Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes und komplexes Organ, das bis heute nicht vollständig erforscht ist. Um dieses Organ ranken sich viele Mythen und Missverständnisse. Einer der hartnäckigsten ist der Mythos, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen - meist wird von etwa 10 Prozent gesprochen. Doch was ist dran an dieser Behauptung? Dieser Artikel geht dem Mythos auf den Grund und präsentiert aktuelle Erkenntnisse der Hirnforschung.
Der Mythos von den 10 Prozent
Die Vorstellung, dass wir nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen, ist weit verbreitet. Sie findet sich in Filmen, Büchern und Ratgebern und wird oft als Ansporn genutzt, das vermeintlich ungenutzte Potenzial unseres Gehirns zu aktivieren. Der Mythos suggeriert, dass wir viel intelligenter, leistungsfähiger und kreativer sein könnten, wenn wir die restlichen 90 Prozent unseres Gehirns nutzen würden.
Ursprung des Mythos
Die genauen Ursprünge des 10-Prozent-Mythos sind unklar. Er wird fälschlicherweise oft Albert Einstein oder Margaret Mead zugeschrieben. Eine mögliche Quelle könnte in den frühen neurowissenschaftlichen Forschungen des 19. Jahrhunderts liegen, in denen Wissenschaftler wie Marie-Jean-Pierre Flourens Experimente an Tiergehirnen durchführten. Flourens fand heraus, dass Tiere mit einem Bruchteil ihres Gehirns lebensfähig sind. Diese Erkenntnisse wurden jedoch falsch interpretiert und auf den Menschen übertragen.
Eine andere mögliche Erklärung ist die Beobachtung, dass Menschen nach Schädigungen bestimmter Hirnbereiche keine offensichtlichen Defizite zeigen. Dies führte zu der Annahme, dass ein Großteil des Gehirns ungenutzt ist. Der amerikanische Psychologe William James trug ebenfalls zu diesem Mythos bei, indem er sagte, dass die meisten Menschen nicht ihr volles geistiges Potenzial erreichen. Er meinte damit jedoch nicht einen konkreten Anteil ungenutzten Gehirns, sondern lediglich die Feststellung, dass viele Menschen geistig träge sind.
Verbreitung des Mythos
Der Mythos wurde im Laufe der Zeit von verschiedenen Persönlichkeiten und Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. Der Kommunikationstrainer Dale Carnegie erwähnte ihn 1937 in seinem Bestseller "Wie man Freunde gewinnt". Der Science-Fiction-Autor Aldous Huxley führte den Mythos 1960 in einem Vortrag über menschliche Potentiale an. Auch in Filmen wie "Lucy" und "Ohne Limit" wird der Mythos thematisiert, um die Vorstellung von übernatürlichen Fähigkeiten zu erzeugen.
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Die Fakten: Was sagt die Wissenschaft?
Die moderne Hirnforschung hat den 10-Prozent-Mythos widerlegt. Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass wir nur einen kleinen Teil unseres Gehirns nutzen. Im Gegenteil, Studien zeigen, dass wir unser gesamtes Gehirn nutzen, wenn auch nicht immer gleichzeitig.
Argumente gegen den Mythos
- Evolution: Das Gehirn macht nur etwa 2 Prozent unserer Körpermasse aus, verbraucht aber rund 20 Prozent unseres Energiebedarfs. Aus evolutionärer Sicht wäre es ineffizient, einen so großen Teil des Gehirns ungenutzt zu lassen. Der Körper würde keine Zellen "durchfüttern", die nicht benötigt werden.
- Hirnschädigungen: Jede Schädigung des Gehirns, selbst kleinste Verletzungen, führt in der Regel zu Einschränkungen. Dies deutet darauf hin, dass alle Bereiche des Gehirns eine Funktion haben und benötigt werden.
- Bildgebende Verfahren: Moderne bildgebende Verfahren wie fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) und PET (Positronenemissionstomographie) zeigen, dass während verschiedener Tätigkeiten unterschiedliche Bereiche des Gehirns aktiv sind. Es gibt keine inaktiven Bereiche im Gehirn. Selbst im Schlaf ist ein Großteil des Gehirns aktiv.
- Neuroplastizität: Das Gehirn ist in der Lage, sich an neue Umstände anzupassen und seine Funktionalität zu verändern (Neuroplastizität). Wenn bestimmte Hirnbereiche beschädigt werden, können andere Bereiche deren Funktionen übernehmen. Dies zeigt, dass das Gehirn keine starre Masse ist, sondern überaus flexibel auf die Umwelt reagiert.
Wie viel Prozent unseres Gehirns nutzen wir?
Es ist unmöglich, in Prozent anzugeben, wie viel unseres Gehirns wir nutzen. Das Gehirn ist ein dynamisches Organ, das ständig aktiv ist. Verschiedene Bereiche des Gehirns werden je nach Aufgabe und Aktivität zu unterschiedlichen Zeiten genutzt.
Das Gehirn verbraucht etwa ein Fünftel von dem, was wir essen und einatmen - obwohl es nur zwei Prozent der Gesamtmasse ausmacht.
Das Gehirn als Energiesparwunder
Das Gehirn ist ein Energiesparwunder. Es aktiviert stets nur die relevanten Bereiche für eine bestimmte Handlung oder einen bestimmten Gedanken. Sind an einer Handlung oder einem Gedanken verschiedene Bereiche beteiligt, werden diese nacheinander aktiviert. Eine gleichzeitige Aktivierung aller beteiligten Bereiche würde eine größere Menge Energie benötigen, als der Körper bereitstellen kann.
Weitere Mythen rund um das Gehirn
Neben dem Mythos von den 10 Prozent gibt es noch weitere Mythen rund um das Gehirn, die sich hartnäckig halten:
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- Geschlechtsspezifische Gehirne: Die Behauptung, dass das weibliche Gehirn anders arbeitet als das männliche, ist ebenfalls hinfällig. Studien zeigen, dass es zwar minimale Abweichungen in Größe, Synapsendichte und Lokalisation gibt, aber daraus lassen sich keine geschlechtsspezifischen Attribute ableiten.
- Rechte und linke Gehirnhälfte: Der Mythos, dass die linke Hirnhälfte für logisches Denken und die rechte Hälfte für Kreativität und Emotionen zuständig ist, ist ebenfalls falsch. Beide Gehirnhälften sind durch starke neuronale Verbindungen vernetzt und arbeiten zusammen.
- Kopfschmerzen sind Gehirnschmerzen: Obwohl alle Schmerzwahrnehmungen ans Gehirn gemeldet und dort verarbeitet werden, kann das Organ selbst keine Schmerzen empfinden. Bei Kopfschmerzen schmerzen die Blutgefäße der Hirnhaut.
- Erinnerungen sind immer korrekt: Erinnerungen werden oft verschönert und bei jedem Abruf variiert, weil die Situation des letzten Abrufs Einfluss darauf nimmt.
Was hält das Gehirn fit?
Obwohl wir unser gesamtes Gehirn nutzen, können wir dennoch etwas tun, um es fit und leistungsfähig zu halten:
- Ausgewogene Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung ist nicht nur wichtig für Herz und Kreislauf, sondern auch fürs Gehirn. Fette, wie sie in panierten Speisen und Fastfood-Produkten stecken, führen zu Ablagerungen im Gehirn, die Reizübertragungen blockieren und Entzündungen auslösen.
- Geistige Herausforderungen: Das Gehirn sollte ein Leben lang auf vielfältige Art und Weise herausgefordert werden, z.B. durch das Erlernen einer neuen Sprache, das Spielen eines Musikinstruments oder das Lösen von Rätseln.
- Soziale Kontakte: Soziale Kontakte sind wichtig für die geistige Gesundheit und können helfen, mentalen Abbau zu vermeiden.
- Sport: Regelmäßige Bewegung fördert die Durchblutung des Gehirns und kann die Gedächtnisleistung verbessern.
- Schlaf: Ausreichend Schlaf ist wichtig für die Regeneration des Gehirns und die Festigung von Gedächtnisinhalten.
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