Die Gehirnentwicklung in der frühen Kindheit ist ein faszinierender Prozess, der die Grundlage für zukünftiges Lernen und Verhalten legt. Die Synapsenbildung, die Entstehung von Verbindungen zwischen Nervenzellen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Dieser Artikel beleuchtet den Prozess der Synapsenbildung, seine Bedeutung für die kognitive Entwicklung und die Faktoren, die ihn beeinflussen.
Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Gehirnentwicklung
Die ersten Lebensjahre sind eine Zeit rasanter kognitiver Entwicklung. Hirnforscher betonen, dass in dieser Lebensphase am meisten gelernt wird. Familie, Kindertageseinrichtung und Schule sind die drei gesellschaftlichen Institutionen, welche die kindliche Entwicklung in den ersten 10 Lebensjahren entscheidend prägen.
Neuronale Grundlagen: Von Neuronen zu Synapsen
Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) miteinander kommunizieren. Jede Nervenzelle hat ein Axon, das zwischen Bruchteilen eines Millimeters und mehr als einem Meter lang sein kann, und Dendriten, die sie mit vielen anderen Neuronen verbinden. Während ein Neuron seinen Input über die Dendriten erhält, leitet es nach Verarbeitung desselben seinen Output über das Axon weiter. Innerhalb der Nervenzelle geschieht dies durch elektrische Signale. Zwischen den Neuronen erfolgt die Kommunikation hingegen durch den Austausch von Neurotransmittern, d.h. von komplexen Aminosäuren wie Serotonin, Endorphin, Dopamin, Adrenalin usw.
Der Prozess der Synapsenbildung
Beim Fötus entwickelt sich im Gehirn zunächst eine Unmenge von Neuronen, von denen ein Großteil noch vor der Geburt wieder abgebaut wird. So startet ein Neugeborenes mit 100 Milliarden Neuronen (gleiche Anzahl wie bei Erwachsenen), die aber noch klein und wenig vernetzt sind. Dementsprechend beträgt das Gewicht seines Gehirns nur ein Viertel von dem eines Erwachsenen. In den ersten drei Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu - eine Gehirnzelle kann bis zu 10.000 ausbilden. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen, mit drei Jahren hat ein Kind bereits doppelt so viel. Die Anzahl (200 Billionen) bleibt dann bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts relativ konstant. Bis zum Jugendalter wird rund die Hälfte der Synapsen wieder abgebaut, bis die für Erwachsene typische Anzahl von 100 Billionen erreicht wird.
Verbunden mit diesem rasanten Wachstum von Synapsen ist eine rasche Gewichtszunahme des Gehirns: von 250 g bei der Geburt über 750 g am Ende des 1. Lebensjahrs bis 1.300 g im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht. Die Ausbildung von doppelt so viel Synapsen wie letztlich benötigt werden ist ein Zeichen für die große Plastizität des Gehirns - und die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkinds.
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Plastizität des Gehirns und "Entwicklungsfenster"
Die Überproduktion von Synapsen in den ersten wenigen Lebensjahren ermöglicht das schnelle Erlernen der Verhaltensweisen, Fertigkeiten, Kenntnisse usw., die für das Leben in unserer Gesellschaft benötigt werden. Ein großer Teil der weiteren Gehirnentwicklung bei Kindern besteht dann darin, die für ihre jeweilige Lebenswelt nicht relevanten Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren.
Die Überproduktion und Selektion von Synapsen erfolgen in verschiedenen Regionen des Gehirns mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität; sie erreichen ihren Höhepunkt zu jeweils anderen Zeiten. In diesem Zusammenhang wird oft von "Entwicklungsfenstern" oder "kritischen Phasen" gesprochen, in denen das Gehirn für bestimmte Lernerfahrungen besonders empfänglich sei, da dann die relevanten Synapsen ausgewählt und miteinander verknüpft, also die entsprechenden Regionen des Gehirns strukturiert würden. Werden diese Perioden verpasst, könnte ein Kind im jeweiligen Bereich kaum noch dieselbe Leistungsfähigkeit erreichen wie andere Personen.
Beispielsweise dauert die "sensible Phase" für den Spracherwerb bis zum 6. oder 7. Lebensjahr. Das Baby kann schon alle Laute jeder Sprache dieser Welt unterscheiden, das Kleinkind alle Phoneme korrekt nachsprechen. Innerhalb weniger Lebensjahre werden jedoch die Synapsen eliminiert, die diese Leistung ermöglichen, aber nicht benötigt werden, da sich das Kind in der Regel ja nur eine Sprache mit einer sehr begrenzten Zahl von Phonemen aneignet. Deshalb kann ab dem Schulalter, insbesondere ab der Pubertät, eine neue Sprache nicht mehr perfekt erlernt werden. Dieses Beispiel verdeutlicht aber auch, dass das Konzept der "kritischen Phasen" nicht überbetont werden darf. Sonst wird die Lernfähigkeit des Menschen außerhalb der sensiblen Periode unterschätzt - das Schulkind oder der Erwachsene kann eben doch eine zweite, dritte oder vierte Sprache lernen, wenn auch zumeist nur mit einem (leichten) Akzent.
"Use it or lose it": Optimierung des Gehirns im späteren Kindesalter
Ab dem 10. Lebensjahr gewinnt dann das Prinzip des "Use it or loose it" (Benutze es oder verliere es) eine überragende Bedeutung: Das Gehirn wird optimiert, d.h. diejenigen Synapsen, die häufig gebraucht werden, bleiben erhalten; die anderen werden eliminiert. Während in den ersten zehn Lebensjahren das Lernen leicht und sehr schnell vonstatten geht - insbesondere wenn es in die jeweiligen sensiblen Phasen fällt -, verlangt es in den folgenden Jahren immer mehr Anstrengung. Es gibt immer weniger überzählige, unbenutzte Synapsen; die Bahnen, in denen der Jugendliche oder Erwachsene denkt, sind in der Kindheit bereits grob festgelegt worden. Gänzlich neue Verbindungen zwischen Neuronen werden eher selten hergestellt. Das Gehirn hat eine bestimmte Struktur ausgebildet, von deren Art abhängt, in welchen Bereichen das Lernen leichter oder schwerer fällt. Ist z.B. ein Kind bilingual aufgewachsen, eignet es sich schneller eine dritte oder vierte Sprache an; hat es bereits im Kleinkindalter musiziert, wird es eher im Musikunterricht brillieren.
Erfolgreiches Lernen in späteren Lebensabschnitten setzt ferner voraus, dass man das Lernen gelernt hat. Kinder müssen erfahren haben, wie man Lernen plant und selbst überwacht, wie man sich Wissen aneignet und überprüft, welche Lernstrategien erfolgversprechend sind, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen, wie man das Gelernte durchdenkt und erinnert.
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Einflussfaktoren auf die Gehirnentwicklung
Deutlich wird, dass die Gehirnentwicklung stark durch das Lernen geprägt wird - sie ist ein Prozess, der von Erbe und Umwelt gleichermaßen bestimmt wird. So wird sie durch rund 60% aller menschlichen Gene beeinflusst. Die Umgebung wirkt schon vor der Geburt auf die Gehirnentwicklung ein, insbesondere über den Körper der Mutter: Negative Einflussfaktoren sind beispielsweise Fehlernährung, Rauchen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Stress oder der Umgang mit giftigen Substanzen am Arbeitsplatz während der Schwangerschaft.
Nach der Geburt wird die Gehirnentwicklung z.B. durch längere Krankenhausaufenthalte oder Heimunterbringung gehemmt, da dann Säuglinge bzw. Kleinkinder zu wenig Stimulierung erfahren. Dasselbe gilt für den Fall, dass die Mutter depressiv ist oder die Eltern ihr Kind vernachlässigen. Einen negativen Effekt können ferner frühkindliche Traumata oder Misshandlungen haben.
Eine positive Wirkung wird hingegen beispielsweise dem Stillen zugesprochen, da hier das Gehirn besonders gut mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen versorgt wird. So schnitten gestillte Kinder beim IQ-Test mit acht Jahren um durchschnittlich 8 Punkte besser ab - der Vorsprung war umso größer, je länger sie gestillt worden waren.
Von besonderer Bedeutung ist eine sichere Mutter- (Vater-) Kind-Bindung. Die Stimulierung und damit das Lernen sind viel intensiver, wenn die Eltern sich engagiert um den Säugling bzw. das Kleinkind kümmern, warm und empathisch reagieren, es liebkosen und trösten. Zugleich erlebt das Kind weniger Stress, wird es resilienter (widerstandsfähiger) und lernt besser, die eigenen Affekte und Emotionen zu kontrollieren.
Sehr positiv wirkt sich aus, wenn Kinder in einer besonders anregungsreichen Umwelt aufwachsen, in der sie außerordentlich viele und mannigfaltige Lernerfahrungen machen. Werden ihre Neugier, ihr Forschungsdrang und ihr Verständnis von der Welt gefördert, können sie viel selbst ausprobieren und mit Gegenständen experimentieren, werden sie mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert, können sie Aufgaben selbständig lösen und ihr Wissen weitergeben (z.B. an jüngere Geschwister: Lernen durch Lehren) bzw. immer wieder einsetzen (Lernen durch Wiederholung) - dann entwickeln sie ein stärker strukturiertes Gehirn mit größeren Neuronen und mehr Synapsen.
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Offensichtlich ist, dass es große Unterschiede zwischen Familien hinsichtlich des Grades der Stimulierung gibt, die Kinder erfahren - und das erklärt teilweise, wieso der Schulerfolg so stark von der familialen Umwelt abhängt. Hinzu kommt, dass in Familien auch in unterschiedlichem Maße Eigenschaften wie Lern- und Leistungsmotivation, Ehrgeiz, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen, Konzentrationsfähigkeit usw. oder schulisch relevante Interessen gefördert werden.
Unterschiede zwischen Geschlechtern
Individuelle Unterschiede gibt es schließlich auch zwischen den Geschlechtern. Mädchen greifen bei verbalen Tätigkeiten eher auf beide Gehirnhälften zurück. Sie fangen früher mit dem Sprechen an, sind sprachbegabter und schneiden dementsprechend besser ab bei verbal ausgerichteten Intelligenztests und bei Untersuchungen über das Lesen und Schreiben sowie hinsichtlich des assoziativen Gedächtnisses und der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Jungen zeigen hingegen bessere Leistungen bei nicht verbalen IQ-Tests, im Rechnen, hinsichtlich des naturwissenschaftlichen und technischen Verständnisses und bei visuell-räumlichen Analysen (z.B. räumliches Rotieren, Erkennen verborgener geometrischer Figuren). Diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind jedoch relativ schwach ausgeprägt. Allerdings variiert bei Jungen die geistige Leistungsfähigkeit stärker: Einerseits erzielen sie häufiger Spitzenleistungen, andererseits sind sie öfters lernbehindert. Ansonsten kann man auch bei diesen Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen davon ausgehen, dass sie zum Teil genetisch bedingt sind und zum Teil durch geschlechtsspezifische Erziehung, Geschlechtsrollenleitbilder, Vorbilder (z.B. Filmstars oder Sportler) und Medien hervorgerufen werden. Außerdem scheint das Spielverhalten von Bedeutung zu sein: Beispielsweise beschäftigen sich Jungen mehr mit Bauklötzen, Fußball-Spielen, Konstruktionsmaterial und Computerspielen, was die visuell-räumliche Koordination und das technische Verständnis fördert.
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