Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. Die Krankheit ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung. Die Erkrankung verläuft bei jeder betroffenen Person unterschiedlich. MS ist eine Autoimmunerkrankung. Eigentlich soll unser Immunsystem krankmachende Erreger abwehren. Doch bei Menschen mit einer sogenannten Autoimmunerkrankung liegt hier eine Fehlfunktion vor: Dabei greifen die Abwehrkräfte „unschuldiges“ Gewebe im Körper an, was zu Symptomen führen kann. Jede Multiple Sklerose verläuft individuell.
Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Das eigene Immunsystem greift dabei Strukturen in Gehirn und Rückenmark an, was zu Entzündungen führt. Man glaubt heute, dass die Myelinschicht um die Nerven herum, aber auch die Nervenzellen selbst von Immunzellen angegriffen werden. Die entzündeten Bereiche werden Läsionen oder Entzündungsherde genannt. Sie verursachen die Symptome. Die Läsionen regenerieren zwar, jedoch können Restschäden bleiben.
Das Myelin bildet eine isolierende Schicht um die Nerven herum und sorgt dafür, dass die Nerven ihre Informationen besser leiten können - ähnlich wie eine elektrische Isolierung bei einem Kabel. Sie spielen aber auch eine Rolle beim Schutz und bei der Versorgung der Nerven. Wenn die Myelinschicht wegfällt, ist der Nerv angreifbar. Es gib auch Hinweise darauf, dass Nerven ohne die Myelinschicht schneller altern.
In Deutschland haben schätzungsweise 280.000 Menschen Multiple Sklerose. Jedes Jahr bekommen mehr als 15.000 Personen die Erstdiagnose Multiple Sklerose. Die meisten von ihnen sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. In einigen Fällen wird eine MS bereits bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Frauen sind von MS doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Ursachen von Multipler Sklerose
Viele Fragen sind noch offen, die Ursachen noch nicht vollständig verstanden. Man weiß aber, dass zwei Faktoren besonders von Bedeutung sind. Das ist zum einen die erbliche Veranlagung, die das Risiko erhöht, an Multipler Sklerose zu erkranken - wie auch bei anderen Erkrankungen, zum Beispiel Diabetes oder Krebs. Zum anderen gibt es Umweltfaktoren, die zu der erblichen Belastung hinzukommen und zum Ausbruch der Erkrankung führen können. Das sind Rauchen, bestimmte Infektionen wie die Eppstein-Barr-Virus-Infektion, ein Mangel an Vitamin D und auch Übergewicht. An der genetischen Veranlagung kann man nichts ändern. Man kann aber an den Umweltfaktoren ansetzen, um das Risiko zu verringern, an Multipler Sklerose zu erkranken.
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Die wichtigsten Risikofaktoren für Multiple Sklerose:
- Genetische Faktoren: Multiple Sklerose ist zwar keine erbliche Erkrankung - allerdings ist es wahrscheinlicher zu erkranken, wenn ein Familienmitglied MS hat.
- Bestimmte Infektionen im Kindes- und Jugendalter: Das Epstein-Barr-Virus steht besonders im Verdacht, das Risiko für Multiple Sklerose zu erhöhen. Auch Masern und das humane Herpesvirus 6, das beispielsweise das Drei-Tage-Fieber auslöst, werden diskutiert.
- Vitamin-D-Mangel: Zu wenig Vitamin D im Blut ist ebenfalls ein Risikofaktor für MS. Denn Vitamin D, das unser Körper mithilfe von Sonnenlicht bildet, unterstützt die optimale Funktion unseres Immunsystems.
- Rauchen: Wer raucht, riskiert einen schnelleren und stärkeren Verlauf einer Multiplen Sklerose. Mit dem Rauchen aufzuhören, lohnt sich in jedem Fall und verlangsamt das Fortschreiten der Krankheit.
- Übergewicht: Studien zeigen, dass Übergewicht im Kindes- und Jugendalter wie auch im jungen Erwachsenenalter das MS-Risiko erhöht.
- Luftverschmutzung: Schadstoffe wie Stickoxide, Schwefeloxide und Mikrofeinstaub stehen im Verdacht, Multiple Sklerose zu begünstigen beziehungsweise zu verschlimmern.
Symptome von Multipler Sklerose
MS-Symptome können an mehreren Stellen im Körper auftreten. Diese und weitere Symptome können die Selbstständigkeit im Alltag einer Person mit Multipler Sklerose beeinträchtigen. Besonders im Frühstadium der Erkrankung entzündet sich häufig der Sehnerv von MS-Erkrankten. Motorische Störungen sind bei der Multiplen Sklerose relativ oft zu beobachten. Viele Betroffene berichten zudem, dass sich ihre Arme oder Beine „pelzig“ anfühlen. Das Gehen fällt ihnen schwer, das Stehen wird anstrengend, weil „die Beine irgendwie nicht da sind“. Sind die Arme betroffen, wird oft das Greifen ungenau oder Gegenstände lassen sich nicht sicher festhalten.
Bei einer Multiplen Sklerose treten häufig Blasen- und Darmstörungen auf. Dabei werden die „Kommandos“ nicht mehr oder nur verlangsamt über die Nervenbahnen weitergeleitet. Verstopfungen können sehr schmerzhaft sein. Ungewollter Harnverhalt (Ischurie; Wasserlassen kaum bis nicht möglich). In diesen Fällen ist die Blase zwar voll, aber die betroffene Person kann sie nicht entleeren. Harn- oder Darmstörungen sind für viele betroffene Menschen besonders unangenehm. Multiple Sklerose verursacht vor allem Schmerzen in den Armen und Beinen. Häufig kommen die Arm- oder Beinschmerzen morgens direkt nach dem Aufstehen.
Fatigue (ausgesprochen: fatieg) - das Phänomen der Erschöpfung - haben viele Menschen mit Multipler Sklerose. Betroffene fühlen sich matt. Schon die kleinsten Anstrengungen fallen ihnen schwer. Ausruhen oder Schlaf wirken nicht erholsam. Weil die Gesichts- und Halsmuskulatur nicht mehr jene exakten Nervenimpulse erhält, die sie für ein reibungsloses Funktionieren benötigt, gehen meist auch Sprech- und Schluckstörungen (Dysphagie) mit einer MS einher. Eine Wesensveränderung ist bei MS durchaus möglich. Gerade bei langjährigen Verläufen treten psychiatrische Symptome häufig auf.
Typische Frühanzeichen:
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- Sehstörungen wie trüber Blick, Sehausfall im Zentrum des Blickfelds, Doppelbilder, eingeschränktes Farbensehen, (vorübergehende) Blindheit, Schmerzen bei Augenbewegung
- Missempfindungen wie Taubheitsgefühl oder Kribbeln
- Lähmungen
- Koordinationsstörungen, beispielsweise bei Gleichgewicht, Fein- und Zielmotorik
- Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten
Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
Multiple Sklerose zeigt sehr unterschiedliche Krankheitsverläufe, die sich von Person zu Person stark unterscheiden können. Die Krankheit kann sehr mild mit ganz geringen Beeinträchtigungen im Leben verlaufen oder auch schwerwiegend ausfallen und innerhalb von zehn Jahren zur Pflegebedürftigkeit führen. Wichtig ist: Die meisten Betroffenen zeigen zumindest über die ersten zehn Jahre nach der Diagnose einen günstigen Verlauf, der sie im Alltag und Arbeitsleben nicht oder kaum einschränkt.
Man unterscheidet zwei klassische Formen:
- Schubförmiger Verlauf: Hier treten Symptome in Form von Schüben auf, das heißt, dass Symptome sich in der Regel über Stunden bis Tage entwickeln und mindestens für 24 Stunden anhalten. Unter Therapie, aber auch spontan, verbessert sich die Symptomatik nach Tagen bis Wochen. Symptome können zum Beispiel Seh- und Gefühlsstörungen sein. Unbehandelte Patienten und Patientinnen haben im Durchschnitt etwa alle drei Jahre einen Schub. Es kann aber variieren - von mehreren Schüben im Jahr bis hin zu vielen Jahren ohne einen einzigen Schub. Auch sind die Schwere und Langzeitfolgen eines Schubes sehr unterschiedlich
- Primär progredienter (fortschreitender) Verlauf: Bei einem fortschreitenden Verlauf entwickeln Patienten und Patientinnen langsam Symptome, die sich mit der Zeit nicht mehr verbessern, sondern bleiben oder sich gar verschlechtern. Es gibt keine spürbaren Schübe, sondern eine schleichende Verschlechterung.
Die verschiedenen Verlaufsformen im Überblick:
- Schubförmig remittierende MS (RRMS): Sie ist durch Schübe gekennzeichnet, in denen plötzlich neue Symptome auftreten oder bestehende sich verschlimmern. Diese Schubphasen können Tage bis Wochen andauern. Anschließend folgt meist eine Remission, in der die Symptome wieder nachlassen oder ganz verschwinden.
- Sekundär progrediente MS (SPMS): Es treten keine typischen Schübe mehr auf, stattdessen verschlechtern sich die Symptome langsam und kontinuierlich. Dies kann zu einer allmählichen Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Funktionen führen.
- Primär progrediente MS (PPMS): Die Symptome nehmen von Beginn an stetig zu, ohne dass Schübe oder ausgeprägte Remissionen auftreten.
- Progressive rezidivierende MS (PRMS): Dieser Verlaufstyp zeichnet sich durch eine kontinuierliche Verschlechterung der Symptome von Beginn an aus, wobei jedoch gelegentliche Schubphasen auftreten können.
Diagnose von Multipler Sklerose
Ist ein Patient oder eine Patientin schließlich bei einem Neurologen beziehungsweise einer Neurologin, wird zunächst eine Anamnese durchgeführt. Es werden die Beschwerden und familiären Hintergründe aufgelistet, dann folgt eine körperliche und neurologische Untersuchung. Hier geht es darum, die Funktionstüchtigkeit des Nervensystems zu untersuchen und Einschränkungen zu finden. Dazu werden zum Beispiel die Hirnnerven im Gesicht, Motorik, Muskelreflexe, Gefühlswahrnehmung und Koordination getestet sowie das Gedächtnis, die Sprache und Orientierung geprüft. Liegt ein Verdacht vor, ist eine Bildgebung mittels Kernspintomografie von Gehirn und Rückenmark wichtig. Dabei werden die typischen Entzündungsherde sichtbar. Auch können eine Nervenwasseruntersuchung und Bluttests den Verdacht untermauern und eine ursächliche Entzündung feststellen.
Um Multiple Sklerose eindeutig festzustellen, schließen Neurologinnen und Neurologen zunächst andere Erkrankungen aus, die MS-ähnliche Symptome hervorrufen können. Dazu zählen beispielsweise Migräne und psychische Störungen.
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Folgende Untersuchungen werden durchgeführt:
- Magnetresonanztomografie (MRT): Eine MRT-Untersuchung macht MS-typische Entzündungen in Gehirn und Rückenmark sichtbar. Auf den Bildern sind sie als helle oder dunkle Flecken zu sehen und werden Läsionen oder Herde genannt. Die MRT dient nicht nur der Diagnose, sondern auch der Verlaufsbeobachtung.
- Blutuntersuchung: Manche Erkrankungen wie die durch Zecken übertragene Borreliose und die Autoimmunerkrankung Lupus verursachen ähnliche Symptome wie MS und auffällige Blutwerte. Mit einer Blutuntersuchung lassen sich solche Erkrankungen ausschließen.
- Nervenwasseruntersuchung: Im Nervenwasser, das Gehirn und Rückenmark umgibt, lassen sich ebenfalls Hinweise auf Entzündungen finden - beispielsweise in Form von bestimmten Immunzellen oder Eiweißen, die bei autoimmunen Entzündungen entstehen. Für die Untersuchung wird der Patientin oder dem Patienten mit einer dünnen Nadel ein wenig Nervenwasser aus dem Rückenmarkskanal entnommen.
- Nervenvermessung: Bei Menschen mit Multipler Sklerose schädigt die Erkrankung nach und nach die isolierenden Hüllen von Nervenfasern. Die betroffenen Nervenzellen leiten Signale langsamer weiter als bei gesunden Menschen.
Therapie von Multipler Sklerose
Multiple Sklerose ist nicht heilbar - aber behandelbar. Doch da die Symptome und Verläufe bei allen Betroffenen unterschiedlich sind, gibt es auch keine Multiple-Sklerose-Therapie, die für alle funktioniert. Die Behandlung setzt sich daher aus unterschiedlichen Therapieformen zusammen, die auf die Betroffenen abgestimmt werden.
Die Behandlung setzt sich aus unterschiedlichen Therapieformen zusammen, die auf die Betroffenen abgestimmt werden.
- Medikamentöse Therapie: Damit sich akute MS-Schübe schneller zurückbilden, wird in der Regel entzündungshemmendes Cortison eingesetzt, entweder in Tablettenform oder als Infusion in eine Vene. Zusätzlich stehen Immuntherapien zur Verfügung, die das Immunsystem verändern oder dämpfen. Dadurch können sie den Krankheitsverlauf verlangsamen und abmildern sowie MS-Schübe dämpfen. Immuntherapien werden auch verlaufsmodifizierende Therapien genannt. Haben die Medikamente nicht die gewünschte Wirkung und drohen daher bei einem akuten Schub bleibende Schäden, kann eine sogenannte Blutwäsche (Plasmapherese beziehungsweise Immunadsorption) zum Einsatz kommen. Dabei werden bestimmte Bestandteile aus dem Blut der MS-Betroffenen gefiltert, die bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen.
- Behandlung der Symptome: Manche MS-Symptome können den Alltag der Betroffenen einschränken. Gezielte Therapien helfen, die Beschwerden zu lindern und Komplikationen zu verhindern. Physiotherapie wirkt beispielsweise Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen und Blasenstörung entgegen. Neuropsychologisches Training vermindert Aufmerksamkeit- und Gedächtnisschwäche. Und Psychotherapie kann helfen, besser mit der Erkrankung umzugehen.
- Anpassung des Lebensstils: Multiple-Sklerose-Patientinnen und -Patienten können durch einen gesunden und ausgewogenen Lebensstil zu einem gewissen Grad selbst den Verlauf ihrer Erkrankung und die Stärke ihrer Symptome beeinflussen. Kraft- und Ausdauertrainings helfen, die Muskelkraft und Balance zu verbessern. Zudem profitieren die Lebensqualität und Psyche von regelmäßigem Sport - ein wichtiger Punkt bei einer Erkrankung, die sehr belasten kann.
Leben mit Multipler Sklerose
Im Leben mit einer chronischen Krankheit wie Multiple Sklerose sind Ängste und Stress leider oftmals ständige Begleiter - sowohl für den Patienten als auch das Umfeld. Ganz klar ist, dass Gespräche nicht automatisch Probleme lösen. Offen geführte Gespräche gelingen meistens besser, wenn Sie sich bereits im Vorfeld klarmachen, was genau Sie mitteilen möchten. Das kann Ihre Angst wegen MS sein, aber auch Ihre Erwartungen an Ihr Umfeld. Wenn Sie über Multiple Sklerose mit Ihrer Familie reden wollen, halten Sie vor einem solchen Gespräch zudem Ihre Gedanken in Notizen fest. Tragfähige Beziehungen leben von Vertrauen, Respekt und Offenheit. Deshalb: Sprechen Sie alle Themen offen an, die Sie bewegen. Motivieren Sie auch Ihren Partner oder Angehörigen dazu. Dazu gehört einerseits die Bewältigung des Alltags, Aufgaben und Verantwortlichkeiten im Haushalt sowie die Einbeziehung anderer Personen im Haushalt wie z. B. Kinder oder Eltern. Auch der Aufbau eines Netzwerks von helfenden Händen im Notfall und, falls irgendwann notwendig, mögliche professionelle Unterstützung im Alltag sind wichtige Aspekte. Andererseits dürfen auch weitreichendere Themen wie Zukunftspläne bzw. Scheuen Sie sich auch nicht, über Ihre Gefühle zu sprechen. Sie sind überfordert, frustriert oder fühlen sich niedergeschlagen? Damit sind Sie nicht allein. Aber es bringt Ihnen und Ihrem Umfeld nichts, wenn Sie versuchen, diese Gefühle zu verstecken und alles allein zu lösen. Seien Sie offen und besprechen Sie mit Ihrem Partner oder Ihren Angehörigen, was diese tun können und was Sie brauchen, damit es Ihnen gut geht. Bevor Sie ein Gespräch beginnen, versetzen Sie sich in den anderen hinein und versuchen Sie, die Situation aus seiner Perspektive zu betrachten. Wertfrei mit Ich-Botschaften: Schildern Sie Ihre Situation möglichst wertfrei, also ohne Schuldzuweisungen. Dabei helfen Ich-Botschaften, wie z. B. „Ich habe das Gefühl, dass …“. Sie vermitteln Ihre Wahrnehmung der Situation und lassen die Möglichkeit einer Diskussion offen. Formulieren Sie, was Sie sich wünschen und vorstellen. Zuhören ist ein ebenso wichtiger Part des Gesprächs: Lassen Sie Ihren Partner zu Wort kommen, kommentieren, seine Position schildern und hören Sie sich seine Vorschläge bewusst an und gehen Sie darauf ein. Wenn Sie feststellen, dass es Ihnen beiden nicht gelingt, konstruktive Gespräche zu führen, dann scheuen Sie sich nicht, Hilfe von außen zu suchen. Wenn Sie Kinder haben, fragen Sie sich vielleicht, wie Sie mit ihnen über Ihre Erkrankung sprechen sollen und was Sie ihnen zumuten können. Ein Kind mit der eigenen Erkrankung möglicherweise „zu überlasten“ oder „zu überfordern“, ist oftmals die größte Angst, die Eltern haben. Kinder haben jedoch „feine Antennen“. Sie merken schnell, wenn etwas nicht stimmt. Deshalb sollte die Erkrankung kein Geheimnis der Eltern sein. Nur im offenen Gespräch mit Ihren Kindern und mit altersgerechten Erklärungen können Sie Missverständnisse ausräumen und ihnen die notwendige Sicherheit geben. Kinder neigen schnell dazu, sich für die Krankheit von Papa oder Mama verantwortlich zu fühlen, sich gar die Schuld daran zu geben.
Interview mit Andreas Hartmann
Andreas Hartmann ist 33 Jahre alt, Ingenieur, frisch nach Mannheim umgezogen, verheiratet - und hat Multiple Sklerose. Er berichtet über seine Erfahrungen mit der Krankheit.
FITBOOK: Wann haben Sie die Diagnose MS erhalten und welche ersten Beschwerden haben Sie veranlasst, einen Arzt aufzusuchen?
Andreas Hartmann: „Von meiner Krankheit erfahren, habe ich im September 2016 - durch eine Sehnervenentzündung. Hier, das muss ich wirklich sagen, hatte ich echt Glück mit meinem Arzt. Er hat sich mein Auge angeschaut und festgestellt, dass mit meinem Auge alles in Ordnung war. Daher war seine Schlussfolgerung: Es muss der Sehnerv sein. Und damit hat er mich sofort in ein Krankenhaus geschickt."
Wie ging es dann in der Klinik weiter? Hat es lange gedauert, bis Ihre Diagnose offiziell feststand?
„Im Krankenhaus kam ich erst mal in die dortige Augenklinik. Von da aber ziemlich schnell in die Neurologie. Dort wurde mein Rückenwasser untersucht und festgestellt, dass Entzündungen vorliegen. Nach und nach wurde sozusagen die Checkliste für die MS-Diagnose abgehakt."
Konnten Sie sich rückblickend noch an andere Beschwerden - vor dem entzündeten Sehnerv - erinnern, die mit dem Näherrücken der offiziellen Diagnose plötzlich sinnvoll erschienen bzw. die Sie in einem anderen Licht sahen?
„Tatsächlich konnte ich mich erinnern, einige Jahre zuvor mal ein paar Tage lang im unteren rechten Bein so ein seltsames Kribbeln gehabt zu haben. Ich dachte damals, dass ich falsch gelegen hätte und dass es sicher bald wieder weggeht. Es ging auch weg."
Wie haben Sie sich damals gefühlt?
„Ich habe jetzt tatsächlich keine Panik empfunden, vielleicht, weil ich generell ein entspannter Mensch bin. Aber natürlich fragt man sich, was denn bloß los ist. Aber es ging mir ja jetzt auch nicht akut schlecht, denn eine Sehnervenentzündung tut nicht weh. Man merkt zwar, dass am Auge etwas anders ist als normal, aber ich dachte dann vielleicht auch: Na, wenn es nicht schmerzt, kann es ja schon nicht so schlimm sein. Beruhigend war auch die tolle Versorgung im Krankenhaus. Mir wurde jeder Schritt sehr gut erklärt, sodass ich nie im Dunkeln tappen musste. Das war für mich sehr wichtig - und ist es, glaube ich, für viele Patientinnen und Patienten. Den Sinn von Untersuchungen zu verstehen."
Wie lange hat es am Ende gedauert, bis die MS-Diagnose offiziell feststand?
„Ich lag so etwa eine Woche im Krankenhaus. Dann war klar: Es ist MS."
Wie kann man sich den Moment der Diagnosestellung vorstellen?
„Die Oberärztin hat mich informiert, dass alles auf MS hindeutet und mich sofort mit wichtigen Unterlagen ausgestattet und mir ans Herz gelegt, mir möglichst bald eine Neurologin oder Neurologen bei mir in der Nähe aufzusuchen, um mich genauer beraten zu lassen und zu sehen, welche Behandlung für mich die richtige wäre."
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie erfahren haben, welche Krankheit Sie haben?
„Auch da war ich irgendwie recht entspannt. Denn es ging mir ja eigentlich gut. Ich stand quasi ohne Beschwerden da - mein Augenproblem war auch verschwunden - und habe mir die Diagnose angehört. Auch jetzt, Jahre später, geht es mir gut. Toi, toi, toi, in der Hinsicht habe ich bisher noch Glück. Ich bin also recht entspannt aus dem Krankenhaus gegangen, nur, dass ich nun halt wusste: Okay, im Hintergrund ist irgendetwas. Natürlich sind da Fragen, wie man nun damit umgehen soll."
Hat es Ihr Leben verändert, zu wissen, dass da etwas in Ihnen lauert, von dem Sie nicht wissen, wie es sich genau entwickeln wird? Nicht zu wissen, wann ein neuer Schub kommt und Beschwerden mitbringt, die vielleicht auch irgendwann nicht mehr weggehen?
„Das hat es sicher, auch bei aller grundlegenden Entspanntheit. Man macht sich viele Gedanken, man muss plötzlich Medikamente nehmen. Diese sind natürlich gut und wichtig in Bezug auf die MS-Erkrankung, bringen aber ja nun auch Nebenwirkungen mit sich, die sich im Alltag bemerkbar machen. Da muss man dann, um die MS zu behandeln, gewisse Kompromisse eingehen. Dabei habe ich auch diesbezüglich bisher noch viel Glück. Ich nehme mittlerweile das dritte Medikament und mit allen kam ich bisher ganz gut zurecht. Was natürlich auch passiert, ist, dass man sich bei jeder kleinen Veränderung fragt: Ist das jetzt ein Schub? Und man hat eben ständig das Gefühl, dass sich im Körper etwas verändert. Gleichzeitig ist es wichtig, sich auch nicht zu sehr verrückt zu machen. Denn Stress hat ja wiederum einen negativen Effekt auf den Körper und auch auf die MS."
Gibt es Kriterien, die Ihnen zumindest ein Stück weit helfen können, einzuschätzen, ob Sie einen akuten Schub haben?
„Nach wie vor ist es für mich persönlich schwierig, zu beurteilen, ob ich gerade einen Schub habe oder nicht. Denn wenn ein Körperteil kribbelt, kann das ein Schub sein - aber ich kann eben wirklich auch mal einfach falsch gelegen haben. Ein Orientierungspunkt ist die Dauer von Beschwerden, also ob sie mindestens 24 Stunden anhalten."
Was unternehmen Sie, wenn die 24 Stunden vorbei und die Beschwerden immer noch da sind?
„Meistens rufe ich dann erst mal meinen Arzt an. Ich weiß mittlerweile auch, dass manche Beschwerden zwar mit einem Schub zusammenhängen, aber keinen neuen Schub darstellen. Das bedeutet, dass Nerven, die bei einem früheren Schub beschädigt wurden, auch später noch Probleme verursachen können. Worum es sich handelt, beurteilt dann natürlich mein behandelnder Arzt."
Wie haben sich Schübe bei Ihnen bisher bemerkbar gemacht?
„Neben der anfänglichen Sehnervenentzündung sind es kribbelnde Waden und Fußrücken, die bei mir einen Schub ausgemacht haben."
Wie sieht ihre Therapie aktuell aus?
„Aktuell erfolgt meine Therapie in Spritzenform. Ziel ist es, mein Immunsystem ein bisschen runterzufahren, weil sich mein Immunsystem aufgrund der MS ja gegen mich richtet. Dafür bekomme ich einmal im Monat eine Antikörperspritze. Das ist für mich immer noch ungewohnt. Ein komisches Gefühl."
Wie gehen Sie abseits der Medikamente mit Ihrer Erkrankung im Alltag um?
„Für mich war es wichtig, offen damit umzugehen. Ich habe natürlich meiner Familie von meiner MS-Diagnose erzählt, aber auch auf der Arbeit Bescheid gegeben. Das kann ich auch anderen MS-Betroffenen nur empfehlen, denn das nimmt direkt schon mal einen großen Teil des Stresses weg. Wenn man offen sagen kann: Heute geht es mir nicht so gut. Es geht wirklich nicht, ich muss mal einen Tag zu Hause bleiben."
Haben Sie Veränderungen in Ihrem Lifestyle vorgenommen?
„Ich achte vor allem darauf, möglichst wenig Alkohol zu konsumieren. Aktuell kann ich gar nicht sagen, wann ich das letzte Mal getrunken haben. Vielleicht mal ein kleines Bier hin und wieder, aber das war es. Außerdem ist es mir wichtig, Ziele zu setzen. Ich strebe z. B. einen Halbmarathon an, für den ich kürzlich angefangen habe, zu trainieren. Denn wollte ich schon länger machen, aber es kam immer wieder etwas dazwischen."
Wie hat denn Ihr Umfeld reagiert?
„Meine damalige Freundin, jetzt Frau, war über die Diagnose auf jeden Fall schockierter als ich. Sie hat sich viele Sorgen gemacht. Auch meine restliche Familie war wesentlich besorgter, hat es aber nicht so gezeigt. Meine Freunde sind recht entspannt, stellen mir ab und zu mal Fragen. Auf der Arbeit war es für mich etwas schwieriger, mich zu öffnen. Aber irgendwann habe ich gedacht, egal, ich sage jetzt, was los ist. Auch wenn ich selbst manchmal nicht weiß, ob eine Erschöpfung nun einfach mal Erschöpfung oder eben von MS verursachtes Fatigue ist. Ich fand es einfach wichtig, offen zu sein."
Haben Sie hin und wieder Momente, in denen Ihnen Ihre Situation mental zu schaffen macht?
„Ich habe mich bewusst dafür entschieden, mit der Erkrankung umzugehen. Das müsste ich ja nicht, aber ich weiß, dann würde es mir schon jetzt oder irgendwann sicherlich schlechter gehen. Deshalb bin ich grundsätzlich recht positiv eingestellt. Aber das bereits erwähnte Gedankenkarussell dreht sich natürlich immer mal wieder. Auch die Therapie kann natürlich belastend sein. Bei einer Umstellung weiß man beispielsweise ja erst nach einer Weile, wie gut ein neues Medikament verträgt, ob und welche Nebenwirkungen es gibt. Bei dem Mittel, das ich jetzt bekomme, meine ich, zu merken, dass ich empfindlicher auf die Sonne reagiere als früher. Früher konnte ich mal eine halbe Stunde in der Sonne sein, jetzt fühlt es sich schon nach fünf Minuten an, als bekäme ich einen Hitzschlag. Und auch sonst bin ich natürlich jetzt immer auf der Hut."
Denken Sie darüber nach, wie Ihr Leben in 20 Jahren aussehen könnte? Kommen da vielleicht schon mal Ängste auf, die speziell mit Ihrer MS-Erkrankung zusammenhängen?
„Ja, das tue ich - durchaus auch mit Sorge. Ich mache mir schon Gedanken darüber, was wird. Mit dem Alter steigt ja generell das Krankheitsrisiko, wie sieht es dann mit dem Risiko für mehr und schwerere MS-Schübe aus? Diesbezüglich habe ich mich bisher noch nicht so in die Tiefe informiert, aber ich habe es tatsächlich im Hinterkopf. Was wird auf mich zukommen? Werde ich pflegebedürftig werden? Da kann man sich natürlich auch in gewissem Maße absichern. Aber dann ist da noch das Thema Familienplanung. Ich mache mir Sorgen, dass ich die MS weitervererben könnte."