Das Sehzentrum im Gehirn: Lage, Funktion und Bedeutung

Das menschliche Gehirn ist eine komplexe Struktur, die in verschiedene Bereiche unterteilt ist, von denen jeder für spezifische Funktionen verantwortlich ist. Einer dieser Bereiche ist das Sehzentrum, auch visueller Cortex genannt, das eine entscheidende Rolle für unser Sehvermögen spielt. Dieser Artikel befasst sich mit der Lage des Sehzentrums im Gehirn, seiner Struktur, Funktion und den Auswirkungen von Schädigungen in diesem Bereich.

Das Großhirn: Die übergeordnete Schaltzentrale

Das Großhirn, auch Zerebrum genannt, ist der größte und komplexeste Teil des Gehirns. Es überdeckt die anderen Hirnbereiche wie eine Haube und ist entwicklungsgeschichtlich jünger als der Rest des Gehirns. Als Sitz von Funktionen wie Bewusstsein, Denken, Erinnerungen und Emotionen macht es das Großhirn zum Zentrum des "Menschlichen" in uns.

Das Großhirn besteht aus zwei Hälften, den Hemisphären, die durch eine tiefe Längsfurche getrennt sind. Diese Furche enthält eine harte Bindegewebsplatte, die Falx cerebri, die die beiden Hemisphären zusätzlich trennt. Die Hemisphären sind jedoch durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden, eine Struktur aus Nervenfasern, die den Austausch von Informationen zwischen den beiden Hälften ermöglicht.

Die Oberfläche des Großhirns ist von Wölbungen (Gyri cerebrales) und Furchen (Sulci cerebrales) geprägt, die die Oberfläche vergrößern und somit mehr Platz für Nervenzellen schaffen. Die Hirnrinde (Kortex, Cortex cerebralis) ist die äußere Schicht des Großhirns und besteht hauptsächlich aus Nervenzellkörpern, auch "graue Substanz" genannt. Unter der Hirnrinde befindet sich die "weiße Substanz", die hauptsächlich aus Nervenzellfortsätzen (Axonen) besteht, die die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnbereichen ermöglichen.

Die Lappen des Großhirns

Die Großhirnhemisphären werden in vier Hauptlappen unterteilt:

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  • Stirnlappen (Lobus frontalis): Verantwortlich für Antrieb, Motivation, Blicksteuerung und höhere psychische Leistungen. Schädigungen können zu Apathie, Enthemmungsphänomenen und Sprachstörungen führen.
  • Scheitellappen (Lobus parietalis): Dient vor allem der Sinneswahrnehmung. Schädigungen können zu Gefühlsstörungen, Vernachlässigung der Umgebung (Neglect) und anderen sensorischen Beeinträchtigungen führen.
  • Schläfenlappen (Lobus temporalis): Wichtig für Gedächtnis, Hören und Sprachverständnis. Schädigungen können zu Vergesslichkeit, Sprachstörungen und Hörstörungen führen.
  • Hinterhauptlappen (Lobus occipitalis): Beherbergt das Sehzentrum und ist für die Verarbeitung visueller Informationen zuständig. Schädigungen können zu Sehstörungen und Gesichtsfelddefekten führen.

Das Sehzentrum im Hinterhauptlappen

Das Sehzentrum, auch visueller Cortex genannt, befindet sich im Hinterhauptlappen (Lobus occipitalis) des Großhirns, der sich im hinteren Bereich des Kopfes befindet. Aufgrund der Fülle und Vielseitigkeit der Seheindrücke nimmt das Sehzentrum den gesamten Hinterhauptlappen ein, insbesondere den zur Mitte hin eingefalteten Teil.

Struktur und Funktion des visuellen Cortex

Der visuelle Cortex ist hierarchisch organisiert und besteht aus verschiedenen Arealen, die jeweils spezifische Aspekte der visuellen Verarbeitung übernehmen:

  • Primäre Sehrinde (V1): Empfängt direkte Informationen von den Augen über den Thalamus und ist für die grundlegende Verarbeitung visueller Reize wie Lichtintensität, Kontrast, Linienorientierung und Bewegung zuständig. V1 ist retinotop geordnet, was bedeutet, dass jeder Punkt auf der Netzhaut einem bestimmten Bereich in V1 entspricht.
  • Sekundäre Sehrinde (V2-V5): Erhält Informationen von V1 und ist für die komplexere Verarbeitung visueller Informationen zuständig, wie z.B. die Erkennung von Formen, Farben, Bewegungen und Objekten. Die sekundären visuellen Areale sind auch an der räumlichen Wahrnehmung und der Integration visueller Informationen mit anderen sensorischen Informationen beteiligt.

Innerhalb der Sehrinde gibt es zwei Haupttypen von Zellen, die eine entscheidende Rolle bei der visuellen Wahrnehmung spielen:

  • Magnozelluläre Zellen: Große Zellen, die hauptsächlich für die Wahrnehmung von Bewegungen zuständig sind. Sie reagieren schnell auf Änderungen und ermöglichen die Erkennung von fließenden Bewegungen und groben Konturen.
  • Parvozelluläre Zellen: Kleinere Zellen, die hauptsächlich für die Wahrnehmung feiner Details, Muster und Farben zuständig sind. Sie arbeiten mit höherer Genauigkeit und ermöglichen die Erkennung von Farben und feinen Linien.

Die Sehbahn: Der Weg des Sehens

Um sehen zu können, benötigen wir sowohl die Augen als auch das Gehirn. Die Kommunikation zwischen diesen beiden Organen erfolgt über die Sehbahn, die aus mehreren Abschnitten innerhalb des Auges und des Gehirns besteht.

  1. Netzhaut (Retina): Lichtreize werden von den Stäbchen und Zapfen (lichtempfindliche Sinneszellen) in elektrische Impulse umgewandelt.
  2. Sehnerv: Die elektrischen Impulse werden über den Sehnerv zum Gehirn geleitet.
  3. Chiasma opticum: Hier kreuzen sich die Sehnerven beider Augen, sodass Informationen von der rechten Gesichtsfeldhälfte in die linke Gehirnhälfte und Informationen von der linken Gesichtsfeldhälfte in die rechte Gehirnhälfte gelangen.
  4. Sehtrakt: Nach der Kreuzung im Chiasma opticum werden die Nervenbahnen als Sehtrakt bezeichnet.
  5. Corpus geniculatum laterale (CGL): Der größte Teil der Sehbahn-Axone führt zum CGL, einem Teil des Thalamus, wo die erste und einzige Verschaltung außerhalb der Netzhaut stattfindet.
  6. Sehstrahlung (Radiatio optica): Vom CGL aus werden die elektrischen Reize über die Sehstrahlung zur primären Sehrinde (V1) im Okzipitallappen geleitet.
  7. Visueller Cortex: In der Sehrinde werden die Signale der Retina verarbeitet und interpretiert.

Versorgung des Gehirns mit Blut

Wie jedes andere Organ im menschlichen Körper muss auch das Gehirn über Gefäße mit Blut versorgt werden. Es ist sogar ganz besonders darauf angewiesen, weil sein Energieverbrauch gemessen an seinen Dimensionen immens ist. Obwohl das Gehirn nur 2 % des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es 20 % der gesamten Energie des Körpers. Für diese unfassbare Leistung ist das Gehirn auf Sauerstoff und Traubenzucker (Glukose) im Blut dringend angewiesen, denn beides kann es nicht anders beziehen oder herstellen.

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Das Gehirn erhält seine Blutversorgung über vier Arterien, die Hals und Nacken durchziehen:

  • Zwei große Halsarterien (Karotiden)
  • Zwei Wirbelarterien (Vertebralarterien)

Diese Versorgung über vier Zuflüsse ist durch die Zusammenschaltung der Hirnkreisläufe so wirkungsvoll, dass mitunter sogar bei Verschluss eines oder mehrerer dieser Gefäße das Gehirn noch gut funktionieren kann.

Auswirkungen von Schädigungen des Sehzentrums

Schädigungen des Sehzentrums können verschiedene Ursachen haben, wie z.B. Schlaganfälle, Tumore, Verletzungen oder Entzündungen. Die Auswirkungen hängen von der Lage und dem Ausmaß der Schädigung ab.

Häufige Symptome von Sehrindenfunktionsstörungen sind:

  • Gesichtsfelddefekte: Teilweiser Verlust des Sichtfeldes, typischerweise als Skotom oder Tunnelblick. Je nach betroffenem Bereich der Sehrinde können diese unterschiedlich ausgeprägt sein, von kleinen blinden Flecken bis hin zu großen Gesichtsfeldverlusten.
  • Visuelle Agnosie: Die Unfähigkeit, Objekte trotz klarer Sicht zu identifizieren. Sie entsteht oft durch Schädigungen in den Bereichen des Gehirns, die für die Verarbeitung und Interpretation visueller Informationen zuständig sind.
  • Halluzinationen: Das Wahrnehmen von Bildern oder Szenen, die nicht vorhanden sind.
  • Kortikale Blindheit: Komplette Unfähigkeit zu sehen, trotz intakter Augen.

Diagnose und Behandlung von Sehrindenfunktionsstörungen

Die Diagnose von Sehrindenfunktionsstörungen umfasst in der Regel eine neurologische Untersuchung, bildgebende Verfahren wie MRT und CT, sowie visuell evozierte Potentiale (VEPs), um die elektrische Aktivität im Gehirn als Antwort auf visuelle Reize zu messen.

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Die Behandlung von Störungen der Sehrinde zielt darauf ab, die Sehfunktionen wiederherzustellen oder zu verbessern. Je nach Art und Umfang der Störung gibt es verschiedene Ansätze, die oft eine Kombination aus Medikamenten, operativen Eingriffen und speziellen Trainingsprogrammen umfassen.

  • Medikamentöse Behandlung: Einsatz von Medikamenten zur Verbesserung der Durchblutung oder zur Reduzierung von Entzündungen im Gehirn.
  • Sehtraining: Spezifische Übungen zur Förderung der Neuroplastizität und zur Verbesserung der restlichen Sehfähigkeit.
  • Chirurgische Eingriffe: Operationen, um Druck im Gehirn zu vermindern oder beschädigtes Gewebe zu reparieren.
  • Rehabilitationstechnologien: Einsatz von technologischen Hilfsmitteln, die das Sehvermögen unterstützen und die Unabhängigkeit der Patienten fördern.
  • Anpassung des Lebensumfelds: Änderungen in der Häuslichkeit oder am Arbeitsplatz, um die Sicherheit und Selbstständigkeit zu erhöhen.
  • Psychotherapeutische Unterstützung: Hilfe bei der Bewältigung von Begleiterscheinungen wie Angst und Depression, die mit Sehstörungen einhergehen können.

Neuroplastizität und Rehabilitation

Neuroplastizität bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, sich an Veränderungen anzupassen und neue neuronale Verbindungen zu bilden. Dieses Konzept ist besonders relevant, wenn es um Schädigungen der Sehrinde geht. Die Förderung der Neuroplastizität kann durch gezieltes Sehtraining begünstigt werden. Solche Trainingsprogramme zielen darauf ab, das Gehirn zu stimulieren und die Zusammenarbeit von Augen und Gehirn zu optimieren.

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