Die Neubildung von Nervenzellen: Ein Fachartikel über Neurogenese

Das menschliche Gehirn ist ein unglaublich komplexes Organ, dessen Funktionsweise Wissenschaftler noch immer nicht vollständig verstehen. Lange Zeit ging man davon aus, dass im erwachsenen Gehirn keine neuen Nervenzellen mehr entstehen. Doch die moderne Hirnforschung hat gezeigt, dass auch im Erwachsenenalter Neurogenese stattfindet, also die Neubildung von Nervenzellen. Dieser Artikel beleuchtet die Prozesse der Neurogenese, ihre Bedeutung für Lernen und Regeneration und die Faktoren, die sie beeinflussen.

Die Grundlagen der Neurogenese

Struktur und Funktion des Gehirns

Das Gehirn des Menschen besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen, den Neuronen, die über 100 Billionen Synapsen miteinander kommunizieren. Diese Neuronen sind in verschiedenen Hirnregionen organisiert, die jeweils spezifische Funktionen erfüllen. Das Großhirn, unterteilt in zwei Hemisphären, ist für höhere kognitive Funktionen wie Sprache, Denken, Gedächtnis und bewusste Wahrnehmung zuständig. Das Kleinhirn steuert Motorik und Gleichgewicht, während der Hirnstamm lebenswichtige Funktionen wie Atmung und Herzschlag reguliert.

Synaptische Plastizität und Langzeitpotenzierung (LTP)

Die Kommunikation zwischen Neuronen erfolgt über Synapsen, wo elektrische Signale in chemische Botenstoffe, die Neurotransmitter, umgewandelt werden. Diese Botenstoffe überqueren den synaptischen Spalt und binden an Rezeptoren auf der Empfängerzelle, wodurch dort ein neues elektrisches Signal ausgelöst wird. Die Stärke der synaptischen Verbindungen kann sich im Laufe der Zeit verändern, ein Phänomen, das als synaptische Plastizität bezeichnet wird. Ein wichtiger Mechanismus der synaptischen Plastizität ist die Langzeitpotenzierung (LTP), bei der die Effizienz der synaptischen Übertragung durch wiederholte Aktivierung verstärkt wird. LTP gilt als zelluläre Grundlage für Lernen und Gedächtnis.

Neurogenese im Erwachsenenalter

Bis in die 1960er-Jahre galt es als Dogma, dass im erwachsenen Gehirn keine neuen Nervenzellen entstehen. Doch die Entdeckung von Joseph Altman, der zufällig im Gehirn erwachsener Ratten auf junge Nervenzellen stieß, revolutionierte dieses Verständnis. Inzwischen ist unbestritten, dass Neurogenese auch im erwachsenen menschlichen Gehirn stattfindet, wenn auch in begrenzten Arealen.

Neurogenese bei Zebrafischen: Ein Modell für Regeneration

Die Regenerationsfähigkeit des Zebrafischgehirns

Zebrafische besitzen eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Regeneration von Gehirngewebe. Nach Hirntraumata können sie verlorengegangene Nervenzellen durch vorhandene neuronale Stammzellen so effizient ersetzen, dass sich größere Gehirnregionen komplett von selbst wiederherstellen. Diese Regenerationsfähigkeit des Gehirns bei Fischen wurde seit 50 Jahren vermutet, doch die Herkunft der neugebildeten Nervenzellen und die steuernden Mechanismen blieben lange Zeit ungeklärt.

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Identifizierung der neuronalen Stammzellen als Quelle der Regeneration

Dresdner Regenerationsforschern des DFG-Forschungszentrums für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) und dem Biotechnologischen Zentrum der TU Dresden (BIOTEC) ist es erstmals gelungen, die Quelle der wiederhergestellten Nervenzellen zu identifizieren. Sie wiesen nach, dass neuronale Stammzellen, sogenannte radiale Gliazellen, im Außenbereich des Gehirns des Zebrafisches die zerstörten Areale wiederherstellen können. Diese Zellen beschleunigen ihre Zellteilung und erhöhen damit die Produktion von neuen Nervenzellen, die dann in die Mitte des Gehirns wandern und die verlorenen Zellen im Verletzungsgebiet ersetzen.

Der stammzellbasierte Regenerationsmechanismus

Interessanterweise unterscheidet sich der neu entdeckte stammzellbasierte Regenerationsmechanismus grundlegend von dem des Herzens und des Skeletts bei Fischen. Dort entstehen neue Herzmuskel- und Skelettzellen nämlich ausschließlich aus vorhandenen ausgereiften Zellen, die sich in undifferenzierte Entwicklungsstufen zurückbilden und danach mit der Zellteilung beginnen (Dedifferenzierung).

Keine Narbenbildung im Zebrafischgehirn

Ein Hauptproblem bei Verletzungen im erwachsenen menschlichen Gehirn ist die Bildung von Narbengewebe, das unter anderem durch Ablagerungen von sternförmigen Gliazellen (Astrozyten) entsteht. Genau diese Verwandten der menschlichen Gliazelle, die radialen Gliazellen, erzeugen im Zebrafisch kein Narbengewebe, sondern neue Nervenzellen. Mit histologischen Methoden haben die Dresdner Regenerationsforscher ebenfalls nachgewiesen, dass im geschädigten Gehirn von Zebrafischen keine Narbenbildung stattfindet.

Übertragbarkeit auf den Menschen?

Die Gehirne von Mensch und Zebrafisch unterscheiden sich zwar oberflächlich betrachtet hinsichtlich Größe und Aussehen, sind aber neuroanatomisch und genetisch eng verwandt, bedingt durch ihre gemeinsame evolutionäre Abstammung. Es ist daher von grundlegender Bedeutung, die Regenerationsfähigkeit der Zebrafische zu verstehen, um möglicherweise eines Tages auch die Regeneration im menschlichen Gehirn anzuregen.

Neurogenese und Lernen

Die Rolle neuer Nervenzellen beim Lernen

Einiges deutet darauf hin, dass die neu gebildeten Nervenzellen im Gehirn von Erwachsenen eine wichtige Rolle beim Lernen spielen könnten. Sie erhalten Signale und senden dann selbst spezielle Impulsmuster. Insbesondere im Hippocampus, einer Hirnregion, die für das Gedächtnis von großer Bedeutung ist, werden kontinuierlich neue Nervenzellen gebildet.

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Synaptische Plastizität als Grundlage des Lernens

Lernen bedeutet im Grunde genommen, die Prozesse an den Synapsen so zu verändern, dass es leichter oder schwieriger wird, die Nervenzelle auf der anderen Seite des Spalts zu erregen. Wissenschaftler nennen dieses Phänomen synaptische Plastizität. Erfahrungen verändern die Synapse durch Mechanismen wie die Langzeitpotenzierung (LTP).

Die frühe und späte Phase der LTP

Es gibt vermutlich eine frühe und eine späte Phase der LTP. In der frühen Phase wird der Bedarf an einer Potenzierung ermittelt. Bedarf besteht, wenn eine Synapse mit hoher Frequenz aktiviert wird, was bei einem starken Reiz der Fall ist, und sich so äußert, dass präsynaptisch Botenstoffe noch ausgeschüttet werden, während gleichzeitig bereits postsynaptisch elektrische Potenziale ausgelöst werden. Diese Koinzidenz festzustellen, ist Sache des so genannten NMDA-Rezeptors. Um eine andauernde Veränderung der Synapse zu erreichen, braucht es die zweite Phase. Diese kommt erst durch weitere Reizung in Gang und sorgt für eine ganze Kaskade chemischer Prozesse.

Neurogenese und die "Use it or lose it"-Regel

Ab dem 10. Lebensjahr gewinnt das Prinzip des "Use it or lose it" (Benutze es oder verliere es) eine überragende Bedeutung: Das Gehirn wird optimiert, d.h. diejenigen Synapsen, die häufig gebraucht werden, bleiben erhalten; die anderen werden eliminiert. Während in den ersten zehn Lebensjahren das Lernen leicht und sehr schnell vonstatten geht, verlangt es in den folgenden Jahren immer mehr Anstrengung.

Faktoren, die die Neurogenese beeinflussen

Genetische Faktoren

Rund 60% aller menschlichen Gene wirken auf die Gehirnentwicklung ein. Der IQ ist aber nur zu etwa 50% genetisch bedingt, der Schulerfolg sogar nur zu 20%.

Umwelteinflüsse

Die Umgebung wirkt schon vor der Geburt auf die Gehirnentwicklung ein (z.B. die Stimme der Mutter, Musik und andere Geräusche), insbesondere über den Körper der Mutter: Negative Einflussfaktoren sind beispielsweise Fehlernährung, Rauchen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Stress oder der Umgang mit giftigen Substanzen am Arbeitsplatz während der Schwangerschaft. Nach der Geburt wird die Gehirnentwicklung z.B. gehemmt durch längere Krankenhausaufenthalte oder Heimunterbringung, da dann Säuglinge bzw. Kleinkinder zu wenig Stimulierung erfahren. Dasselbe gilt für den Fall, dass die Mutter depressiv ist oder die Eltern ihr Kind vernachlässigen. Einen negativen Effekt können ferner frühkindliche Traumata oder Misshandlungen haben. Eine positive Wirkung wird hingegen beispielsweise dem Stillen zugesprochen, da hier das Gehirn besonders gut mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen versorgt wird.

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Lebensstilfaktoren

Auch der Lebensstil spielt eine wichtige Rolle für die Neurogenese. Körperliche Aktivität, eine gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf fördern die Neubildung von Nervenzellen. Stress, Schlafmangel und eine ungesunde Ernährung hingegen können die Neurogenese beeinträchtigen.

Neurogenese und Alterung

Der Abbau grauer Hirnsubstanz im Alter

Bekannt ist, dass im Alter die sogenannte graue Hirnsubstanz abbaut, die vor allem Nervenzellen enthält. Es entstehen weniger neue Verknüpfungen zwischen den Zellen, die Denkleistung nimmt insgesamt ab. Neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson können diesen Prozess beschleunigen.

Evolutionär junge Hirnareale altern zuerst

Eine Untersuchung von Wissenschaftlern des Forschungszentrums Jülich und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ergab, dass die evolutionär jüngsten Areale im menschlichen Gehirn als Erstes altern. Hirnbereiche, die den Menschen von Schimpansen unterscheiden, verändern sich im Alter demnach besonders stark. Beim Menschen ist der präfrontale Kortex stark betroffen, der im Vergleich zu Schimpansen vergrößert ist. Dort sitzt nicht nur das Arbeitsgedächtnis, das Areal ist auch für die Selbstkontrolle zuständig.

Künstliche neuronale Netze: Eine Nachbildung des Gehirns

Memristive Bauelemente als Synapsen

Um die neuronale Aktivität zu simulieren, nutzen Forscher neben Computermodellen auch elektronische Schaltungen. Martin Ziegler und seine Kollegen von der Universität Kiel berichten, wie sich mit sogenannten memristiven Bauelementen die Funktion des Gehirns nachspielen lässt. Memristor ist ein Kunstwort aus den englischen Wörtern „memory“ für Speicher und „resistor“ für elektrischer Widerstand - also gewissermaßen Widerstände mit Gedächtnis.

Nachbildung des Bindungsproblems

Mit einer Schaltung basierend auf diesen festkörperelektronischen Bauelementen ist es gelungen, das sogenannte Bindungsproblem nachzubilden. Dies ist eines der großen Probleme in den Neurowissenschaften, das sich damit beschäftigt, wie das Gehirn Objekte erkennen kann.

Neuromorphe Computer

Die Idee ist, dass aus den neuromorphen Netzen neue Arten von Computern entwickelt werden, die der Funktionsweise des menschlichen Gehirns sehr viel näher kommen. Mit den neuromorphen Systemen versuchen wir nun, eine neue Art der Datenverarbeitung zu entwickeln, die der Funktionsweise des menschlichen Gehirns sehr viel näher kommt.

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