Die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) ist eine Variante des Guillain-Barré-Syndroms (GBS), einer seltenen, aber schwerwiegenden Autoimmunerkrankung, die das periphere Nervensystem betrifft. Bei AMAN kommt es primär zu einer Schädigung der Axone, der langen Fortsätze der Nervenzellen, die für die Übertragung von Nervenimpulsen verantwortlich sind.
Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), auch als Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom oder akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie bezeichnet, ist eine seltene, akut bis subakut verlaufende neurologische Erkrankung. Diese häufig postinfektiös auftretende, immun-vermittelte Polyneuritis entsteht durch eine Autoimmunreaktion, bei der das körpereigene Immunsystem fälschlicherweise Strukturen des peripheren Nervensystems angreift. Pathophysiologisch kommt es zu einer multifokalen Demyelinisierung und/oder axonalen Schädigung im Bereich der Rückenmarkswurzeln und peripheren Nerven. Das Immunsystem greift dabei entweder das signalübertragende Axon oder die Myelinscheide an, welche die Nerven umhüllt und eine rasche Signalübertragung gewährleistet. Das autonome Nervensystem bleibt typischerweise unbeeinträchtigt. Das klinische Spektrum reicht von milden Verläufen mit vorübergehender Schwäche bis hin zu schweren Formen mit nahezu vollständiger Paralyse und möglicher Atemlähmung. Schwere und Tempo der Erkrankung sowie Ausmaß der Rückbildung sind extrem variabel. Die Prognose ist grundsätzlich günstig: Die meisten Patient:innen erholen sich auch von schweren Verlaufsformen, wobei residuelle Schwächen bestehen können.
Ursachen und Risikofaktoren der AMAN
Die genauen Ursachen der AMAN sind noch nicht vollständig geklärt, aber es wird angenommen, dass eine fehlgeleitete Immunreaktion eine zentrale Rolle spielt. Typischerweise tritt AMAN wenige Tage bis Wochen nach einer bakteriellen oder viralen Infektion auf. Als häufigster Auslöser gilt Campylobacter jejuni, ein Bakterium, das Gastroenteritis verursacht. Weitere mögliche Auslöser sind Cytomegalieviren, Epstein-Barr-Viren und Mycoplasma pneumoniae.
Die pathophysiologische Grundlage liegt in der fehlgeleiteten Immunreaktion, bei der das körpereigene Abwehrsystem aufgrund molekularer Mimikry zwischen Erregeroberflächenstrukturen und peripheren Nervenelementen diese angreift. Lipooligosaccharide auf der äußeren Membran der Pathogene ähneln den Gangliosiden auf dem Axolemma der peripheren Zellen. Durch diese molekulare Mimikry können die Antikörper ebenfalls mit den Gangliosiden reagieren. Betroffen sind beispielsweise GM1 und GD1a auf peripheren Nerven.
In seltenen Fällen kann AMAN auch nach Impfungen auftreten, wobei das Risiko hierfür als äußerst gering einzustufen ist.
Lesen Sie auch: Ursachen, Diagnose und Behandlung der AIDP
Symptome der AMAN
AMAN manifestiert sich durch ein rasches Auftreten von Muskelschwäche, die typischerweise in den Beinen beginnt und sich aufwärts ausbreitet. Im Gegensatz zur AIDP (akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie), der häufigsten Form des GBS, sind bei AMAN sensible Symptome wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle oft weniger ausgeprägt oder fehlen ganz.
Weitere mögliche Symptome sind:
- Abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe
- Schwierigkeiten beim Gehen oder Treppensteigen
- Atembeschwerden (in schweren Fällen)
- Hirnnervenbeteiligung (selten)
Diagnose der AMAN
Die Diagnose der AMAN basiert auf einer Kombination aus Anamnese, klinischer Untersuchung, Liquordiagnostik und elektrophysiologischen Untersuchungen.
- Anamnese und klinische Untersuchung: Der Arzt erfragt die Krankengeschichte und untersucht die neurologische Funktion des Patienten, insbesondere Muskelkraft, Reflexe und Sensibilität.
- Liquordiagnostik: Bei der Lumbalpunktion wird Nervenwasser (Liquor) entnommen und auf Entzündungszeichen untersucht. Typisch für das GBS ist eine Erhöhung des Eiweißgehalts bei normaler Zellzahl (zytoalbuminäre Dissoziation).
- Elektrophysiologie: Die Elektroneurographie (ENG) misst die Nervenleitgeschwindigkeit und kann Schädigungen der Axone oder der Myelinscheide nachweisen. Bei AMAN zeigen sich typischerweise Zeichen einer axonalen Schädigung.
Zusätzlich können Blutuntersuchungen durchgeführt werden, um andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen und spezifische Antikörper gegen Ganglioside nachzuweisen, die bei AMAN häufig vorkommen.
Differentialdiagnosen
Bei der Differentialdiagnose werden alternative Diagnosen anderer Polyneuropathien oder andere Ursachen für die aufgetretenen Nervenschädigungen ausgeschlossen, um die Diagnose eines GBS sicherzustellen. Eine korrekte Diagnose ist relevant für die therapeutische Entscheidung und den Erfolg des therapeutischen Ansprechens.
Lesen Sie auch: Diagnose und Behandlung von akuter schlaffer Lähmung
Zu den wichtigsten Differentialdiagnosen gehören:
- Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
- Akute Myopathien
- Myasthenia gravis
- Amyloidose, Neuroamyloidose
- Neuroborreliose
- Neurosarkoidose
- Nicht-systemische vaskulitische Neuropathie (NSVN)
- Paraproteinämische Neuropathie
- Rückenmarkserkrankungen (Infarkt, Myelitis, Kompression,…)
- Polio und andere Enteroviren, die eine Poliomyelitis verursachen können
- Meningeosis carcinomatosa/leucaemica
- Hirnstammencephalitis
- Cauda equina Kompression
- axonale subakute rezidivierende Neuropathie mit erhöhtem Liquorlaktat bei PDHcIalpha-Mutation
- Metabolische Störungen wie Hypermagnesiämie oder Hypophosphatämie
- Tick paralysis
- Schwermetalltoxizität wie Arsen, Gold oder Thallium
- Medikamenteninduzierte Neuropathien (bspw.
Therapie der AMAN
Die Behandlung der AMAN zielt darauf ab, die Immunreaktion zu modulieren und die Symptome zu lindern. Es gibt keine spezifische Heilung für AMAN, aber eine frühzeitige Behandlung kann den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen.
Die wichtigsten Therapieoptionen sind:
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG): IVIG sind Antikörper, die aus dem Blut gesunder Spender gewonnen werden und dazu beitragen, die Autoimmunreaktion zu unterdrücken.
- Plasmapherese: Bei der Plasmapherese wird das Blut des Patienten gefiltert, um schädliche Antikörper zu entfernen.
- Supportive Therapie: Die supportive Therapie umfasst Maßnahmen zur Linderung der Symptome und zur Vorbeugung von Komplikationen. Dazu gehören Physiotherapie, Ergotherapie, Schmerztherapie und gegebenenfalls Beatmung.
Glukokortikosteroide sind nicht wirksam und sollen nicht gegeben werden, da sie sogar für die Erholung hinderlich sein können.
Prognose der AMAN
Die Prognose der AMAN ist variabel und hängt von der Schwere der Erkrankung und dem Zeitpunkt des Behandlungsbeginns ab. Viele Patienten erholen sich vollständig oder weitgehend von AMAN, aber einige behalten dauerhafte neurologischeDefizite zurück. In schweren Fällen kann AMAN lebensbedrohlich sein, insbesondere wenn die Atemmuskulatur betroffen ist.
Lesen Sie auch: Was ist motorische Polyneuropathie?
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) und seine Varianten
Das Guillain-Barré-Syndrom umfasst verschiedene Varianten, die pathogenetisch ähnlich sind, sich jedoch unter prognostischen und therapeutischen Gesichtspunkten unterscheiden:
- Demyelinisierender Typ (AIDP - Akute Inflammatorische Demyelinisierende Polyneuropathie): Diese in Europa und bei Kindern vorherrschende Form zeigt motorische und sensible Symptome mit elektrophysiologischen Kriterien der Demyelinisierung und möglicherweise sekundären axonalen Läsionen.
- Primär axonaler motorischer Typ (AMAN - Akute Motorische Axonale Neuropathie): Charakterisiert durch rein motorische Ausfälle ohne Sensibilitätsstörungen, elektrophysiologische Zeichen primär axonaler Schädigung und häufige Assoziation mit Campylobacter jejuni-Infektionen. Anti-GM1- und -GD1a-IgG-Antikörper sind oft nachweisbar.
- Axonaler motorisch-sensorischer Typ (AMSAN - Akute Motorische und Sensorische Axonale Neuropathie): Entspricht dem AMAN-Typ mit zusätzlichen sensiblen Symptomen und elektrophysiologischem Befall sensibler Nerven.
- Miller-Fisher-Syndrom (MFS): Seltene Variante mit primärem Hirnnervenbefall, Ataxie und Areflexie. In über 90% der Fälle sind anti-GQ1b-Antikörper nachweisbar.
- Pharyngo-cervico-brachiale Variante: Sehr seltene Form mit ausschließlich oder überwiegend bulbären Symptomen und häufig nachweisbaren IgG-Antikörpern gegen GT1a.
Polyneuropathie: Ein Überblick
Die Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die durch eine Vielzahl von Ursachen ausgelöst werden kann. Einige Formen der Polyneuropathie resultieren aus einer primären Schädigung der Nervenzellen selbst, wie der Motoneuronen oder Spinalganglienneuronen. Bei der Chemotherapie-induzierten Neuropathie greifen die Medikamente die Spinalganglien und die peripheren Nerven an. In der diabetischen Polyneuropathie führt ein chronisch erhöhter Blutzuckerspiegel zu einer endothelialen Dysfunktion der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen (Mikroangiopathie). Zusätzlich schädigen toxische Stoffwechselprodukte (z. B. Die meisten Polyneuropathien betreffen die großkalibrigen Nervenfasern, die für die motorische Funktion und das Berührungs- und Vibrationsgefühl verantwortlich sind. Eine spezielle Form der Neuropathie, die Small-Fiber-Neuropathie, betrifft hingegen nur die kleinkalibrigen Nervenfasern, die für Schmerz und Temperaturwahrnehmung zuständig sind. Bei entzündlichen oder immunvermittelten Formen wie dem Guillain-Barré-Syndrom (GBS) greifen Autoantikörper die Myelinscheide oder Axone der peripheren Nerven an, was zu einer demyelinisierenden Neuropathie führt.
Die Pathogenese der Polyneuropathie ist vielfältig und abhängig von der jeweiligen Ätiologie. Die Schädigung kann sowohl Nervenzellen, Axone als auch die Myelinscheide betreffen. Toxische Einflüsse, wie bei der Alkohol-assoziierten oder der Chemotherapie-induzierten Neuropathie, führen zu einer direkten Schädigung der Nervenzellen.
Weitere Ursachen für Polyneuropathie
Neben AMAN und GBS gibt es zahlreiche weitere Ursachen für Polyneuropathie, darunter:
- Diabetes mellitus: Chronisch erhöhte Blutzuckerspiegel können die Nerven schädigen.
- Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholkonsum ist eine häufige Ursache der alkohol-assoziierten Polyneuropathie.
- Toxische Substanzen: Verschiedene Medikamente, Chemikalien und Schwermetalle können die Nerven schädigen.
- Infektionen: Borreliose, Lepra und andere Infektionen können Polyneuropathie verursachen.
- Autoimmunerkrankungen: Sjögren-Syndrom und andere Autoimmunerkrankungen können das Nervensystem angreifen.
- Hereditäre Neuropathien: Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT) ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien.
- Mangelernährung: Ein Mangel an bestimmten Vitaminen (z. B. B12) kann zu Nervenschäden führen.
- Nierenerkrankungen: Chronische Nierenerkrankungen können zu einer urämischen Polyneuropathie führen.
- Lebererkrankungen: Leberzirrhose und andere Lebererkrankungen können Polyneuropathie verursachen.
- Amyloidose: Extrazelluläre Ablagerungen von Amyloiden können die Nerven schädigen.
- Porphyrie: Genetische Erkrankung, die zu neurologischen Ausfällen führen kann.
- Vaskulitis: Gefäßentzündungen können die Blutversorgung der Nerven beeinträchtigen.
- Paraneoplastische Syndrome: Polyneuropathie kann als Begleiterscheinung von Krebserkrankungen auftreten.
- Chemotherapie: Zytostatika können eine Chemotherapie-induzierte Neuropathie (CIN) verursachen.
Diagnose von Polyneuropathie
Die Diagnose einer Polyneuropathie umfasst in der Regel die folgenden Schritte:
- Anamnese: Der Arzt erfragt die Krankengeschichte des Patienten, einschließlich Symptome, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme und Familienanamnese.
- Körperliche Untersuchung: Der Arzt untersucht die neurologische Funktion des Patienten, einschließlich Muskelkraft, Reflexe, Sensibilität und Koordination.
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Die Elektroneurographie (ENG) und Elektromyographie (EMG) messen die Nervenleitgeschwindigkeit und Muskelaktivität.
- Laboruntersuchungen: Blut- und Urinuntersuchungen können helfen, die Ursache der Polyneuropathie zu identifizieren.
- Liquoruntersuchung: Bei Verdacht auf eine entzündliche oder infektiöse Ursache kann eine Lumbalpunktion durchgeführt werden.
- Nervenbiopsie: In seltenen Fällen kann eine Nervenbiopsie erforderlich sein, um die Diagnose zu bestätigen.
Behandlung von Polyneuropathie
Die Behandlung der Polyneuropathie richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache. Bei einigen Formen der Polyneuropathie, wie z. B. der diabetischen Neuropathie, kann eine gute Blutzuckereinstellung helfen, die Nervenschäden zu verlangsamen oder zu stoppen. Bei anderen Formen der Polyneuropathie, wie z. B. der entzündlichen Neuropathie, können Medikamente zur Unterdrückung des Immunsystems eingesetzt werden.
Zusätzlich zur Behandlung der Ursache können verschiedene Maßnahmen ergriffen werden, um die Symptome der Polyneuropathie zu lindern:
- Schmerzmittel: Schmerzmittel können helfen, neuropathische Schmerzen zu lindern.
- Antidepressiva: Bestimmte Antidepressiva können ebenfalls neuropathische Schmerzen lindern.
- Antikonvulsiva: Antikonvulsiva können helfen, neuropathische Schmerzen und Muskelkrämpfe zu lindern.
- Physiotherapie: Physiotherapie kann helfen, die Muskelkraft und Koordination zu verbessern.
- Ergotherapie: Ergotherapie kann helfen, die Alltagsaktivitäten zu erleichtern.
- Hilfsmittel: Hilfsmittel wie Gehstöcke oder orthopädische Schuhe können helfen, die Mobilität zu verbessern.
tags: #akute #motorische #axonale #neuropathie #ursachen