Neurowissenschaften im Marketing: Direktverkauf ins Gehirn?

Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und bieten faszinierende Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Diese Erkenntnisse werden zunehmend im Marketing eingesetzt, um Werbestrategien effektiver zu gestalten und Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Doch was genau steckt hinter dem Neuromarketing und wie lassen sich die Erkenntnisse in der Praxis umsetzen? Dieser Artikel beleuchtet die Grundlagen, Methoden und ethischen Aspekte des Neuromarketings und zeigt, wie Unternehmen die Kraft der Neurowissenschaften für ihren Erfolg nutzen können.

Was ist Neuromarketing?

Neuromarketing ist ein interdisziplinäres Feld, das neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit traditionellem Marketing verbindet. Ziel ist es, zu verstehen, wie Entscheidungen im Gehirn ablaufen und wie man diese mit Werbemaßnahmen beeinflussen kann. Neuromarketing basiert auf der Annahme, dass ein Großteil der Kaufentscheidungen unbewusst abläuft und von Emotionen und Erinnerungen gesteuert wird. Daher versucht man, die unbewussten Reaktionen des Gehirns auf Marketingreize zu messen und zu analysieren.

Dr. Hans-Georg Häusel, ein Experte auf dem Gebiet des Neuromarketings, betonte auf dem Neuromarketing Kongress 2017 in München die zentrale Bedeutung des Begriffs "Wert" für das Neuromarketing. Emotionen bilden die Grundlage für die Werte, die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Diese Werte prägen nicht nur unsere Persönlichkeit, sondern auch unsere Kultur und Gesellschaft.

Die Grundlagen des Neuromarketings

Das Neuromarketing stützt sich auf Erkenntnisse der Neuropsychologie, die sich mit den Aktivitäten des Gehirns und der Bedeutung des Bewusstseins auseinandersetzt. Die Neuropsychologie liefert wichtige Ansätze für die Frage, wie Kaufentscheidungen getroffen werden und wie Marken bewertet werden.

Mithilfe von Brainreading, einer wissenschaftlichen Methode zur Nachverfolgung bewussten Erlebens im Kopf, können Neurowissenschaftler herausfinden, was Kunden über ein Produkt oder eine Marke denken. Dabei wird auch das Belohnungssystem des Gehirns untersucht, das laut Prof. Dr. John-Dylan Haynes als "Buy-Button" im Gehirn fungiert.

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Haynes erläuterte auf dem Neuromarketing Kongress 2017, dass es in der Hirnforschung einen zentralen Unterschied zwischen bewusst-rationalem und unbewusst-assoziativem Denken gibt. Das sogenannte Eisberg-Modell veranschaulicht, dass Kaufentscheidungen oft auf unbewussten Prozessen beruhen.

Wie funktioniert Neuromarketing in der Praxis?

Um die Erkenntnisse des Neuromarketings in die Praxis umzusetzen, ist es wichtig zu verstehen, wie Werbung Kaufabsichten auslösen und beeinflussen kann. Laut Prof. Dr. Haynes verhindern Kontrollinstanzen im Gehirn, dass aus Impulsen Handlungen werden. Das Wechselspiel zwischen Impuls und Kontrolle bestimmt die Vorentscheidungsphase einer Kaufentscheidung.

Die Hirnforschung konzentriert sich darauf, wie komplexe Gedanken aus der Hirnaktivität ausgelesen werden können. Dabei gibt es keine universellen "Gedankenlesemaschinen", sondern lediglich unterschiedliche Kodierungen von Informationen, denen individuelle Bedeutungen zugeschrieben werden. Entscheidend ist, wann Kaufentscheidungen tatsächlich getroffen werden. Hierzu gibt es bereits interessante Forschungsergebnisse von Dr. Häusel und Prof. Dr. Haynes.

Methoden des Neuromarketings

Neuromarketing bedient sich verschiedener Methoden, um die Reaktionen des Gehirns auf Marketingreize zu messen und zu analysieren. Zu den gängigsten Methoden gehören:

  • Elektroenzephalographie (EEG): Das EEG misst die elektrische Aktivität des Gehirns mithilfe von Elektroden, die auf der Kopfhaut platziert werden. Es ermöglicht die Erfassung von Gehirnaktivität in Echtzeit und kann Aufschluss über emotionale Reaktionen und kognitive Prozesse geben.
  • Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT): Die fMRT misst die Gehirnaktivität, indem sie Veränderungen im Blutfluss erfasst. Sie ermöglicht die Lokalisierung von Gehirnaktivität in bestimmten Regionen und kann zeigen, welche Bereiche des Gehirns bei der Verarbeitung von Marketingreizen aktiviert werden. Ein Automobilhersteller kann durch fMRT visualisieren, welche Gehirnregionen durch bestimmte Botschaften aktiviert werden.
  • Eye-Tracking: Eye-Tracking verfolgt die Augenbewegungen einer Person, während sie einen Marketingreiz betrachtet. Es ermöglicht die Messung von Aufmerksamkeit und Interesse und kann zeigen, welche Elemente eines Marketingreizes die Aufmerksamkeit am stärksten auf sich ziehen. Ein Automobilhersteller kann durch Eye-Tracking herausfinden, ob potenzielle Kunden zuerst die Form des Autos oder dessen Preis bemerken.
  • Hautleitfähigkeitsmessung: Die Hautleitfähigkeitsmessung misst die elektrische Leitfähigkeit der Haut, die durch Schweißproduktion beeinflusst wird. Sie kann Aufschluss über emotionale Erregung geben und wird oft in Kombination mit anderen Methoden eingesetzt.
  • Gesichtsausdrucksanalyse: Die Gesichtsausdrucksanalyse analysiert die Gesichtsausdrücke einer Person, um emotionale Reaktionen zu erkennen. Sie kann Aufschluss über positive und negative Emotionen geben, die durch Marketingreize ausgelöst werden.

Anwendung von Neurowissenschaftlichen Erkenntnissen im Marketing

Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften können in verschiedenen Bereichen des Marketings angewendet werden, um die Effektivität von Werbestrategien zu verbessern. Einige Beispiele sind:

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  • Produktgestaltung: Autobauer optimieren bereits das Autodesign mit Blick auf die Wirkung im Kopf. So aktivieren beispielsweise Autofronten und Frauengesichter im männlichen Gehirn die gleichen Areale. Die Autofronten besonders dann, wenn die Lichter etwas „aggressiver“ und der Autogrill relativ „freundlich“ dargestellt ist. Warme Farben schaffen Nähe, kalte Farben zeigen technische Überlegenheit.
  • Verpackungsdesign: Schlankes Verpackungsdesign für gesunde Produkte und außergewöhnliches Design für hochwertige Produkte.
  • Werbung: Die Bedeutung und Wirksamkeit von Bildern ist bereits bekannt. Eine frontale, gesichtsartige Aufnahme von Autos ist einer seitlichen Aufnahme überlegen. Der am stärksten ausgeprägte Bereich im Gehirn ist das sogenannte episodische Gedächtnis. Die Verbindung von Marke oder Produkt mit interessanten Geschichten ist besonders wirkungsvoll. Weitere mentale „Anker“ für eine effektive Vermarktung bilden Symbole und die Umsetzung nicht nur mit bewegten Bildern, sondern unter Nutzung aller Sinne.
  • Preisgestaltung: Ein Berliner Restaurant ließ seine Kunden selbst bestimmen, wie viel ihnen Speis und Trank wert war. Die Kunden haben im Schnitt mehr bezahlt als nach der sonst geltenden Speisekarte. Allerdings ist die Übertonung des Preises als Verkaufsargument mit großer Vorsicht zu genießen, denn die Preisfindung muss dem Gesamtkonzept entsprechen.
  • Verkaufsgespräche: Im Verkauf gilt „Wer fragt, führt!“. Einen dominanten Typen interessiert, wie effizient die Leistung ist, einen neugierigen Typen, welche Besonderheiten eine Leistung hat und einen Balance-Typen, wie bewährt das Angebot ist.

Fallbeispiele für erfolgreiches Neuromarketing

  • Coca-Cola: Der Cola-Test mit Hirnscanner zeigte, dass bei der Kenntnis, dass es sich um Coca-Cola handelt, Belohnungszentrum und Gedächtnisareale im Kopf stark durchblutet waren, bei Pepsi-Cola hingegen nicht. Marken aktivieren das Belohnungszentrum und lenken das Geschmackserlebnis! Coca-Cola nutzt in seinen Werbekampagnen emotionale Erzählungen, die mit dem Motto „Taste the Feeling“ verknüpft sind, wodurch die Marke nicht nur als Produkt, sondern auch als Quelle des Vergnügens positioniert wird.
  • Komatsu: Komatsu hatte einen neuen Hydraulikbagger entwickelt - noch besser in Handhabung und Leistungsfähigkeit. In der Vermarktung wurde die technische Überlegenheit durch eine dominante Produktdarstellung in den Vordergrund gestellt. Die Spitzenverkäufe blieben - entgegen jeglicher Erwartungen - allerdings aus. Mithilfe neurowissenschaftlicher Untersuchungen fand man heraus, dass durch den Schwerpunkt der Vermarktung zwar die Stärke und technische Finesse des Baggers veranschaulicht wurde, allerdings entscheidende Elemente der Geschicklichkeit und Souveränität des Baggerführers nicht dargestellt wurden. Die Vermarktungsstrategie wurde daraufhin geändert und ein Fokus auf die überlegene Handhabung durch den/die Baggerführer:in gesetzt.

Ethische Aspekte des Neuromarketings

Neuromarketing ist nicht unumstritten. Kritiker bemängeln, dass es versucht, die Kunden zu manipulieren und ihr Verhalten zu steuern. Die ethischen Grenzen berühren zentrale Fragen zur Verantwortung von Unternehmen in ihrer Fähigkeit, das Kundenverhalten tiefgreifend zu beeinflussen. Zwar bietet Neuromarketing wertvolle Einblicke in die Präferenzen und Entscheidungen der Verbraucher, doch birgt es auch das Risiko der Manipulation. Die Hauptbedenken drehen sich um den Schutz der Privatsphäre und die Autonomie des Konsumenten. Unternehmen stehen in der Pflicht, diese Technologien verantwortungsvoll einzusetzen, indem sie transparent agieren und die Grenzen zwischen Persuasion und Manipulation wahren.

Es ist wichtig, dass Unternehmen die gewonnenen Erkenntnisse verantwortungsvoll einsetzen und die Privatsphäre der Konsumenten respektieren. Transparenz und Aufklärung sind entscheidend, um das Vertrauen der Kunden zu gewinnen und ethisch vertretbares Neuromarketing zu betreiben.

Neuro-Selling im B2B-Telemarketing

Auch im B2B-Telemarketing kann Neuro-Selling eingesetzt werden, um Verkaufsgespräche effektiver zu gestalten. Es geht nicht um Manipulation, sondern um die bewusste Anwendung neurobiologischer Erkenntnisse, um Verkaufsdialoge effektiver zu gestalten. Es verlagert den Fokus von dem, was man verkauft, auf das, wie die Kaufentscheidung im Gehirn des Kunden getroffen wird.

Um Verkaufsgespräche wirkungsvoll zu gestalten, ist es entscheidend, die drei Hirnareale zu kennen, die an jeder Entscheidung beteiligt sind:

  • Das Reptiliengehirn: Dieses Areal ist für grundlegende Instinkte wie Überleben, Sicherheit und Gefahrenabwehr zuständig. Tipp: Reduzieren Sie wahrgenommene Risiken. Verwenden Sie Formulierungen, die Sicherheit signalisieren: „völlig risikofrei“, „bewährte Lösung“ oder „garantierte Ergebnisse“. Betonen Sie, wie Ihre Lösung Zeit, Geld oder Aufwand einspart.
  • Das Limbische System: Das limbische System ist der Sitz unserer Gefühle, Motivationen und des Belohnungssystems. Tipp: Schaffen Sie eine positive emotionale Resonanz. Erzählen Sie Geschichten von Kunden, die durch Ihre Lösung eine spürbare Verbesserung erfahren haben. Nutzen Sie eine freundliche, empathische Stimmlage. Aktivieren Sie das Belohnungssystem des Kunden durch exklusive Angebote oder positive Zukunftsvisionen.
  • Der Neocortex: Der Neocortex ist für logisches Denken, Sprache und komplexe Problemlösungen verantwortlich. Tipp: Liefern Sie nach der emotionalen Ansprache die notwendigen Fakten. Präsentieren Sie konkrete Daten, Fallstudien und Return-on-Investment (ROI)-Berechnungen.

Kritik am Neuro-Reduktionismus

Einige Hirnforscher haben sich übernommen: ihre Versprechungen sind nicht haltbar, ihre Vorstellungen nicht erreichbar. Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Neurone, der Reduktionismus mehr Verkaufsstrategie als Realität. Es ist wichtig, die Grenzen der Neurowissenschaften zu erkennen und den Menschen nicht auf seine neuronalen Prozesse zu reduzieren.

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Die natürliche Veranlagung etwa zur Sprache nützte uns wenig, würden wir nicht in einer Sprachgemeinschaft aufwachsen; und die Regeln einer solchen Sprachgemeinschaft lassen sich eben nicht (nur) mit den Methoden der Hirnforschung untersuchen. Reduktionismusangst passé. Wer es wissenschaftstheoretischer möchte, der führe sich vor Augen, dass die Erklärungen der Neurowissenschaften in der Regel mechanistische sind und keine reduktionistischen, siehe etwa die Arbeiten Carl Cravers und seiner Kollegen. Bei der reduktionistischen Erklärung, für die es im Übrigen gar nicht so viele gute Beispiele gibt, wie landläufig gedacht wird, kann eine reduzierende Theorie die reduzierte im Prinzip ersetzen. Bei der mechanistischen greifen aber häufig über verschiedene Ebenen und disziplinäre Grenzen hinweg Erklärungsteile ineinander.

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