Der Mythos der 10-Prozent-Gehirnnutzung: Fakten und Fiktionen

Seit über einem Jahrhundert hält sich hartnäckig der Mythos, dass Menschen lediglich 10 % ihrer Gehirnkapazität nutzen. Diese Vorstellung ist nicht nur in der Popkultur präsent, sondern findet auch in Motivations- und Selbsthilferatgebern Anklang. Selbst unter Studierenden der Psychologie und Biologie glauben Umfragen zufolge über zwei Drittel an die Richtigkeit dieser Behauptung. Doch was steckt wirklich dahinter?

Ursprünge und Verbreitung des Mythos

Der genaue Ursprung des 10-Prozent-Mythos ist unklar. Es wird vermutet, dass er auf Missverständnissen wissenschaftlicher Aussagen beruht. Eine mögliche Quelle ist die Aussage von Marie-Jean-Pierre Flourens aus dem Jahr 1842, dass man gewisse Teile der zerebralen Lappen von Tauben entfernen kann, ohne ihre Funktion zu zerstören.

Populärpsychologische und Selbsthilfebücher, die von fachfremden Autoren verfasst wurden, trugen ebenfalls zur Verbreitung des Mythos bei. In jüngster Zeit wurde er von Persönlichkeiten wie Ron Hubbard, dem Gründer von Scientology, und dem Illusionisten Uri Geller aufgegriffen, um das vermeintlich ungenutzte Potenzial des menschlichen Denkens und Handelns zu unterstreichen.

Was bedeutet "Gehirnkapazität"?

Eine der ersten Herausforderungen bei der Auseinandersetzung mit dem 10-Prozent-Mythos ist die Definition von "Gehirnkapazität". Bezieht sich der Begriff auf das Volumen des Gehirns, die Gedächtnisleistung oder die Intelligenz? Unabhängig von der Interpretation gibt es zahlreiche Argumente aus verschiedenen Fachrichtungen, die den Mythos widerlegen.

Argumente gegen den 10-Prozent-Mythos

Evolutionäre Perspektive

Das Gehirn macht zwar nur 2 % der Körpermasse aus, verbraucht aber 20 % der Energie, die der Ernährung der Nervenzellen dient. Aus evolutionsbiologischer Sicht wäre es ineffizient, 90 % des Gehirns ungenutzt zu lassen und dennoch mit Energie zu versorgen. Ein solches ineffizientes System hätte einen Selektionsnachteil dargestellt und zur Entwicklung kleinerer, energiesparenderer Gehirne geführt.

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Auswirkungen von Hirnschädigungen

Selbst kleinste Verletzungen im Gehirn können schwerwiegende Auswirkungen haben und mit dem Verlust bestimmter Fähigkeiten einhergehen. Unter günstigen Umständen können Schäden durch die kortikale Plastizität kompensiert werden, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Großteil des Gehirns inaktiv ist. In der Realität führt fast jede Hirnschädigung zu Einschränkungen, was darauf hindeutet, dass die betroffenen Hirnregionen zuvor eine Funktion hatten.

Bildgebende Verfahren

Hirnscans wie PET und fMRT ermöglichen es, die Hirnaktivität live sichtbar zu machen. Obwohl nicht alle Neuronen gleichzeitig feuern, sind alle Areale des Gehirns während unterschiedlicher Tätigkeiten aktiv. Selbst im Schlaf ist die Aktivität weitaus höher als 10 %.

Das Gehirn in Aktion: Wie wir unser Gehirn tatsächlich nutzen

Obwohl die Behauptung, wir würden nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen, falsch ist, ist es wichtig zu verstehen, wie unser Gehirn tatsächlich funktioniert.

Spezialisierung und Vernetzung

Das Gehirn ist ein komplexes Organ, das aus Milliarden von Nervenzellen besteht, die durch Milliarden von Verbindungen miteinander vernetzt sind. Diese Nervenzellen sind nicht immer alle gleichzeitig aktiv. Die verschiedenen Bereiche unseres Gehirns werden nacheinander aktiviert, wobei unser Gehirn stets nur die relevanten Bereiche für eine bestimmte Aufgabe aktiviert, um Energie zu sparen. Das Gehirn arbeitet oft so, dass viele entfernte Bereiche sich miteinander vernetzen. Erinnerungen zum Beispiel entstehen eher durch Aktivitätsmuster, bei denen ganz entfernte Teile des Gehirns aktiv sind.

Die linke Hemisphäre ist in den meisten Fällen mit Sprache, Erinnerungen und Sprechen verbunden. Sie führt Berechnungen durch und arbeitet an der Lösung von Problemen. Die rechte Hemisphäre ist eher mit der Interpretation von Bildern, handwerklichen Fähigkeiten, Intuition und der Wahrnehmung von Musik verbunden. Bei den meisten Menschen steuern die Hemisphären entgegengesetzte Seiten des Körpers.

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Neuroplastizität: Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns

Das Gehirn ist nicht starr, sondern passt seine Funktionalität den Erfordernissen an. Diese Fähigkeit wird als Neuroplastizität bezeichnet. Studien haben gezeigt, dass sich die Hirnstruktur von Menschen nach Schädigung bestimmter Hirnbereiche ändern kann. So können beispielsweise die ehemals für die visuelle Verarbeitung verantwortlichen Bereiche bei erblindeten Personen neue Funktionen übernehmen. Auch Schwangerschaften oder neue Jobs verändern Gehirne. Das Einprägen von Straßennetzen führte beispielsweise bei Taxifahrern in London dazu, dass sich bestimmte Bereiche für räumliche Orientierung im Gehirn vergrößerten.

Das Gehirn als Energiesparwunder

Das Gehirn ist ein Energiesparwunder. Es stellt sicher, dass sogenannte Ruhepotenziale aufrechterhalten bleiben und für geistige Aktivität zur Verfügung stehen. Dabei geht unser Gehirn extrem sparsam mit Energie um, indem es stets nur die relevanten Bereiche aktiviert.

Können wir unser Gehirn optimieren?

Die Vorstellung, dass wir unser Gehirn optimieren und bewusst trainieren können, ist verlockend. Tatsächlich ist es möglich, die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu steigern, indem man es regelmäßig trainiert. Es ist wie beim Muskeltraining: Bauchmuskeln sind bei jedem Menschen vorhanden, aber nicht unbedingt ein Sixpack.

Gehirntraining: Was bringt es wirklich?

Viele ältere Menschen trainieren mit Logikrätseln, Knobelaufgaben und Zahlenspielen, um geistig fit zu bleiben. Unternehmen versprechen mit täglichem „Gehirnjogging“ sogar eine Steigerung der Gehirnleistung von bis zu 40 Prozent. Doch hier ist Vorsicht geboten. „Gehirnjogging“ zeigt eigentlich nur, dass regelmäßiges Üben Fertigkeiten verbessert und Aufgaben in der Wiederholung besser gelöst werden. Dass dabei die Gehirnleistung verbessert wird, ist nicht bewiesen.

Was wirklich hilft: Vielfältige Herausforderungen und ein gesunder Lebensstil

Wer sein Gehirn ein Leben lang auf vielfältige Art und Weise sowie in unterschiedlichsten Bereichen wie Bildung, Beruf und Freizeit herausfordert, bleibt auch im Alter geistig aktiv. Dabei helfen zusätzlich soziale Kontakte und Sport, um mentalen Abbau ganzheitlich zu vermeiden.

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Eine ausgewogene Ernährung ist ebenfalls wichtig für das Gehirn. Fette, wie sie in panierten Speisen und vielen Fastfood-Produkten stecken, führen zu Ablagerungen im Gehirn. Diese blockieren Reizübertragungen und lösen Entzündungen aus. Dadurch sterben Nervenzellen ab. Sich gesund zu ernähren, hält also auch das Gehirn fit.

Weitere Mythen rund um das Gehirn

Neben dem 10-Prozent-Mythos gibt es noch weitere populäre Vorstellungen über das Gehirn, die nicht immer der Wahrheit entsprechen:

  • Geschlechtsspezifische Gehirne: Die Vorstellung, dass weibliche Gehirne anders arbeiten als männliche Gehirne, ist hinfällig. Studien zeigen nur minimale Abweichungen, die keine geschlechtsspezifischen Attribute ableiten lassen.
  • Dominante Gehirnhälften: Die Annahme, dass die linke Hirnhälfte für logisches Denken und die rechte Hälfte für Kreativität und Emotionen zuständig ist, ist ebenfalls falsch. Beide Gehirnhälften sind durch starke neuronale Verbindungen vernetzt und ermöglichen kreatives und analytisches Denken.
  • Zucker als Gehirnnahrung: Traubenzucker oder Schokolade liefern nur kurzfristig Energie, aber keinen langfristigen Schub für die Konzentration. Besser sind langkettige Kohlenhydrate, die etwa in Vollkornprodukten zu finden sind.
  • Der Mozart-Effekt: Die Vorstellung, dass das Hören von Mozart-Musik die Intelligenz steigert, ist umstritten. Studien haben zwar gezeigt, dass Musik das räumliche Denkvermögen verbessern kann, aber ob dies tatsächlich mit der Musik von Mozart zusammenhängt, muss weiter erforscht werden.

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