ASMR: Die Wirkung von Flüstern und Rascheln auf das Gehirn

Noch vor einem Jahrzehnt galten Videos mit Flüstern, Klopfen oder sanftem Rascheln von Papier als eine Internetkuriosität, etwas zwischen einem seltsamen Experiment und einem neuen Entspannungsversuch. Doch ASMR hat überlebt und ist heute weit mehr als eine Randerscheinung. Die bekanntesten Creator zählen Millionen von Abonnenten, und ihre Videos erzielen jährlich Milliarden von Aufrufen. Aber warum hat ASMR überlebt, obwohl sich die Online-Welt rasant verändert? Was bewirkt, dass Menschen immer wieder zu diesen Klängen zurückkehren?

Die Ursprünge von ASMR

Die Anfänge von ASMR reichen in die 2000er Jahre zurück, als auf Plattformen wie YouTube erste Aufnahmen mit Flüstern und sanften Geräuschen auftauchten. Ihre Urheber - oft Amateure, die in heimischer Umgebung experimentierten - spielten mit Tönen, ohne genau zu wissen, warum bestimmte Geräusche ein angenehmes Kribbeln und tiefe Entspannung hervorrufen. Das Internet mit seiner unbegrenzten Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch sorgte dafür, dass sich ASMR schnell verbreitete.

Anfangs nahmen nur wenige ASMR ernst. Kritiker bezeichneten es als kurzlebige Modeerscheinung - ähnlich wie Memes oder andere Internettrends. Das Phänomen war schwer zu definieren, es fehlten klare wissenschaftliche Erklärungen. Doch trotz der Skepsis wuchs die Community stetig.

Was ist ASMR?

Als Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) wird ein Phänomen bezeichnet, bei dem bei betreffenden Personen bei bestimmten Sinnesreizen (sogenannte Trigger) angenehme körperliche und emotionale Empfindungen (sogenannte Tingles) ausgelöst werden, die als beruhigend empfunden werden. Meist handelt es sich um ein Kribbeln im oberen Kopfbereich, das sich über Hinterkopf und Genick bis in den oberen Schulterbereich ausbreiten kann.

ASMR kann aus verschiedenen Sinnesmodalitäten ausgelöst werden, etwa durch bestimmte Geräusche (z.B. langsames Entfalten von Zeitungspapier, ruhige Stimmen), angedeutete oder tatsächliche Berührungen am Kopf (etwa beim Friseurbesuch oder bei einer Routineuntersuchung beim Arzt), aber auch durch die persönliche Aufmerksamkeit und das zugewandte Verhalten einer anderen Person, welche die üblichen Distanzschwellen überschreitet.

Lesen Sie auch: Neuronale Kommunikation durch Synapsen

Die Rolle der Trigger

ASMR wird üblicherweise durch bestimmte Stimuli (sogenannte Trigger) ausgelöst, welche aus akustischen, oder einer Kombination aus akustischen und visuellen Reizen bestehen. Fast immer handelt es sich um Stimuli, die von anderen Menschen erzeugt werden. Es kann sich dabei um im Alltag unbeabsichtigt, aber auch um gezielt erzeugte Reize handeln, wie sie etwa von ASMR-Künstlern auf der Video-Plattform Youtube zur Verfügung gestellt werden. Nicht selten stellen sich Produktionen, welche zu einem anderen Zweck erzeugt worden sind, für die Konsumenten als sehr effektiv triggernde Medien heraus.

Sanft geflüsterte Worte sind die am häufigsten angewandten ASMR-Trigger, da sie für die Mehrheit (über 70 %) der ASMR-wahrnehmenden Menschen einen wirksamen Auslöser darstellen. Dies konnte durch eine Untersuchung von Davis und Barrat bestätigt werden, an der 475 Probanden beteiligt waren. Unterschiedlichste Geräusche können ASMR auslösen, darunter etwa Klopfen, Auseinanderfalten von Papier, Kau- und Schluck-Geräusche eines Menschen oder eines Tieres, mit dem Mund erzeugte Laute (beispielsweise ein „Sk“-Laut), sanftes Kratzen auf einer rauen Oberfläche, Schreiben und so weiter.

Neben spezifischen akustischen und/oder visuellen Stimuli beschreiben ASMR-Empfindende ähnliche oder gleiche Reaktionen, wenn sie simulierter oder tatsächlicher persönlicher Zuwendung ausgesetzt sind. Dies beginnt bereits beim Friseurbesuch, wenn der Rezipient etwa einer Kombination aus beiläufigen, aber achtsamen Berührungen im Bereich des Kopfs durch Hand und Schere ausgesetzt ist. Ähnliche Situationen können zum Beispiel eine Maniküre, Ohrenreinigungen oder Rücken- und Kopfmassagen sein.

Wesentliches Merkmal des ASMR-Phänomens ist dabei, dass die jeweiligen Empfindungen auch dann auftreten, wenn die triggernden Szenarien lediglich simuliert werden, etwa in einer Video- oder Audio-Aufnahme. Die Intensität der ASMR-Empfindungen kann auch bei Simulation genauso hoch oder sogar höher sein, als in der realen Situation. Gleichwohl können die Gefühle in einer realen Situation bei angedeuteten Berührungen intensiver sein, als wenn eine Berührung wirklich stattfindet.

Arten von ASMR-Rollenspielen

Unter den zahlreichen ASMR-Rollenspiel-Arten, die existieren, scheinen klinische Rollenspiele (zum Beispiel eine Routineuntersuchung beim Arzt) eine besondere, möglicher Weise auch klinische Bedeutung zu haben.

Lesen Sie auch: Serotonin: Ein Schlüsselregulator im Gehirn

Beispiele für ASMR-Geräusche

Zu den beliebtesten ASMR-Geräuschen zählen:

  • Klopfen auf verschiedene Materialien (zum Beispiel Holz, Kork, Glas)
  • Knistern (zum Beispiel mit Kirschkernkissen, Kaffeebohnen)
  • Essens- und Trinkgeräusche
  • Flüstern
  • Streichen und Kratzen (zum Beispiel Pinsel, Fingernagel, Feder)
  • Wassergeräusche (zum Beispiel prasselnder Regen)

Die Wirkung von ASMR auf das Gehirn

Studien zeigen, dass beim Hören von ASMR jene Hirnareale aktiviert werden, die auch bei Musik oder sanfter Berührung aktiv sind - Bereiche, die mit Emotion, Entspannung und Wohlgefühl verbunden sind. Leise, weiche Geräusche wie Flüstern oder sanftes Klopfen stimulieren das Nervensystem auf eine Weise, die keinen Stress auslöst, sondern angenehme Wärme, Ruhe oder sogar Euphorie hervorruft.

Aus neurobiologischer Sicht reagiert unser Gehirn auf natürliche Reize auf eine Weise, die Entspannung fördert. Klänge, die von Materialien stammen, die den Menschen seit Jahrtausenden umgeben - wie Holz, Wasser, Sand oder natürlicher Kork - vermitteln Sicherheit und Nähe zur Natur. Im Gegensatz zu synthetischen Tönen ermüden sie das Gehör nicht und erzeugen keine innere Anspannung.

Physiologische Reaktionen

ASMR kann eine Vielzahl positiver körperlicher Reaktionen hervorrufen: Die Verbindung der Bilder und Geräusche in den ASMR-Videos löst bei Menschen, die dafür empfänglich sind, ein wohliges Gefühl aus. Oft wird die Empfindung als ein wohliges Kribbeln am ganzen Körper beschrieben. Ähnlich wie autogenes Training kann ASMR einen tiefenentspannten Zustand hervorrufen und so einen gesunden Schlaf fördern. Des Weiteren kann sich durch das Anschauen der Clips der Herzschlag verlangsamen. Zugleich erhöht sich die sogenannte Hautleitfähigkeit, was auf eine Veränderung des Stresslevels hindeutet.

Beim längeren Schauen der Videos sinkt zudem nachweislich die Herzfrequenz. Man kann also besser entspannen und findet leichter in den Schlaf. Mittlerweile konnten auch Studien zeigen, dass ASMR bei einigen Menschen Erregung hervorruft.

Lesen Sie auch: Puzzeln: Ein mentaler Booster

Emotionale und psychologische Auswirkungen

ASMR wirkt auf mehreren Ebenen - körperlich, emotional und sensorisch. Es ist nicht nur eine körperliche Reaktion auf Klang, sondern auch ein emotionales Erleben: ein Gefühl von Geborgenheit, Zuwendung und Achtsamkeit. Viele Menschen berichten, dass ASMR ihnen hilft, besser zu schlafen oder mit Angst und Stress umzugehen.

Für Menschen, die aufgrund von Dauerstress nur schwer zur Ruhe kommen oder ängstlich sind, kann ASMR ein sehr gutes Werkzeug sein. Die leisen Geräusche helfen dabei, herunterzufahren und Stress abzubauen.

ASMR-Videos zeigen häufig vertraute alltägliche Szenen und Geräusche. Es ist also kein Wunder, dass durch das Anschauen der Clips das Bindungs- und Kuschelhormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Das Gehirn assoziiert das Signal mit Verbindung, Sicherheit und Geborgenheit. Wenn wir uns sicher fühlen, fällt es uns leichter, uns fallen zu lassen und zu entspannen.

ASMR als Therapieergänzung

Ein Nutzen dieses Phänomens könnte daher eine Therapieergänzung auch von ADHS und Komorbiditäten sein, zum Beispiel als attraktiver und leicht zugänglicher Ersatz etwa für das Autogene Training, wobei sich auch über eine klinische Wirksamkeit gegenüber ADHS und Komorbiditäten noch keine wissenschaftlich abgesicherten Aussagen treffen lassen.

Einige Experten, darunter der Universitätsprofessor und Schlaf-Forscher Carl W. Bazil (Columbia University Medical Center) gehen jedoch davon aus, dass ASMR für verschiedene Indikationen, darunter Schlaflosigkeit und Depressionen, eine wirkungsvolle Alternative zu bewährten Therapiemethoden wie Autogenes Training, Meditation, progressive Muskelrelaxation oder Hypnose darstellen könnte, vorausgesetzt, der Betroffene kann jeweils ASMR empfinden. Insbesondere Schlafprobleme und Depressionen zählen zu den besonders häufigen Komorbiditäten ADHS-Betroffener.

Die häufig geringe Therapie-Compliance der Betroffenen ist einer der bedeutendsten Problembereiche in der ADHS-Therapie. Unregelmäßige Teilnahmen, Therapieabbrüche und vorzeitige Resignation sind häufig. ASMR könnte sich als vorteilhaft für Betroffene eignen, da es leicht zugänglich und anwendbar ist und - als passive Anwendung mit unwillkürlich eintretendem Effekt - nicht erst erlernt werden muss. Die entsprechenden Medien sind spontan abruf- und anwendbar. Ein weiteres Kriterium, das ASMR für Betroffene attraktiv machen kann, ist die schier unendliche Variation der ASMR-Inhalte. Betroffene haben meist wenig Geduld, eine geringe Frustrations- und Langeweile-Toleranz und verlieren schnell das Interesse.

ASMR und Schlafstörungen

ASMR kann ein Teil deines Einschlafrituals sein - muss es aber nicht. Diese entspannenden und entschleunigenden Elemente kannst du außer ASMR in dein persönliches Schlafritual einbauen: Meditation oder Yoga, To-Do-Liste oder Journaling, Wellnessmomente, wärmender Schlummertrunk, Lesen oder Hörbuchhören.

Um gut einschlafen zu können, ist es laut Weeß vor allem wichtig, in einen Zustand der Ruhe und Entspannung zu finden. Somit hilft ASMR beim Einschlafen. Die Technik ist jedoch nur eine von vielen Entspannungsmethoden, die dabei unterstützen können.

ASMR und Depressionen

Ständiges Grübeln zählt zu den typischen Symptomen einer Depression. Hier kann ASMR unterstützen, indem der Fokus ganz auf das monotone Video gelenkt wird. Studien zeigen zudem, dass ASMR die Stimmung von Menschen mit Depressionen zeitweise verbessern kann. Eine Studie der Universität Sheffield belegte ebenfalls positive Effekte von ASMR bei Schlafstörungen und depressiven Verstimmungen.

Kritik und wissenschaftliche Betrachtung

Trotz seiner Popularität wird ASMR von einigen kritisiert und als „seltsamer Internettrend“ belächelt. Einige Journalisten und andere Kommentatoren haben auf die Tatsache hingewiesen, dass Nahaufnahmen des Gesichts bei sanft und flüsternd gesprochenen Worten unweigerlich sexuelle Assoziationen hervorrufen können.

Die Wissenschaft hat sich dem Phänomen ASMR erst seit Kurzem zugewandt, und es gibt noch viele offene Fragen. Einige Forschende vermuten, dass neurologische Unterschiede für die unterschiedliche Empfänglichkeit verantwortlich sind. Tom Staford, Forscher an der Universität Sheffield, sieht in der Empfänglichkeit für ASMR sogar eine Form der Synästhesie.

Forschungsergebnisse

Eine Studie aus 2016 konnte mit Hilfe von fMRT-Untersuchungen zeigen, dass bei Menschen mit ASMR-Empfindungen eine verstärkte Verbindung bestimmter Hirnareale vorliegt. Eine Studie des Jahres 2013, welche unter Leitung von William Kelley am Darthmouth College Imaging Laboratory (USA) mit Einsatz von fMRT durchgeführt wurde, konnte zeigen, dass ASMR-Videos zu einer erhöhten Aktivität somatosensorischer Systeme im Gehirn führen. Daneben zeigte sich eine erhöhte Aktivität zerebraler Areale, welche für Empathie und Selbstwahrnehmung verantwortlich sind. Zur Kontrolle wurden jeweils Videos ohne ASMR-Trigger verwendet.

Die Rolle des Default Mode Network (DMN)

Bei der Wirkung von ASMR spielt außerdem das sogenannte Default Mode Network (DMN) eine wichtige Rolle. Das DMN ist eine Gruppe von Hirnarealen, die aktiv werden, wenn wir uns nicht anstrengen müssen und ins Nichtstun kommen. Sie werden zum Beispiel aktiv, wenn wir tagträumen oder Zukunftspläne schmieden. Auch durch ASMR-Videos kann das Default Mode Network stimuliert werden.

Ist ASMR für jeden geeignet?

Nicht jeder Mensch ist für ASMR empfänglich. Einige Personen verstehen den Reiz der Videos nicht, weil die Clips bei ihnen keine körperlichen Reaktionen wie das typische angenehme Kribbeln hervorrufen. Forschende nehmen an, dass die Gehirne von Menschen, die auf ASMR nicht anspringen, das parallele Einschalten von Emotionen und Sinneseindrücken verhindern. Einige Personen können ASMR-Videos auch negativ triggern. Das gilt vor allem für Clips, in denen gegessen wird. Als Misophoniker werden Menschen bezeichnet, die Essgeräusche als äußerst unangenehm empfinden. Verständlicherweise sind ASMR-Videos, in denen hörbar große Mengen an Lebensmitteln verspeist werden, für diese Personen nur schwer erträglich.

Wie man ASMR erlebt

Um ASMR erleben zu können, sind die dafür gedachten Videos auch keinesfalls so unumgänglich, wie es scheint.

Tipps für den Einstieg

  1. Suchen Sie einen ruhigen und gemütlichen Ort.
  2. Finden Sie Ihre Vorlieben heraus. Hören Sie sich verschiedene ASMR-Trigger und -Creator an und probieren Sie sie aus. Nicht alles sagt jedem zu.
  3. Starten Sie Ihre Entspannungssession. Nutzen Sie (Stereo-)Kopfhörer. Am besten eignen sich Over-Ear Kopfhörer. Schließen Sie Ihre Augen.
  4. Legen Sie den Fokus auf die Sounds. Lassen Sie sich auf die Klänge und Geräusche ein und fokussieren Sie sich voll und ganz auf sie.
  5. Haben Sie die Session beendet, ruhen Sie sich ruhig noch einen Moment aus.

Verantwortungsvoller Konsum

Wie bei allen anderen Medien auch, ist ein sorgsamer Umgang wichtig. Achten Sie auf sich und andere. Während des Hörerlebnisses ist das Auftreten unangenehmer Empfindungen möglich. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Schwindelgefühle sind ebenfalls möglich. Fühlen Sie sich unwohl, beenden Sie die Session lieber. Konsumieren Sie die Inhalte nicht während Tätigkeiten, die Ihre volle Konzentration erfordern, wie zum Beispiel im Straßenverkehr oder bei potenziell gefährlichen Arbeiten. Achten Sie unbedingt auf Ihre Ohrengesundheit. Regeln Sie daher die Lautstärke auf Ihren Kopfhörern und setzen Sie sich ein zeitliches Limit, in dem Sie den Klängen und Geräuschen lauschen.

tags: #asmr #wirkung #gehirn