Witten/Herdecke Demenzforschung: Innovationen für Betroffene und Angehörige

Die Universität Witten/Herdecke (UW/H) spielt eine zentrale Rolle in der deutschen Demenzforschung. Durch interdisziplinäre Projekte und enge Zusammenarbeit mit Betroffenen und Angehörigen werden innovative Lösungsansätze entwickelt, um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern und die Belastung der Pflegenden zu reduzieren. Die Forschung in Witten zeichnet sich durch ihren Fokus auf die Lebensrealität der Betroffenen, die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede und die Entwicklung praxisnaher Lösungen aus.

Digitale Unterstützung für pflegende Angehörige

Eine der größten Herausforderungen bei der Betreuung von Menschen mit Demenz ist die sogenannte Agitation, die sich durch Unruhe, Bewegungsdrang und wiederholte Fragen äußern kann. Die Universität Witten/Herdecke koordiniert ein Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit pflegenden Angehörigen eine Chatbot-basierte Kommunikations- und Dienstleistungsplattform entwickelt. Diese digitale Plattform soll durch künstliche Intelligenz individuelles Feedback und Informationen zu Agitation liefern sowie bedarfs- und situationsgerechte Angebote aufzeigen. Das Bundesforschungsministerium fördert dieses Vorhaben in den kommenden drei Jahren mit 2,3 Millionen Euro.

Gendersensible Forschung: "ParGenDA"

Frauen sind häufiger von Demenz betroffen als Männer und zeigen oft andere Symptome. Auch der Umgang mit der Erkrankung und die Anforderungen an die Pflege können sich je nach Geschlecht unterscheiden. Das Forschungsprojekt „ParGenDA“ der Universität Witten/Herdecke und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz (DAlzG) widmet sich diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden. Ziel ist es, herauszufinden, welche Unterstützung Betroffene und Pflegende wirklich benötigen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt gefördert.

Über einen Zeitraum von 18 Monaten werden die Wittener Pflegewissenschaftler:innen gemeinsam mit Menschen mit Demenz, pflegenden Angehörigen, Interessenvertretungen und Fachleuten zentrale Fragen zu genderspezifischen Unterschieden identifizieren und priorisieren. Die Teilnehmer:innen füllen im Verlauf des Projekts einen Fragebogen aus, der Themen von alltäglicher Belastung bis zu emotionalen und sozialen Folgen von Demenz abdeckt. Die Ergebnisse werden mit aktuellen Studien abgeglichen. In einem abschließenden Workshop erarbeiten die Beteiligten eine Liste der zehn wichtigsten, bisher wissenschaftlich unbeantworteten Fragen zur gendersensiblen psychosozialen Unterstützung.

Prof. Dr. Margareta Halek von der UW/H betont, dass gendersensible Medizin und die Frage nach genderspezifischen Therapien bereits im Bewusstsein von Gesellschaft und Wissenschaft angekommen sind. Weniger klar sei jedoch der Bezug zur Pflege von Menschen mit Demenz. Es gebe Hinweise darauf, dass Frauen häufiger depressive oder wahrnehmungsverändernde Symptome zeigen, während Männer eher starke Unruhe entwickeln. Auch die Pflege selbst stelle je nach Geschlecht unterschiedliche Anforderungen. Frauen übernehmen meist die Pflege als Ehefrauen, Töchter oder Schwiegertöchter, während Männer als pflegende Angehörige weniger sichtbar sind. Bisher werden diese Geschlechterdifferenzen in der Pflegeforschung nicht ausreichend untersucht oder in Neuentwicklungen einbezogen, was zu einem Mangel an gendersensiblen Vorschlägen für die Pflegepraxis führt.

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Die identifizierten Forschungsfragen sollen in künftige Studien, Förderprogramme und gesundheitspolitische Strategien einfließen, um Versorgungslücken zu schließen. Langfristig soll „ParGenDA“ dazu beitragen, geschlechtersensible Aspekte in der Praxis zu verankern, beispielsweise in der Ausbildung von Gesundheitsberufen oder durch neue psychosoziale Angebote. Saskia Weiß, Geschäftsführerin der DAlzG, betont die Notwendigkeit einer Forschung, die nah an der Lebensrealität der Betroffenen ist. Nur wer die richtigen Fragen stellt, kann auch die richtigen Antworten finden und die Versorgung so optimieren, dass sie den Menschen wirklich hilft.

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Witten

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gehört zur Helmholtz-Gemeinschaft und hat neun Standorte in Deutschland. Der Standort Witten ist der einzige, der sich ausschließlich der Versorgungsforschung mit Schwerpunkt auf pflegewissenschaftliche Fragestellungen widmet. Ein interdisziplinäres Team aus Expert:innen der Pflege- und Gesundheitswissenschaft, den Sozialwissenschaften, der Gerontologie und der Psychologie arbeitet an verschiedenen Strategien zur Betreuung von Menschen mit Demenz.

Die Forschung des DZNE Witten konzentriert sich auf die Verbesserung der Versorgungsqualität. Dabei stehen die Person mit Demenz und ihr soziales Umfeld im Mittelpunkt. Erforscht werden schwerpunktmäßig ihr Verhalten, ihre Lebensqualität und ihre soziale Inklusion. Die Arbeit gliedert sich institutionell in vier Arbeitsgruppen:

  • Versorgungsintervention: Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung.
  • Versorgungsstrukturen: Organisation und Infrastruktur des Gesundheitssystems.
  • Methoden der Versorgungsforschung: Techniken zur Untersuchung der Gesundheitsversorgung.
  • Implementierungs- und Disseminationsforschung: Forschung zur Anwendung und Verbreitung neuer Gesundheitsmaßnahmen.

Das DZNE Witten leistet einen wichtigen Beitrag zum internationalen Wissenschaftskanon und ist in die europäischen Netzwerke InterDem (Early detection and timely INTervention in DEMentia) und EANS (The European Academy of Nursing Science) eingebunden. Die wissenschaftlichen Mitarbeitenden des DZNE übernehmen Lehraufträge an der UW/H.

Fokus auf die Perspektive der Betroffenen

Ein übergreifendes Forschungsthema des DZNE ist die Perspektive der Menschen mit Demenz, insbesondere zu Beginn ihrer Krankheit. Besonderes Augenmerk liegt aber auch auf den zukünftig absehbar geringeren Personalressourcen für die Versorgung. Die vier interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppen werfen einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Aspekte und Akteure der Versorgung. Untersucht werden nicht nur direkte Interventionen, sondern auch die pflegerischen und medizinischen Strukturen des Gesundheitssystems, soziale und psychologische Faktoren sowie die individuellen Perspektiven der Betroffenen bzw. ihrer Familien.

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"ParDeVI": Video-Feedback zur Unterstützung im Pflegealltag

Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Demenz, von denen zwei Drittel zuhause von Angehörigen gepflegt werden. Der Alltag stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Kommunikationsprobleme, Missverständnisse und Konflikte können das Zusammenleben belasten. Hier setzte das Projekt „Partizipative fokusgruppenbasierte Entwicklung eines individualisierten Video-Feedback-Interventions-Programms für zuhause lebende Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen“ (ParDeVI) unter der Leitung von Prof. Dr. Margareta Halek an.

Im Projekt wurden relevante Alltagssituationen identifiziert, in denen Video-Feedback eine hilfreiche Unterstützung bieten könnte - zum Beispiel beim Essen, bei der Tagesgestaltung oder bei Gesprächen mit Ärzt:innen und Personen im öffentlichen Raum. Die Teilnehmenden betonten, wie wertvoll es wäre, schwierige Alltagssituationen per Video noch einmal gemeinsam betrachten, reflektieren und daraus konkrete Lösungsansätze entwickeln zu können.

Einzigartig an diesem Projekt war, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen nicht nur als Studienteilnehmende mitwirkten, sondern auch als Co-Forschende. Sie brachten eigene Erfahrungen ein, begleiteten den Forschungsprozess beratend, halfen bei der Ergebnisinterpretation und präsentierten das Projekt gemeinsam mit den Wissenschaftler:innen auf nationalen und internationalen Fachkongressen.

Nach dem erfolgreichen Abschluss werden die Ergebnisse nun in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sowie praxisrelevanten Journalen veröffentlicht. Zudem wird ParDeVI auf der „35th Alzheimer Europe Conference“ im Oktober 2025 in Bologna vorgestellt. Die nächste Projektphase ist bereits in Vorbereitung: Die Forscher:innen der UW/H werden gemeinsam mit den Betroffenen einen Förderantrag für eine größere Wirksamkeitsstudie einreichen.

Forschung zur Inkontinenzversorgung

Harninkontinenz ist ein weit verbreitetes Problem in der Altenpflege, das besonders Menschen mit fortgeschrittener Demenz betrifft. Die Promotion von Melanie Maschewski am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke widmet sich diesem Thema. In ihrer Arbeit untersucht sie, wie Pflegende in dieser Situation handeln und Entscheidungen treffen. Sie will sichtbar machen, wie Menschen mit fortgeschrittener Demenz mit Harninkontinenz gepflegt werden, welche Maßnahmen gewählt werden, wie mit Widerstand und Scham umgegangen wird und welche Gedanken und Werte das Handeln der Pflegenden bestimmen.

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Die Erkenntnisse sollen Pflegenden Reflexionsmöglichkeiten liefern, Einrichtungen Impulse für bessere Rahmenbedingungen geben und Politik und Ausbilder:innen unterstützen.

Der Deutsche Pflegetag 2025

Die Bedeutung von Forschung zu grundlegenden pflegerischen Tätigkeiten wie der Inkontinenzversorgung zeigt sich auch auf dem Deutschen Pflegetag 2025. Dort wird Prof. Dr. Margareta Halek über die „Potenziale des Fundamentals of Care - das Rahmenmodell für die Pflegepraxis, -bildung und -forschung in Deutschland“ sprechen.

Dieses internationale Modell beschreibt pflegerisches Handeln als einen komplexen Prozess, der im Kern beziehungsorientiert ist, und macht es vor den Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems verständlich.

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