Myasthenia gravis, in Deutschland auch als Myasthenie bekannt, ist eine seltene neurologische Erkrankung, die durch Muskelschwäche und schnelle Ermüdung gekennzeichnet ist. Diese Autoimmunerkrankung betrifft etwa einen von 10.000 Menschen in der Europäischen Union. DESITIN, ein Experte für seltene Erkrankungen und Störungen des zentralen Nervensystems, hat es sich zur Aufgabe gemacht, über die Symptome der Erkrankung aufzuklären und zur Behandlung beizutragen.
Was ist Myasthenia Gravis?
Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise körpereigene Zellen und Gewebe angreift. Bei dieser Erkrankung werden Autoantikörper (AAk) gebildet, die sich gegen Rezeptoren und Enzyme richten, die für die Kommunikation zwischen Nervenzellen und Muskeln wichtig sind. Diese Antikörper stören die Reizübertragung an der neuromuskulären Endplatte, was zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche führt.
Ursachen und Auslöser
Die genaue Ursache der Myasthenia gravis ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch angenommen, dass eine Fehlfunktion des Thymus, einer Drüse hinter dem Brustbein, eine wichtige Rolle spielt. Bei vielen Patienten mit Myasthenie ist die Thymusdrüse vergrößert oder überaktiv. In einigen Fällen kann die Entfernung der Thymusdrüse die Symptome verbessern. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass eine vergrößerte Thymusdrüse auch ein Anzeichen für einen Thymus-Tumor (Thymom) sein kann.
Verschiedene Auslöser können eine Myasthenia gravis verursachen oder ihre Ausprägung verschlimmern, bis hin zu einem Schub (myasthene Krise). Häufige Auslöser sind:
- Infektionskrankheiten
- Bestimmte Medikamente
- Stress
- Schwangerschaft
Häufigkeit und Betroffene
Die Häufigkeit der Myasthenia gravis liegt bei etwa 10-72 von 100.000 Menschen, mit 0,25-3 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner pro Jahr. Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren sind häufiger betroffen, während sich die Erkrankung bei Männern eher im höheren Alter zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr manifestiert. Prinzipiell kann die Autoimmunerkrankung jedoch bei beiden Geschlechtern in jedem Alter auftreten.
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Eine seltene Form ist die neonatale Myasthenie, die bei etwa 12 Prozent der Kinder von Müttern mit Myasthenia gravis auftritt. Die Antikörper, die die Erkrankung verursachen, können über die Plazenta an das ungeborene Kind weitergegeben werden, was zu Muskelschwäche beim Neugeborenen führt. Diese Symptome verschwinden jedoch in den ersten Tagen bis Wochen nach der Geburt wieder.
Symptome der Myasthenia Gravis
Ein großes Problem bei der Diagnose der Erkrankung ist, dass die Symptome dem Krankheitsbild häufig nicht richtig oder frühzeitig zugeordnet werden. Die Symptome sind sehr vielseitig und können sich im Laufe der Zeit verändern. Das Kardinalssymptom ist die belastungsabhängige Muskelschwäche, die sich bei Anstrengung verstärkt und nach Erholungsphasen wieder bessert.
Typische Symptome sind:
- Augensymptome: Hängende Augenlider (Ptose) und Doppelbilder (Diplopie) sind häufige Erstsymptome. Sehstörungen treten oft in der zweiten Tageshälfte nach mehrstündiger Arbeit und Belastung auf.
- Sprech- und Schluckstörungen: Sprechstörungen können sich durch abgehacktes, stakkatoartiges, gehauchtes, unregelmäßiges, unpräzises und monotones Sprechen äußern. Schluckbeschwerden können ebenfalls auftreten.
- Muskelschwäche in Armen und Beinen: Eine generalisierte Form der Myasthenie kann alle Skelettmuskeln betreffen, was zu Schwierigkeiten bei alltäglichen Aktivitäten führt.
- Atembeschwerden: In schweren Fällen kann die Atemmuskulatur betroffen sein, was zu Ateminsuffizienz führen kann. Störungen der Atmung können sich in Form einer schwachen, heiseren Stimme, eines schwachen Hustens oder eines häufigen Atemholens beim Sprechen äußern.
Die Ausprägung und das Voranschreiten der Symptome sind bei den Betroffenen sehr unterschiedlich. Seelische Belastungen, Schlafmangel, Alkoholkonsum, Fieber sowie grippale Infekte können die Störungen ebenfalls verstärken.
Diagnose von Myasthenia Gravis
Die Diagnose der Myasthenia gravis kann eine Herausforderung sein, da die Symptome unspezifisch sind und anderen Erkrankungen ähneln können. Eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung sind entscheidend.
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Anamnese und körperliche Untersuchung
Der Arzt wird nach der medizinischen Vorgeschichte, aktuellen Beschwerden und möglichen Auslösern fragen. Bei der körperlichen Untersuchung wird die Muskelfunktion überprüft, insbesondere im Hinblick auf Ermüdung und Schwäche. Standardisierte Tests können helfen, die Ermüdung der Muskulatur festzustellen.
Pharmakologische Tests
- Edrophoniumchlorid-Test: Edrophoniumchlorid ist ein kurzwirksamer Cholinesterasehemmer, der die Konzentration von Acetylcholin an den Rezeptoren der Muskeln erhöht. Bei Patienten mit Myasthenia gravis führt dies zu einer kurzzeitigen Verbesserung der Muskelspannung.
- Pyridostigmin-Test: Dieser Test funktioniert ähnlich wie der Edrophoniumchlorid-Test, verwendet jedoch Pyridostigmin, einen anderen Cholinesterasehemmer.
Blutuntersuchungen
Blutuntersuchungen sind wichtig, um Antikörper zu erkennen, die die Rezeptoren oder Enzyme beeinträchtigen, die an der Bildung der Rezeptoren beteiligt sind. Getestet wird auf:
- Anti-Acetylcholinrezeptor-AK (AChR-AK)
- Anti-MuSK-AK
- Anti-LRP4-AK
- Anti-Titin-AK (bei Verdacht auf Thymome)
Elektrophysiologische Untersuchungen
- Repetitive Nervenstimulation: Bei dieser Untersuchung werden Nerven wiederholt elektrisch gereizt, und die Reaktion der Muskeln wird gemessen. Bei Patienten mit Myasthenia gravis nimmt die Muskelantwort bei wiederholter Stimulation ab.
- Einzelfaser-Elektromyographie (EMG): Diese Untersuchung misst die elektrische Aktivität einzelner Muskelfasern und kann subtile Störungen der neuromuskulären Übertragung aufdecken.
Bildgebung der Thymusdrüse
Eine CT- oder MRT-Untersuchung des Brustkorbs wird durchgeführt, um eine Vergrößerung der Thymusdrüse oder einen Thymus-Tumor (Thymom) festzustellen.
Weitere Untersuchungen
- Lungenfunktionstests: Diese Tests werden durchgeführt, um zu prüfen, ob die Erkrankung Auswirkungen auf die Atmung hat.
- MRT-Untersuchung des Schädels: Zum Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Tumore) kann eine MRT-Untersuchung des Schädels erfolgen.
Behandlung von Myasthenia Gravis
Die Behandlung der Myasthenia gravis zielt darauf ab, die Muskelkraft zu verbessern und die Lebensqualität wiederherzustellen oder zu erhalten. Es gibt verschiedene Therapieansätze, die je nach Schweregrad der Erkrankung und individuellen Bedürfnissen des Patienten eingesetzt werden.
Medikamentöse Therapie
- Acetylcholinesterasehemmer: Diese Medikamente (z. B. Pyridostigmin) erhöhen die Menge des Neurotransmitters Acetylcholin an der neuromuskulären Endplatte, wodurch die Signalübertragung verbessert wird.
- Kortikosteroide: Kortikosteroide (z. B. Kortison) dämpfen die Überaktivität des Immunsystems und können rasch eine deutliche Symptomverbesserung erzielen. Aufgrund der vielfältigen Nebenwirkungen erfolgt eine niedrig dosierte Gabe.
- Immunsuppressiva: Diese Medikamente (z. B. Azathioprin) unterdrücken die Bildung von Antikörpern und werden eingesetzt, wenn Kortikosteroide nicht ausreichend wirksam sind oder zu viele Nebenwirkungen verursachen.
- Biologika: Neuartige monoklonale Antikörper wie Rituximab und Eculizumab greifen spezifisch in den Krankheitsprozess ein und können das Krankheitsgeschehen in bestimmten Konstellationen nachhaltig positiv beeinflussen.
Akuttherapie
Bei schweren Symptomen, beispielsweise einer myasthenen Krise, können intravenös verabreichte Immunglobuline oder eine Plasmapherese eingesetzt werden. Immunglobuline sind Antikörper, die aus Spenderblut gewonnen werden. Eine Plasmapherese (Austausch des Blutplasmas) entfernt die schädlichen Antikörper aus dem Blut.
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Thymektomie
In vielen Fällen ist eine Entfernung des Thymus (Thymektomie) wirksam, insbesondere bei Patienten mit einem Thymom. Auch Patienten ohne Thymom können von einer Thymektomie profitieren, da die Antikörper, die sich gegen die ACh-Rezeptoren oder andere wichtige Enzyme richten, vor allem in der Thymusdrüse gebildet werden.
Weitere Therapien
- Symptomatische Behandlung der Augenprobleme: Spezielle Brillen können das herabhängende Lid oder Doppelbilder korrigieren. Auch eine Operation kann nötig sein.
- Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie: Diese Therapien können helfen, die Muskelkraft und Koordination zu verbessern, Schluckbeschwerden zu behandeln und die Kommunikation zu erleichtern.
- Bewegungs-, Trainings- und Entspannungstherapie: Diese Therapien können helfen, die körperliche und psychische Belastbarkeit zu verbessern und Stress abzubauen.
Leben mit Myasthenia Gravis
Die Myasthenia gravis ist nicht heilbar, aber gut einstellbar. Dank der vielseitigen und individuell abstimmbaren Therapiemöglichkeiten können die meisten Patientinnen und Patienten trotz Einschränkungen ihrer körperlichen Belastbarkeit ein weitgehend normales Leben führen und ihren Beruf ausüben. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, die Muskelkraft vollständig wiederherzustellen. Alle Patientinnen und Patienten müssen ihre individuellen Belastungsgrenzen herausfinden.
Tipps für den Alltag
- Planen Sie Ruhephasen ein: Die Belastbarkeit ist am Morgen oft größer als am Abend. Planen Sie regelmäßige Ruhephasen zur Erholung ein.
- Vermeiden Sie Belastungen: Körperliche und psychische Belastungen können die Symptome verstärken. Versuchen Sie, Stress zu reduzieren und ausreichend zu schlafen.
- Passen Sie Ihren Alltag an: Richten Sie Ihren Alltag nach Ihren individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten aus.
- Informieren Sie sich: Je besser Sie über Ihre Erkrankung informiert sind, desto besser können Sie damit umgehen.
- Sprechen Sie mit anderen Betroffenen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann sehr hilfreich sein. Es gibt Selbsthilfegruppen und Online-Foren, in denen Sie sich austauschen und Unterstützung finden können.
Reisen mit Myasthenia Gravis
Patient*innen mit myasthenen Syndromen können, trotz ihrer Erkrankung, in den Urlaub fahren. Im Vorfeld bedarf es jedoch einiger Organisation und eventuell auch, je nach Schweregrad und Behandlung, eine individuelle Abstimmung mit der behandelnden Ärztin / dem behandelnden Arzt.
- Beachten Sie bei der Planung ihre Therapieintervalle von regelmäßigen Infusionen (z. B. IVIG, Eculizumab, Efartigimod, Rituximab, etc.) und, dass diese eventuell vor Ort verabreicht werden müssen.
- Stellen Sie sicher, dass die medizinische Versorgung und neurologische Betreuung im Notfall vor Ort gewährleistet werden können.
- Führen Sie ihren Notfallausweis (deutsch, englisch) und einen Medikationsplan (deutsch, englisch, evtl. in der Landessprache) mit sich, damit Sie den bei Notwendigkeit vorlegen können.
- Vermeiden Sie Temperaturextreme, da Patientinnen und Patienten mit myasthenen Syndromen Hitze meist schlechter vertragen.
- Planen Sie bei Fahrten mit dem Auto ausreichend Pausen ein oder genießen Sie es, Beifahrer*in zu sein.
- Passen Sie die Aktivitäten am Urlaubsziel immer an ihre aktuelle Konstitution an.
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