Fliegen Gehirn: Aufbau und Funktion – Ein umfassender Überblick

Das Gehirn der Fliege, insbesondere der Taufliege Drosophila melanogaster, ist trotz seiner geringen Größe von etwa 250 Mikrometern und der vergleichsweise wenigen Nervenzellen (ca. 100.000 bis 200.000) ein faszinierendes und leistungsfähiges System. Es ermöglicht komplexe Verhaltensweisen wie Navigation, Lernen, soziale Interaktionen und die Verarbeitung visueller Informationen. Die detaillierte Untersuchung des Fliegengehirns liefert wichtige Erkenntnisse für das Verständnis der neuronalen Grundlagen des Verhaltens und könnte langfristig auch zur Aufklärung der Funktionsweise komplexerer Gehirne, einschließlich des menschlichen Gehirns, beitragen.

Die komplexe Struktur des Fliegengehirns

Das Gehirn der Fruchtfliege ist unterschiedlich ausgestattet, je nachdem, ob sich die Fliege noch im Larvenstadium befindet oder schon erwachsen ist. Das Zentralnervensystem der erwachsenen Fliege besteht aus mehreren Hauptkomponenten:

  • Oberschlundganglion: Dies ist der größte Nervenknoten des Zentralnervensystems und liegt über dem Schlund. Es entspricht in seiner Funktion dem Gehirn bei Wirbeltieren und ist wichtig für das Lernen und die Verarbeitung höherer Sinnesfunktionen. Das Oberschlundganglion umfasst drei Abschnitte, darunter das Protocerebrum.
  • Unterschlundganglion: Seine genaue Funktion wird in den vorliegenden Informationen nicht näher erläutert.
  • Ventraler Nervenstrang: Dieser Strang ist funktionell mit dem Rückenmark von Wirbeltieren vergleichbar und ermöglicht die Ausführung komplexer motorischer Programme auch ohne Gehirnsteuerung.
  • Stomatogastrisches Nervensystem: Dieses System besteht aus Ganglien und Nerven und versorgt Mundhöhle, Vorderdarm und bestimmte Hormondrüsen. Es ist wichtig für die Futteraufnahme und Verdauung.

Am Protocerebrum, dem Verarbeitungszentrum aller höheren Sinnesfunktionen, befinden sich die beiden optischen Loben. Diese Gehirnlappen sind für die visuelle Verarbeitung zuständig. Das Protocerebrum ist außerdem Sitz des Pilzkörpers, der für die Fruchtfliege besondere Bedeutung hat.

Der Pilzkörper: Ein zentraler Knotenpunkt für Lernen und Verhalten

Der Pilzkörper spielt eine maßgebliche Rolle bei der Übersetzung von Sensorik in Motorik und ist somit an der Entscheidung beteiligt, wie sich ein Tier verhält. Er ist wichtig für das Duft-Lernen, wobei das sogenannte Sparse-Coding eine entscheidende Rolle spielt.

Die Geruchsinformation wird zunächst in wenigen hundert Neuronen im Antennenlappen kodiert. Dieser Geruchscode wird dann in den Pilzkörper projiziert, wo er auf etwa 4.000 Kenyon-Zellen trifft. Pro Geruch werden aber nur wenige dieser Kenyon-Zellen aktiv. Diese Zellen bilden wiederum sehr viele Synapsen mit Ausgangsneuronen des Pilzkörpers, und diese Synapsen verändern sich, wenn beispielsweise auf einen Duft eine Belohnung wie Zuckerwasser folgt.

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Neben der räumlichen gibt es auch eine zeitliche Spärlichkeit. Während Neurone im Antennenlappen ein bis zwei Sekunden für die Duftcodierung brauchen, sind die Kenyon-Zellen nur rund 50 bis 100 Millisekunden aktiv - und auch nur dann, wenn sich die Duftintensität ändert. Dies ermöglicht es den Fliegen, schnell auf kurze Dufteindrücke in ihrer Umgebung zu reagieren und die richtige Duftquelle anzusteuern.

Visuelle Verarbeitung im Fliegengehirn

Die Fliege erfasst die gesamte Welt auf einen Blick, denn ihre großen Facettenaugen gewähren einen 360°-Panoramablick. Optische Informationen verarbeitet die Fliege viel schneller als der Mensch. So würde eine Schmeißfliege einen Kinofilm mit 100 Bildern pro Sekunde noch als Einzelbilder erkennen, während der Mensch die dunklen Pausen bereits ab 24 Bildern pro Sekunde nicht mehr wahrnimmt. So kann die Fliege die rasant vorbeiziehende Umgebung zuverlässig erfassen und bewerten.

Heterogenität im Sehsystem

Entgegen der bisherigen Annahme, dass das Auge homogen verschaltet ist, haben Forscher herausgefunden, dass die Nervenzellen eines bestimmten Transmedulla-Zelltyps, genannt Tm9, nicht einheitlich, sondern unterschiedlich verschaltet sind. Dies könnte erklären, warum die Zellen auf einen bestimmten Reiz nicht immer in gleicher Art und Weise reagieren. "Offenbar sieht das Auge der Fliege an verschiedenen Punkten unterschiedlich." Die Frage ist nun, wozu diese Heterogenität dient - ob sie ein Nebenprodukt ist oder ob die Variabilität notwendig ist, um robuste Funktionen zu erfüllen.

Aufspaltung von Kontrastinformationen

Die Verarbeitung von Bildern beginnt bereits in der Netzhaut der Augen. Direkt nach den Fotorezeptoren werden Informationen zu Kontraständerungen in zwei Bildkanäle aufgetrennt: Während die L2-Zelle nur „Licht-aus“-Informationen weitergibt, reagieren die den L1-Zellen nachgeschalteten Neurone nur bei „Licht-an“. Diese Aufspaltung von Kontrastinformationen findet sich auch bei Wirbeltieren und deutet darauf hin, dass dieser Verarbeitungsweg schon früh in der Evolution entstanden ist. Es wird vermutet, dass das Gehirn auf diese Weise Energie spart.

Bewegungswahrnehmung

Im Flugkontrollzentrum der Fliege, der Lobula-Platte, reagieren einzelne Zellgruppen auf bestimmte Bewegungen. VS-Zellen reagieren beispielsweise nur auf Rotationsbewegungen der Fliege. Jede dieser Zellen erhält ihre Informationen nur von einem schmalen vertikalen Streifen des Fliegenauges. Die genauere Untersuchung der VS-Zellen brachte eine kleine Sensation ans Licht: Die Zellen reagieren in ihrem Eingangsbereich nur auf Bewegungen aus ihrem rezeptiven Feld, im Ausgangsbereich jedoch auch auf Bewegungen aus den rezeptiven Feldern ihrer Nachbarzellen. Dies ist möglich, da VS-Zellen elektrisch mit ihren Nachbarzellen verbunden sind.

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Das Konnektom der Fruchtfliege: Ein Meilenstein der Neurowissenschaften

Ein internationales Forschungsteam des FlyWire-Konsortiums hat erstmals eine vollständige Karte des Gehirns einer adulten Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) erstellt - das sogenannte Konnektom. Dieses Konnektom umfasst alle 139.255 Gehirnzellen und 54,5 Millionen Synapsen der Fliege. Die Aktivität in diesen Zellen steuert einen ganzen Organismus, von der Sinneswahrnehmung über die Entscheidungsfindung bis hin zur Steuerung von Handlungen wie dem Fliegen.

Die Erstellung des Konnektoms basierte auf Elektronenmikroskopie-Bildern, die mit neuen Bildgebungstechnologien aufgenommen wurden. Das FlyWire-Team entwickelte Methoden zur präzisen Ausrichtung der Bilder und nutzte maschinelles Sehen, um einzelne Neuronen automatisch zu rekonstruieren. Um Fehler zu korrigieren, wurde eine computerbasierte Infrastruktur aufgebaut, die es Forschenden weltweit ermöglichte, die Neuronen-Rekonstruktionen zu überprüfen.

Die Neurowissenschaftler haben diese Gehirnkarte zudem beschriftet und mit detaillierten Anmerkungen zu den einzelnen Zellen und Schaltkreisen versehen. Das Fliegenhirn umfasst demnach mehr als 8.400 verschiedene Zelltypen, sortiert in neun Superklassen, von denen 4.581 zuvor unbekannt waren. Darüber hinaus haben die Forschenden auch untersucht, welche Synapsen, Knotenpunkte und neuronalen Schaltkreise für bestimmte Verhaltensweisen oder Bewegungen zuständig sind.

Bedeutung des Konnektoms

Das Fliegenkonnektom gibt Einblicke, wie Informationen im Gehirn verarbeitet und in Verhalten umgewandelt werden. Einige dieser Prinzipien sind wahrscheinlich im menschlichen Gehirn ganz ähnlich organisiert. Außerdem wurden durch dieses Projekt viele Techniken entwickelt und Forschungsfortschritte erzielt, die ein wichtiger Schritt in Richtung des Mauskonnektoms oder vielleicht in einigen Jahren auch des menschlichen Konnektoms sind.

Die Techniken, die zur Konstruktion des Schaltplans des Fruchtfliegengehirns verwendet wurden, könnten künftig auch die Gehirne anderer Arten kartiert werden, berichten die Forschenden. Die Studie ebnet so den Weg für die vollständige Kartierung größerer Gehirne, einschließlich dem des Menschen. Nächste Etappenziele sind jedoch zunächst die Kartierung der Gehirne von männlichen Fruchtfliegen sowie von Mäusen.

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Die Fruchtfliege als Modellorganismus: Warum sie so wertvoll für die Forschung ist

Die Taufliege Drosophila ist der Superstar unter den Versuchstieren: klein, pflegeleicht und vermehrungsfreudig. Eine neue Fliegengeneration wächst in nur 10 Tagen heran. Viele heute bekannte Gene wurden zuerst in Taufliegen entdeckt. Auch die Struktur und Funktion von Nervenzellen und neuronalen Netzwerken ähneln sich im Menschen und in der Fliege. Und da Fliegen einiges lernen und sich vielfältig verhalten können, lassen sich auch neurowissenschaftliche Fragen gut an ihnen untersuchen.

Fruchtfliegen sind experimentell besonders zugänglich. Ihre Gene lassen sich in einzelnen Gewebe- oder Zelltypen gezielt aktivieren, blockieren oder in ihrer Funktion verändern. Auch die Aktivität einzelner Zellen oder Moleküle lässt sich im lebenden Tier gut manipulieren und beobachten. Fliegen eignen sich daher gut für die Untersuchung molekularer und zellulärer Mechanismen.

Im Gehirn der Fliege vereint der Pilzkörper auf kompaktem Raum wichtige Funktionen, die im menschlichen Gehirn auf unterschiedliche Regionen verteilt sind: die Integration von Sinneseindrücken, die Bildung und Speicherung von Erinnerungen und eine Entscheidungszentrale zur Verhaltenssteuerung. Im Pilzkörper lässt sich daher besonders gut integrativ untersuchen, wie Moleküle, Nervenzellen und Netzwerke zusammenwirken, um situations- und erfahrungsabhängiges Verhalten hervorzubringen.

Experimentelle Techniken

Die Liste der experimentellen Tricks, mit denen Drosophila untersucht werden kann, ist lang und wächst ständig. Hier ist eine Auswahl der beliebtesten Techniken:

  • Genetischer Screen: Fliegen werden Mutagenen ausgesetzt und ihre Nachkommen über mehrere Generationen auf veränderte Eigenschaften untersucht.
  • Gewebespezifische Genexpression: Mit der Entdeckung von Transposons wurde es möglich, das Fliegengenom gezielt zu verändern.
  • Gezielte Genveränderung: Will man testen, ob ein bereits bekanntes Gen eine Rolle in bestimmten Prozessen spielt, kann man seine Funktion mit verschiedenen Methoden gezielt verändern und dann untersuchen, was in dem jeweiligen Prozess passiert.
  • Optogenetik: Hier wird eine Nervenzelle oder Gruppen von Nervenzellen mit einem „Schalter“ versehen, der aus einem transgen exprimierten, lichtempfindlichen Protein besteht.

Aktuelle Forschungsprojekte

Mehrere Forschungsgruppen widmen sich der Erforschung des Fliegengehirns, um grundlegende Fragen der Verhaltenssteuerung zu beantworten. Ein Beispiel ist das Projekt „Simple Minds“, das sich mit der Frage beschäftigt, wie sensorische Informationen gefiltert werden, um Schlaf bzw. das Ein- und Durchschlafen zu ermöglichen. Die Forscher gehen der Hypothese nach, dass rhythmische Netzwerkaktivitäten dafür sorgen, dass nur bestimmte sensorische Stimuli durchgelassen werden und dass sich diese rhythmische Zustände abwechseln, so dass wir in einen Zustand der Selbstbezogenheit kommen, der nur durch einen starken oder eben bedeutsamen Reiz durchbrochen werden kann.

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