Atropin ist ein natürlich vorkommendes Alkaloid, das in verschiedenen Pflanzen der Familie der Nachtschattengewächse vorkommt, darunter die Tollkirsche (Atropa belladonna). Es ist ein potentes Anticholinergikum, das seit Jahrhunderten in der Medizin verwendet wird. Seine Wirkung auf das Nervensystem beruht auf der Blockade von Acetylcholinrezeptoren, was eine Vielzahl von physiologischen Effekten hervorrufen kann.
Grundlagen des vegetativen Nervensystems
Um die Wirkungsweise von Atropin zu verstehen, ist es wichtig, die Organisation des vegetativen Nervensystems zu betrachten. Dieses System steuert unwillkürliche Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Verdauung, Atmung und Drüsensekretion. Es besteht aus zwei Hauptästen:
- Sympathikus: Bereitet den Körper auf Aktivität und Stress vor ("Kampf-oder-Flucht"-Reaktion).
- Parasympathikus: Fördert Ruhe, Verdauung und Erholung ("Ruhe-und-Verdau"-Reaktion).
Acetylcholin ist ein wichtiger Neurotransmitter im parasympathischen Nervensystem. Es wird von Nervenzellen freigesetzt und bindet an Acetylcholinrezeptoren auf Zielzellen, wodurch eine Reaktion ausgelöst wird.
Wirkungsweise von Atropin
Atropin wirkt als kompetitiver Antagonist an muskarinischen Acetylcholinrezeptoren. Das bedeutet, dass es an die gleichen Rezeptoren bindet wie Acetylcholin, aber keine Reaktion auslöst. Stattdessen blockiert es die Bindung von Acetylcholin und verhindert so dessen Wirkung.
Da Acetylcholin eine Schlüsselrolle im Parasympathikus spielt, führt die Blockade seiner Rezeptoren durch Atropin zu einer Hemmung der parasympathischen Aktivität. Dies hat eine Reihe von Auswirkungen auf verschiedene Organe und Systeme im Körper.
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Auswirkungen auf verschiedene Organe und Systeme
Die anticholinergen Wirkungen von Atropin manifestieren sich in verschiedenen Organen und Systemen:
- Herz: Erhöhung der Herzfrequenz (positiv chronotrope Wirkung), was zur Behandlung von Bradykardie (verlangsamtem Herzschlag) eingesetzt werden kann.
- Atemwege: Verringerung der Schleimproduktion, was bei der Behandlung von Atemwegserkrankungen wie Asthma oder COPD von Nutzen sein kann.
- Verdauungstrakt: Entspannung der glatten Muskulatur, was Krämpfe und Spasmen lindern kann. Hemmung der Magensäuresekretion.
- Augen: Erweiterung der Pupillen (Mydriasis) und Lähmung der Akkommodation (Zykloplegie), was bei Augenuntersuchungen und der Behandlung von Entzündungen im Auge eingesetzt wird.
- Drüsen: Verringerung der Sekretion von Speichel, Schweiß und Tränenflüssigkeit.
Klinische Anwendung von Atropin
Aufgrund seiner vielfältigen Wirkungen findet Atropin in verschiedenen medizinischen Bereichen Anwendung:
- Notfallmedizin: Behandlung von Bradykardie, insbesondere bei Notfallsituationen. Als Gegengift bei Vergiftungen mit Organophosphaten und Nervenkampfstoffen, die die Acetylcholinesterase hemmen und so zu einer Überstimulation der cholinergen Rezeptoren führen.
- Anästhesie: Prämedikation vor Narkosen, um die Speichel- und Schleimproduktion zu reduzieren und Bradykardie vorzubeugen.
- Augenheilkunde: Erweiterung der Pupillen zur Untersuchung des Augenhintergrundes, Behandlung von Entzündungen der Iris und der Uvea.
- Gastroenterologie: Behandlung von Magen-Darm-Krämpfen und zur Reduktion der Sekretion der Magendrüsen und der Bauchspeicheldrüse.
- Urologie: Behandlung von überaktiver Blase.
- Palliative Care: Linderung von übermässiger Speichelproduktion.
Atropin als Gegengift bei Nervengiftvergiftung
Die im Lancet veröffentlichte Krankengeschichte des russischen Oppositionspolitikers Alexei Navalny illustriert die lebensrettende Bedeutung von Atropin bei Vergiftungen mit Nervenkampfstoffen. Navalny wurde mit einem organischen Phosphat aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet, das die Acetylcholinesterase hemmt und zu einer Akkumulation von Acetylcholin führt.
Atropin blockiert die Muskarinrezeptoren und mildert so die Auswirkungen der cholinergen Krise. Die Behandlung muss so lange fortgesetzt werden, bis der Körper ausreichend Acetylcholinesterase nachproduziert hat. Bei Navalny konnte die Atropinbehandlung erst nach 10 Tagen beendet werden.
Nebenwirkungen und Kontraindikationen
Wie alle Medikamente kann auch Atropin Nebenwirkungen verursachen. Diese sind dosisabhängig und umfassen:
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- Mundtrockenheit
- Verschwommenes Sehen
- Lichtempfindlichkeit
- Beschleunigter Herzschlag
- Harnverhalt
- Verstopfung
- Verwirrtheit
- Halluzinationen
Atropin ist kontraindiziert bei:
- Engwinkelglaukom
- Tachykardie
- Blasenentleerungsstörung
- Myasthenia gravis
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
Atropin kann die Wirkung anderer Medikamente beeinflussen und umgekehrt. Zu den wichtigsten Wechselwirkungen gehören:
- Verstärkung der Wirkung von anderen Anticholinergika, Antihistaminika, Antipsychotika und Antidepressiva.
- Abschwächung der Wirkung von Cholinesterasehemmern wie Physostigmin und Pilocarpin.
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