verzweigung im Körper widerspiegelt. Als Teil des Parasympathikus ist er an der Funktion fast aller inneren Organe beteiligt und wird oft als "Ruhe-Nerv" bezeichnet, da er für Erholung, Ruhe und Verdauung zuständig ist.
Die Rolle des Vagusnervs im Körper
Der Vagusnerv erstreckt sich vom Hirnstamm durch den Hals zu den Bronchien, Lungen, Herz, Leber, Milz, Nieren, Magen, Bauchspeicheldrüse bis in den Darm und zurück zum Gehirn. Er ist somit die direkte Verbindung zwischen Gehirn und Darm, was erklärt, warum Magen- und Darmbeschwerden oft mit psychischem Stress zusammenhängen.
Der Vagusnerv kommuniziert direkt mit dem Gehirn und übersetzt beispielsweise das Gefühl von Hunger, um uns den knurrenden Magen bewusst zu machen. Er steuert unser Verhalten und unsere Reaktionen auf die Umwelt, indem er signalisiert, ob unsere Grundbedürfnisse gedeckt sind und ob wir uns entspannen oder anstrengen müssen. Bei Stress bereitet er den Körper auf Kampf oder Flucht vor.
Vagusnerv-Stimulation: Ein aufstrebender Trend
Die Funktion des Vagusnervs wird seit vielen Jahren erforscht. In der Psychiatrie wird die Vagusnerv-Stimulation (VNS) bereits zur Behandlung schwerer Depressionen eingesetzt. Auch in den sozialen Netzwerken hat sich die Vagusnerv-Stimulation zu einem beliebten Selfcare-Trend entwickelt.
Die Vagusnerv-Stimulation soll gegen Depressionen, Epilepsie, Vorhofflimmern, Übergewicht und Tinnitus helfen. Aber welche Rolle spielt der Vagusnerv wirklich für die mentale und körperliche Gesundheit, und können wir unser Wohlbefinden durch gezielte Übungen zur Stimulation verbessern?
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Formen der Vagusnerv-Stimulation
Studien haben gezeigt, dass die Stimulation des Vagusnervs bei verschiedenen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen hilfreich sein kann. Es gibt zwei Hauptformen der elektrischen Stimulation:
- Invasive Vagusnervstimulation (iVNS): Hierbei wird ein Neurochirurg in einer Operation Stimulationselektroden und einen Generator im oberen Brustbereich implantiert. Die Stromimpulse wirken über den Vagusnerv im Gehirn und hemmen dort Aktivitäten, die zu epileptischen Anfällen führen. Diese Methode wird seit den 1990er-Jahren eingesetzt und hat bei einigen Patienten eine stimmungsaufhellende Wirkung gezeigt.
- Nicht-invasive Vagusnervstimulation (nVNS): Diese Methode, die auch als transkutane aurikuläre Vagusnervstimulation (taVNS) bezeichnet wird, erfolgt von außen durch die Haut. Kleine Elektroden werden am Ohr platziert, da sich dort Ausläufer des Vagusnervs befinden. Die Stimulation ist in der Regel nur wenige Stunden pro Tag möglich.
Wie wirkt die Vagusnerv-Stimulation?
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für die Wirkung der Vagusnerv-Stimulation:
- Interozeption: Die Wahrnehmung von Körpersignalen beeinflusst unsere Gefühle und unser Wohlbefinden. Bei Menschen mit Depressionen funktioniert die Kopplung zwischen Gehirn und Körper möglicherweise nicht richtig.
- Neurotransmitter: Die Stimulation des Vagusnervs kann einen gestörten Prozess im Gehirn reparieren und die Ausschüttung der Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin fördern.
- Gehirngesundheit: Die Stimulation des Vagusnervs kann eine Reihe von Effekten im Gehirn auslösen, die die Kommunikation zwischen den Nervenzellen verstärken und die allgemeine Gehirngesundheit verbessern.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Ursache von Depressionen noch nicht vollständig verstanden ist, was es schwierig macht, den Heilungsprozess nachzuvollziehen. Die Wirksamkeit der Vagusnerv-Stimulation kann von der Art der Depression abhängen.
Selbsthilfe-Methoden zur Vagusnerv-Stimulation
Neben den invasiven und nicht-invasiven medizinischen Verfahren gibt es auch verschiedene Selbsthilfe-Methoden, die zur Beruhigung beitragen können, da der Vagusnerv als Teil des parasympathischen Systems Erholungs- und Entspannungsprozesse aktiviert:
- Atemübungen: Kontrollierte Atemübungen wie tiefes Atmen, progressive Muskelentspannung, Boxatmung oder eine verlängerte Ausatmung können die Entspannung fördern.
- Ohrmassage: Den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, 30 Sekunden drücken und wieder loslassen.
- Singen und Gurgeln: Singen von Liedern mit vielen Vokalen oder Gurgeln kann den Vagusnerv stimulieren.
- Kältereize: Eine kalte Dusche am Morgen kann den Sympathikus dämpfen und den Vagusnerv aktivieren.
- Akkommodation: Das Trainieren der Augenmuskeln durch abwechselndes Scharfstellen von Gegenständen in unterschiedlichen Entfernungen kann den Vagusnerv anregen.
- Selbstmassage: Seitlich beide Handflächen außen an den Hals legen und mit sanften Bewegungen zwischen Ohr und Schulterübergang kreisend über die Haut streichen.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Wirkung dieser Übungen individuell unterschiedlich sein kann. Es macht Sinn, auszutesten, was zum eigenen Wohlbefinden beiträgt.
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Freiverkäufliche Systeme zur Vagusnerv-Stimulation
Im Internet werden freiverkäufliche Systeme zur Vagusnerv-Stimulation angeboten. Allerdings gibt es keine nennenswerten Studien zur Wirksamkeit vieler Geräte. Viele Firmen investieren mehr Geld in Marketing als in Forschung. Es gibt keine Garantie, dass diese Geräte den Vagusnerv tatsächlich stimulieren und eine therapeutische Wirkung haben. Bei Herz- oder Kreislaufproblemen oder in der Schwangerschaft sollten alle Geräte nicht ohne ärztliche Rücksprache angewendet werden.
Einige Systeme nutzen elektrische Impulse, die über die Haut abgegeben werden und darunterliegende Nerven stimulieren. Neu ist eher die Elektrode, die den richtigen Punkt am Ohr stimuliert. Manche Firmen setzen allerdings auf einfache und günstige Clip-Elektroden, die sich nur ungenügend am Ohr anbringen lassen und vermutlich nicht immer den Vagusnerv stimulieren. Andere Geräte nutzen mechanische Stimulation. Ob so der Vagusnerv tatsächlich stimuliert wird, hängt auch vom individuellen Verlauf des Vagusnervs ab.
Vagusnerv-Stimulation am Uniklinikum Tübingen
Am Uniklinikum Tübingen wird die Vagusnervstimulation in Studien erforscht und dafür eine elektronische Stimulation über das Ohr genutzt. Über die Elektrode läuft ein spezielles Programm ab, das eine gewisse Abfolge an Impulsen vorgibt. In einigen Studien wird die Stimulation auch mit einem funktionellen MRT kombiniert, das die Aktivität des Gehirns in Echtzeit sichtbar macht.
Derzeit geht man aufgrund der Studienlage davon aus, dass diese professionelle Vagusnervstimulation Personen helfen kann, die unter Antriebslosigkeit, Depressionen, Epilepsie oder auch Störungen im Stoffwechsel oder der Verdauung leiden. Zudem könnte die Stimulation bei Trägheit oder Fatigue helfen.
Vagusnerv-Stimulation bei Jugendlichen mit Depressionen
Ein Forschungsteam der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln sowie der Medizinischen Fakultät hat eine neue Therapieform - eine transkutane Vagusnervstimulation - bei einer jugendlichen Patientin eingesetzt und ihre Symptomatik damit zu verbessern.
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Bei Erwachsenen bieten invasive Verfahren der Neuromodulation, zum Beispiel die Vagusnervstimulation, eine Behandlungsalternative für Patientinnen und Patienten mit schwer-behandelbaren Depressionen. Für Minderjährige war dieses invasive Verfahren bisher aufgrund der mit der Operation verbundenen Risiken ungeeignet. Durch technologische Entwicklungen ist die elektrische Stimulation des Vagusnervs heute auch durch das Ohr möglich. Dabei wird eine Elektrode, ähnlich wie bei einem Hörgerät, ohne operativen Eingriff am Ohr platziert. Sie erzeugt einen schwachen Stromfluss. Dieser reicht aus, um einen Ast des Vagusnervs zu stimulieren. Er erstreckt sich bis in den Hirnstamm. Diese Form der Stimulation ist weitgehend frei von Nebenwirkungen und gut verträglich. Bei Erwachsenen mit Depressionen wird die sogenannte transkutane aurikulare Stimulation des Vagusnervs (taVNS) bereits erfolgreich eingesetzt.
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