Wir alle kennen das Gefühl, wenn uns Menschen oder Situationen auf die Nerven gehen. Ob es der unaufmerksame Fußgänger auf dem Radweg, der laute Esser im Restaurant oder der nörgelnde Kollege im Büro ist - es gibt viele Auslöser für Irritationen. Doch warum reagieren wir so empfindlich auf bestimmte Verhaltensweisen, und was können wir dagegen tun? Dieser Artikel beleuchtet die psychologischen Hintergründe des Nervens und bietet Strategien, um das eigene Nervensystem zu beruhigen und gelassener mit schwierigen Menschen umzugehen.
Das Nervensystem im Alarmzustand
Unser Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das uns hilft, auf Bedrohungen und Stressoren zu reagieren. Es besteht aus dem zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) und dem peripheren Nervensystem, das die Informationen aus der Umwelt aufnimmt und an den Körper weiterleitet. Das vegetative Nervensystem, ein Teil des peripheren Nervensystems, reguliert automatisch lebenswichtige Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Verdauung. Es besteht aus zwei Hauptkomponenten:
- Sympathikus: Der „Turbo-Modus“ des Körpers, der uns auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Er aktiviert den Körper, erhöht Herzschlag und Blutdruck und schärft die Sinne.
- Parasympathikus: Der „Entspannungsmodus“, der für Erholung, Verdauung und Stoffwechsel zuständig ist. Ein wichtiger Teil des Parasympathikus ist der Vagusnerv, der als „Bremse“ für das vegetative Nervensystem fungiert und den Körper beruhigen kann.
In Gefahrensituationen oder bei Stress aktiviert der Sympathikus eine Kaskade neurologischer und hormoneller Reaktionen, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen. Adrenalin sorgt für eine bessere Durchblutung der Muskeln, Cortisol hält uns auf Trab und Endorphine helfen, nicht in Panik zu verfallen. Herzschlag und Atmung beschleunigen sich, die Muskeln spannen sich an und die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab.
Von Säbelzahntigern und modernem Stress
Während unsere Vorfahren in der Steinzeit mit akuten Bedrohungen wie Säbelzahntigern konfrontiert waren, sind die Stressfaktoren in der modernen Zeit oft chronischer Natur. Ständige Erreichbarkeit, Überstunden, Großstadtlärm, Mental Load und tausend To-dos lassen sich nicht so schnell abschütteln. Dies führt dazu, dass der Sympathikus dauerhaft aktiviert bleibt und wir ständig „unter Strom“ stehen.
Aktuelle Forschungen zeigen, dass chronischer Stress zu einer dauerhaften sympathischen Dominanz führen kann. Das Nervensystem reagiert dabei nicht auf die tatsächlichen Ereignisse, sondern auf unsere Interpretation dieser Ereignisse. Bei normalen, kurzzeitigen Stressreaktionen kann sich das vegetative Nervensystem innerhalb von 20 - 30 Minuten wieder beruhigen. Bei längerer Belastung kann es jedoch Wochen bis Monate dauern, bis sich das dysregulierte Nervensystem wieder stabilisiert. In manchen Fällen, insbesondere bei traumabedingter Dysregulation, kann professionelle Unterstützung erforderlich sein.
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Symptome eines überreizten Nervensystems
Ein überreiztes Nervensystem äußert sich durch verschiedene Symptome, darunter:
- Herzklopfen
- Schlafstörungen
- Chronische Verspannungen
- Reizbarkeit
- Konzentrationsprobleme
- Verdauungsstörungen
- Das Gefühl, ständig „unter Strom“ zu stehen
Wenn du dich in mehreren dieser Symptome wiedererkennst, ist es wichtig, diese Warnsignale bewusst wahrzunehmen und Maßnahmen zu ergreifen, um dein Nervensystem zu beruhigen.
Strategien zur Beruhigung des Nervensystems
Es gibt verschiedene Strategien, um das Nervensystem zu beruhigen und die Stressreaktion zu reduzieren. Diese lassen sich in kurzfristige und langfristige Ansätze unterteilen:
Kurzfristige Beruhigungstechniken
- Die 4-7-8-Atemtechnik: Diese Atemübung kann helfen, in akuten Stressmomenten den Parasympathikus zu aktivieren und den Körper zu beruhigen. Atme dazu 4 Sekunden lang ein, halte den Atem 7 Sekunden lang an und atme 8 Sekunden lang aus.
- Achtsamkeitsübungen: Konzentriere dich auf deine Sinne, um dich im Hier und Jetzt zu verankern. Nimm bewusst wahr, was du siehst, hörst, riechst, schmeckst und fühlst.
- Progressive Muskelentspannung: Spanne gezielt verschiedene Muskelgruppen an und entspanne sie anschließend wieder. Dies kann helfen, körperliche Verspannungen zu lösen und das Nervensystem zu beruhigen.
Langfristige Strategien zur Regulierung des Nervensystems
- Körperliche Aktivität: Sport hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist. Regelmäßige Bewegung kann so langfristig einem Burnout vorbeugen.
- Vagusnerv-Stimulation: Der Vagusnerv lässt sich durch gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen bewusst aktivieren. Die Zwerchfellatmung gilt als Goldstandard für Stressreduktion und kann den Cortisol-Spiegel senken.
- Meditation und Achtsamkeit: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und die Stressresilienz stärken.
- Schlafhygiene: Sorge für ausreichend Schlaf, da guter Schlaf essenziell ist, um das Nervensystem beruhigen zu können.
- Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.
- Emotionen zulassen: Erlaube dir, deine Emotionen herauszulassen, anstatt sie zu unterdrücken. Manchmal kann es guttun, einfach mal zu weinen und die angestauten Emotionen loszuwerden.
Psychologische Perspektiven auf das Nerven
Neben den physiologischen Aspekten spielt auch die psychologische Perspektive eine wichtige Rolle beim Thema Nerven. Warum regen uns bestimmte Menschen so viel schneller und mehr auf als andere? Psychologen sind sich einig, dass die Antwort oft in uns selbst liegt.
Projektion und innere Konflikte
In vielen Fällen projizieren wir unsere eigenen Gefühle, Eigenschaften und inneren Konflikte auf Situationen mit anderen Menschen. Anstatt uns damit auseinanderzusetzen, spiegeln wir unsere Traumata und laden sie damit auf die Person ab, die uns vermeintlich schon mit ihrer bloßen Existenz furchtbar aufregt.
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Wenn wir eine sehr starke Reaktion auf eine Person haben, kann das oft eine Projektion sein. Wir projizieren Schattenelemente unserer selbst auf die Situation. Solche Aspekte unserer Persönlichkeit sind meist gänzlich unbewusst, es handelt sich dabei oft um ungelöste Konflikte, innere Verletzungen oder Eigenschaften, die wir lieber verdrängen möchten.
Finalität statt Kausalität
Anstatt uns auf die Ursachen des Verhaltens anderer zu konzentrieren (Kausalität), kann es hilfreich sein, den Zweck ihres Verhaltens zu betrachten (Finalität). Was möchte eine Person mit ihrem Verhalten erreichen? Welche Bedürfnisse werden aus dem Verhalten deutlich?
Der Kollege, der zum zehnten Mal die „lustige“ Geschichte von der Reifenpanne in Italien erzählt, möchte vielleicht Kontakt aufnehmen und sich mit uns verbunden fühlen. Die Freundin, die uns ins Wort fällt und darauf hinweist, dass wir „Zucchini“ nicht mit ch aussprechen, möchte sich vielleicht gut darüber fühlen, dass sie fremdsprachliches Talent besitzt.
Wenn wir verstehen, was der schwierige Mensch mit seinem Verhalten wirklich bewirken will, können wir besser darauf eingehen und im Idealfall gemeinsam eine Lösung finden.
Umgang mit schwierigen Menschen
- Grenzen setzen: Wenn andere eine unserer roten Linien überschreiten, ist es wichtig, höflich Grenzen zu setzen.
- Emotionale Distanz: Versuche, eine größtmögliche emotionale Distanz zwischen dir und der Nervensäge zu bringen und dabei die Perspektive von dir auf das Gegenüber zu lenken.
- Gemeinsamkeiten suchen: Suche bewusst nach einer Gemeinsamkeit mit der Person.
- Mini-Auszeiten nehmen: Schaffe dir Mini-Auszeiten, um der Situation zu entfliehen und dich zu beruhigen.
- Verständnis zeigen: Versuche, dem nervigen Menschen einen Verständnis-Vorschuss zu gewähren.
- Nicht persönlich nehmen: Nimm Verbalattacken von schwierigen Menschen nie persönlich.
- Ruhig und sachlich bleiben: Um eine verfahrene Gesprächssituation nicht eskalieren zu lassen, ist es wichtig, dass du ruhig und sachlich bleibst.
- Ich-Botschaften senden: Sende eine klare Ich-Botschaft und entferne dich aus der Situation.
Toxische Menschen loswerden
Manchmal ist es notwendig, sich von toxischen Menschen zu distanzieren, die uns Energie rauben und unser Wohlbefinden beeinträchtigen. Diese Menschen stellen ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund, fordern Aufmerksamkeit und Hilfestellung ein, ohne zu merken, dass andere auch ihre „Päckchen zu tragen haben“.
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Wenn du realisiert hast, dass dir bestimmte Menschen nicht (mehr) gut tun, dass sie dich runterziehen, dass sie dich ausgenutzt haben oder schlecht über dich sprechen, distanziere dich von ihnen. Schaffe auch zeitlichen Abstand und reagiere nicht immer sofort auf ihre Anfragen.