Ein Schlaganfall kann das Leben von einer Minute auf die andere verändern und tiefgreifende, oft unsichtbare Einschränkungen im Alltag verursachen. Jährlich erleiden in Deutschland rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall, was ihn zu einer der häufigsten Ursachen für erworbene Behinderungen macht. Etwa 64 Prozent der Überlebenden sind ein Jahr später pflegebedürftig, und rund 15 Prozent leben in stationären Einrichtungen. Der Verlauf eines Schlaganfalls ist entscheidend für den Erfolg der Rehabilitation und die Möglichkeit, ein eigenständiges Leben zurückzugewinnen. Eine frühe Erkennung und gezielte Behandlung verbessern die Prognose deutlich.
Neuropsychologische Folgen eines Schlaganfalls
Ein Schlaganfall unterbricht die Hirndurchblutung, meist durch einen Gefäßverschluss (ischämischer Schlaganfall) oder seltener durch eine Blutung (hämorrhagischer Schlaganfall). Die neuropsychologischen Folgen hängen von Ort und Ausmaß der Schädigung ab. Läsionen in "strategischen" Arealen, wie Knotenpunkten für Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Planung, können selbst bei einem kleinen Infarkt komplexe Netzwerke aus dem Gleichgewicht bringen. Die Beeinträchtigungen gehen oft weit über den direkt geschädigten Bereich hinaus.
Kognitive Beeinträchtigungen
Bis zu 80 % aller Schlaganfall-Betroffenen leiden insbesondere in der Akutphase unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. Betroffen ist vor allem die Fähigkeit, sich länger zu fokussieren, Ablenkungen zu widerstehen und mehrere Aufgaben zu bewältigen. Auch das Gedächtnis kann beeinträchtigt sein, insbesondere das episodische Gedächtnis (Erinnerung an persönliche Ereignisse) und das prospektive Gedächtnis (Erinnerung an geplante Handlungen). Exekutive Funktionen wie Handlungsplanung, Flexibilität, Fehlerkontrolle und Zielausrichtung können ebenfalls betroffen sein, was zu Antriebsarmut, Apathie, Impulsivität oder Beharrungsneigung führen kann.
Sprachliche Beeinträchtigungen
Je nach Lokalisation der Schädigung kann eine Aphasie auftreten, wie z.B. eine Broca- oder Wernicke-Aphasie, eine globale Aphasie oder eine Wortfindungsstörung. Obwohl die Intelligenz unverändert bleibt, ist das Sprachvermögen deutlich beeinträchtigt. Selbst geringe sprachliche Einschränkungen können gravierende Folgen für die Kommunikation, die Selbstständigkeit und die berufliche Wiedereingliederung haben.
Neglect
Ein Neglect, also das Ausblenden einer Raum- oder Körperhälfte, tritt oft nach rechtshemisphärischen Parietalläsionen auf. Betroffene übersehen dann beispielsweise Gegenstände oder Personen, stoßen sich einseitig an oder essen nur von einer Tellerhälfte.
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Apraxie
Bei einer Apraxie sind erlernte Handlungsfolgen nicht mehr korrekt ausführbar, obwohl die Motorik und die Sprache an sich intakt sind. Komplexe Bewegungsabfolgen wie das Zähneputzen oder das Ankleiden geraten durcheinander. Ursache sind in der Regel parietale Läsionen. Eine Apraxie tritt etwa bei jedem vierten Schlaganfall-Patienten auf. Bei der Mehrzahl dieser Patienten ist die Störung nur vorübergehend. Bestehen die Symptome jedoch länger als zwei Wochen, so bleibt in etwa 30 Prozent der Fälle eine dauerhafte körperliche Behinderung zurück. Auch viele Demenzkranke leiden unter einer Apraxie. In der Rehabilitation sollen die Patienten die Bewegungen durch Imitation wieder erlernen. Das Gehirn muss dazu die Bewegung korrekt wahrnehmen, speichern, planen und schließlich ihre Ausführung koordinieren.
Vaskuläre kognitive Störung und Demenz
Ein Teil der Patientinnen und Patienten entwickelt im Verlauf eine vaskuläre kognitive Störung bis hin zur Demenz, die sich durch kombinierte Gedächtnis-, Aufmerksamkeits- und Exekutivdefizite sowie durch emotionale Veränderungen auszeichnet.
Emotionale und Verhaltensänderungen
Veränderungen der Stimmung, der Motivation und des Sozialverhaltens sind mindestens ebenso prägend wie kognitive Beeinträchtigungen. Depressive Störungen gehören zu den häufigsten neuropsychiatrischen Folgen eines Schlaganfalls. Sie äußern sich in gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Hoffnungslosigkeit, vermehrtem Grübeln und Schlafstörungen. Viele Betroffene leiden auch unter Ängsten, beispielsweise vor einem erneuten Insult, vor Abhängigkeit, Kontrollverlust oder sozialer Isolation. Weitere häufige Probleme sind Apathie, Post-Stroke Fatigue (anhaltende Erschöpfung) und Affektinkontinenz (unwillkürliche Gefühlsausbrüche).
Diagnostik neuropsychologischer Störungen
Eine differenzierte Diagnostik neuropsychologischer Störungen nach einem Schlaganfall bildet die Grundlage für eine erfolgreiche, individuelle Rehabilitation. Bereits im Akutkrankenhaus werden kurze Screening-Verfahren wie das Montreal Cognitive Assessment (MoCA), der Mini-Mental-Status-Test (MMST) oder DemTect eingesetzt, um kognitive Störungen rasch zu erfassen. Für die detaillierte Therapieplanung werden anschließend aufeinander abgestimmte Testbatterien eingesetzt, darunter Verfahren für das Gedächtnis (z. B. Wechsler Memory Scale), die Aufmerksamkeit (Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung, TAP), die Exekutivfunktionen (Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome, BADS) und die Sprache. Neben den Testverfahren ist die alltagsnahe Beurteilung entscheidend. Mittels Bildgebung (CT oder MRT) können Läsionen lokalisiert, alternative Diagnosen ausgeschlossen und das Ausmaß der Schädigung eingeschätzt werden. Ein besonderer diagnostischer Schwerpunkt liegt auf der Prüfung der Krankheitseinsicht, beispielsweise bei einer Anosognosie.
Therapieansätze bei Wahrnehmungsstörungen nach Schlaganfall
Die Behandlung neuropsychologischer Störungen ist ein zentraler Bestandteil der modernen Schlaganfallrehabilitation. Ziel ist es nicht nur, einzelne Defizite zu lindern, sondern die Lebensqualität, Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe insgesamt bestmöglich wiederherzustellen. Zusätzlich können medikamentöse Interventionen (z. B. zur Förderung von Aufmerksamkeit oder Stimmung) sowie psychotherapeutische Angebote zur Bewältigung emotionaler Belastungen zum Einsatz kommen. Entscheidend ist, dass die im Klinikalltag erreichten Fortschritte in den realen Alltag übertragen werden. Dies betrifft sowohl die Selbstversorgung und Mobilität als auch die berufliche und soziale Wiedereingliederung. Hierbei spielt die enge Abstimmung zwischen den beteiligten Disziplinen - Neurologie, Neuropsychologie, Logopädie, Ergo- und Physiotherapie sowie Sozialberatung - eine Schlüsselrolle.
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Neuropsychologische Rehabilitation
Die neuropsychologische Rehabilitation zielt auf die Reduzierung der durch die Hirnschädigung eingetretenen Behinderung ab. Hierbei wird angenommen, dass einzelne Verhaltensweisen und Fähigkeiten bestimmten Regionen des Gehirns zugeordnet werden können. Durch ein auf den Patienten abgestimmtes Training wird versucht, die Folgeschäden des Schlaganfalls im Alltag zu minimieren. Für den Therapieverlauf und die Therapieplanung ist es wichtig, zunächst die Defizite und die Ressourcen (verbleibenden Fähigkeiten) des Patienten zu erfassen und darauf aufbauend gemeinsam mit dem Patienten die Therapieziele festzulegen.
Therapieziele
Die Therapieziele können vielfältig sein und sich auf verschiedene Bereiche beziehen, z.B.:
- Restitution: Wiederherstellung der durch die Hirnschädigung verlorenen kognitiven Funktionen.
- Kompensation: Ausgleich irreversibel ausgefallener Funktionen durch andere psychische Funktionen oder Anpassung der sozialen Situation.
Trainingsmethoden
Die Auswahl der Trainingsmethoden orientiert sich am Schweregrad sowie an der Belastbarkeit der Patienten. Es gibt verschiedene Therapieansätze:
- Unspezifische Stimulation: Allgemeine und nicht zielgerichtete Sinnesanregungen zur Steigerung globaler Leistungen (z.B. "Snoezelen").
- Spezifische Stimulation: Training spezifischer Leistungen basierend auf detailliertem Wissen über die Art und das Ausmaß kognitiver Störungen.
- Computergestützte Verfahren: Training von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen, aber auch zur Rehabilitation der Einschränkungen durch ein Gesichtsfelddefekt.
- Störungsorientierte nicht computergestützte Verfahren: Spezifisches Training, z.B. zur Rehabilitation der Apraxie.
- Strategietraining: Einüben gezielter mentaler und/oder externer Strategien als Kompensationstraining.
- Einsatz von Hilfsmitteln: Führen eines Tagebuches bei Gedächtnisstörungen oder andere Hilfsmittel zur Kompensation beeinträchtigter Funktionen.
- Psychotherapeutisch orientierte Einzelgespräche: Bei psychiatrischer Begleitsymptomatik, z.B. depressiven Anpassungsstörungen.
Spezifische Therapieansätze für verschiedene Wahrnehmungsstörungen
- Apraxie: In der Rehabilitation sollen die Patienten die Bewegungen durch Imitation wieder erlernen.
- Neglect: Alle Therapieansätze zielen darauf ab, die Wahrnehmung der betroffenen Körper- und Raumhälfte wiederherzustellen. Beispiele sind visuelles Explorationstraining, Handeln im Raum, optokinetische Stimulation (OKS) und visuo-motorisches Feedbacktraining.
- Gesichtsfelddefekte: Computergestütztes Training zur Restitution von Gesichtsfelddefekten.
Online-Therapie bei Neglect
Neuropsychologen der Universität des Saarlandes haben eine Online-Therapie entwickelt, mit der Betroffene nach kurzer Zeit eine neue „Blickstrategie“ erlernen und visuelle Wahrnehmungsstörungen überwinden können. Die Betroffenen lernen schrittweise, visuelle Reize im gesamten Gesichtsfeld schneller zu erfassen.
Medikamentöse Unterstützung
Neuro-Psychopharmaka können in die Prozesse auf Neurotransmitterebene eingreifen. Antidepressiva können sich positiv auf die emotionale Stimmungslage auswirken. Bei vaskulärer Demenz können ChE-Hemmer die Kognition positiv beeinflussen, und Memantin kann die Nervenüberreizung durch den Botenstoff Glutamat verhindern.
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Frühzeitige Erkennung und kontinuierliche Behandlung
Eine erfolgreiche Rehabilitation nach einem Schlaganfall hängt entscheidend von der frühzeitigen Erkennung und kontinuierlichen Behandlung neuropsychologischer Störungen ab. Da sich kognitive und emotionale Einschränkungen oft schleichend entwickeln, können sie leicht übersehen werden. In modernen Schlaganfallzentren beginnt die Prävention bereits während der Akutbehandlung. Neben der medizinischen Stabilisierung sollten alle Patientinnen und Patienten routinemäßig auf kognitive und emotionale Störungen untersucht werden.
Ambulante neuropsychologische Therapie
Seit 2012 ist die ambulante neuropsychologische Therapie eine Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung, sofern eine klare Indikation vorliegt und die Behandlung durch entsprechend qualifizierte Therapeutinnen oder Therapeuten erfolgt. Das Angebot reicht von Einzel- und Gruppentherapien bis zu computergestützten Trainings. Ziel ist die alltagsnahe Förderung kognitiver Fähigkeiten und die Unterstützung bei Teilhabeproblemen, etwa im Beruf. Die Zuweisung erfolgt in der Regel durch Haus- oder Fachärzte.
Besondere Patientengruppen
Je nach Patientengruppe können sich neuropsychologische Störungen nach einem Schlaganfall in Form, Schwere und Verlauf deutlich unterscheiden. Für jüngere Menschen unter 60 Jahren, die meist noch im Berufs- und Familienleben stehen, bedeutet ein Schlaganfall häufig einen tiefgreifenden Einschnitt in den Lebensverlauf. Patientinnen und Patienten mit Vorerkrankungen benötigen eine besonders frühzeitige und umfassende Diagnostik sowie eine Therapie, die an den vorhandenen Fähigkeiten ansetzt und gezielt Ressourcen schont. Nach mehreren oder beidseitigen Schlaganfällen sind die neuropsychologischen Störungsbilder oft besonders komplex und erfordern eine langfristige, multiprofessionelle Begleitung.
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