Autismus: Unterschiede im Gehirn und neue Forschungserkenntnisse

Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die sich auf Kommunikation, Interaktion und Wahrnehmung auswirkt. Mediziner fassen die verschiedenen Ausprägungen und Schweregrade unter "Autismus-Spektrum-Störungen" zusammen. Betroffene haben meist wenig Interesse an sozialen Kontakten und es fällt ihnen schwer, mit anderen zu interagieren. Bei einigen ist die Sprachentwicklung gestört. Während frühere Theorien sich oft auf soziale Interaktion und Kommunikation konzentrierten, hebt eine aktuelle Studie der TU Dresden die Rolle der Wahrnehmung hervor.

Die Rolle des mLGN in der visuellen Verarbeitung

Prof. Katharina von Kriegstein und ihr Team an der TU Dresden haben erstmals direkte Beweise dafür gefunden, dass Autismus mit einer veränderten Verarbeitung visueller Reize im Corpus Geniculatum Laterale (mLGN) zusammenhängt, einer kleinen, aber wichtigen Struktur im Gehirn. Das mLGN leitet visuelle Informationen vom Auge zur Hirnrinde. Mithilfe hochauflösender funktioneller Magnetresonanztomographie (7T-fMRT) maßen die Forscher die BOLD-Antworten (Blood-Oxygenation-Level-Dependent) im mLGN. Dies ermöglichte die Analyse der BOLD-Antworten und ihrer Unterschiede zwischen autistischen und nicht-autistischen Erwachsenen im mLGN.

Eine Spezialisierung des mLGN ist die Wahrnehmung von Bewegung. Bewegung spielt auch eine Rolle bei sozialer Interaktion und Kommunikation, beispielsweise bei der Wahrnehmung von Gesichtsbewegungen beim Lachen oder Sprechen. Stefanie Schelinski, die Erstautorin der Studie, erklärt: „Es ist faszinierend, wie schnell und mühelos unser Gehirn visuelle Informationen verarbeitet. Viele dieser visuellen Informationen sind dynamisch. Beispielsweise können uns bei der Face-to-Face-Kommunikation die Gesichtsbewegungen des Kommunikationspartners etwas darüber verraten, was die Person sagt oder welchen emotionalen Zustand sie hat. Die präzise Wahrnehmung dieser Kommunikationssignale ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Interaktion.“

Die Ergebnisse der Studie, veröffentlicht in PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences), bieten neue Perspektiven für die Autismusforschung. S. Schelinski, L. Kauffmann, A. Tabas, C. Müller-Axt, & K. von Kriegstein (2024). Functional alterations of the magnocellular subdivision of the visual sensory thalamus in autism, PNAS, 121(47), e2413409121.

Spiegelneuronen und Autismus: Eine komplexe Beziehung

Die Forschung zu Spiegelneuronen, die in den frühen 1990er-Jahren vom italienischen Wissenschaftler Giacomo Rizzolatti entdeckt wurden, hat lange Zeit eine wichtige Rolle bei der Suche nach den Ursachen von Autismus gespielt. Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die sowohl bei der Ausführung einer Handlung als auch bei der Beobachtung derselben Handlung bei einer anderen Person aktiv sind. Sie ermöglichen es uns, Handlungen anderer zu imitieren und uns in ihre Gefühle hineinzuversetzen.

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Wissenschaftler wie Vilayanur Ramachandran sahen in Spiegelneuronen lange Zeit einen Schlüssel für viele offene Fragen in der Autismusforschung. Er versuchte zu erklären, warum sich bei einer Person mit Autismus im Inneren nichts regt, wenn er beispielsweise jemanden lachen sieht. Um die Hirnaktivität von Menschen mit Autismus zu messen, benutzte Ramachandran die Elektroenzephalografie (EEG). Dabei zeichnet das EEG die Hirnwellen über äußere Messfühler auf. Schon lange war bekannt, dass die My-Welle jedes Mal unterdrückt wird, wenn eine Person eine Muskelbewegung ausführt - zum Beispiel ihre Hand öffnet und schließt. Ramachandran fand nun heraus, dass bei Menschen mit Autismus die My-Welle nur bei eigener Bewegungsausführung unterdrückt wird, nicht jedoch, wenn sie beobachten, wie ein anderer die Bewegung ausführt.

Frühe bildgebende Verfahren schienen diese Hypothese zu unterstützen. Die Kernspintomographie bildet beispielsweise anhand von elektromagnetischen Feldern den Zustand von Gewebe und Organen ab. Erblicken wir zum Beispiel einen Menschen, so wird das "Gesichts-Erkennungs-Areal" im Gehirn aktiviert. Betrachtet eine Person mit Autismus hingegen ein Gesicht, bleibt dieses Areal stumm. Stattdessen schaltet sich ein anderer Bereich ein, den Gesunde zur allgemeinen Objekterkennung nutzen.

Allerdings können mithilfe der Spiegelzellen nicht alle Aspekte von Autismus erklärt werden, wie zum Beispiel das typische Vermeiden von Blickkontakt, das stereotype Wiederholen von Bewegungen oder eine allgemeine Überempfindlichkeit, insbesondere gegen bestimmte Geräusche.

Die anfängliche Euphorie, mithilfe der Spiegelneuronen die Autismus-Spektrum-Störungen erklären zu können, ist mittlerweile verflogen. Im Laufe der Jahre kamen Forscher zu widersprüchlichen Ergebnissen. Einige Studien bescheinigten Menschen mit Autismus etwa gesunde Spiegelneuronen. Eine Untersuchung von einem internationalen Forscherteam aus Deutschland, Frankreich und Australien von 2018 kam zu dem Schluss, dass es nicht genügend Evidenz dafür gibt, um die Spiegelneuronen als alleinige Täter schuldig für Autismus-Störungen zu sprechen. Laut der Forscher ist es vielmehr ist es ein ganzes Netzwerk an Nervenzellen, die für Autismus verantwortlich sind. Die Spiegelneuronen machen dabei nur eine Schicht von vielen aus. Auch eine Studie von britischen Forschern von 2020 unterstützt diese erweiterte Spiegelneuronen-Hypothese.

Weitere neurologische Besonderheiten bei Autismus

Neben den Erkenntnissen über das mLGN und die Spiegelneuronenforschung haben Wissenschaftler eine Vielzahl weiterer neurologischer Besonderheiten bei Menschen mit Autismus festgestellt. Diese Besonderheiten können auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden:

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  • Morphologische Befunde: Es gibt Hinweise auf ein vorübergehend beschleunigtes Hirnwachstum (damit einhergehend einvergrößerter Kopfumfang) bei ca. 1/3 der Betroffenen (unabhängig von der Intelligenz) in der Kindheit. Früher bereits festgestellte hirnanatomische Veränderungen im Kleinhirn, im Stammhirn, im limbischen System (Amygdala) konnten bestätigt werden. Es gibt Hinweise auf mangelnde Verbindungen zwischen subkortikalen und kortikalen Hirnstrukturen.
  • Biochemische Befunde: Auffällige Serotoninwerte (eine Erhöhung des Serotonin-Plasmaspiegels) wurden bestätigt. Seit Ende der 90er Jahre werden Lebensmittelunverträglichkeiten bei autistischen Menschen geprüft. Es gibt Hinweise, dass das Getreideeiweiß Gluten und das Milcheiweiß Kasein nicht komplett abgebaut werden, sondern dass ein Teil der Abbauprodukte (Peptide) ins Blut gelangt und danach in das Gehirn, wo es zu einer Irritation der Hirnreifung kommen könnte.
  • Elektrophysiologische Ableitungen: Etwa die Hälfte autistischer Menschen weist deutliche EEG-Veränderungen auf, mehr diffus als herdförmig. Etwa ein Viertel (25-30%) entwickelt im späteren Leben, meist in der Pubertät, eine Epilepsie. Es gibt Hinweise auf elektrophysiologische Besonderheiten im Frontalhirnbereich, die mit zunehmendem Alter noch deutlicher werden. Andere psychophysiologische Befunde zeigen, dass die Aufmerksamkeit und die auditive Verarbeitung bei Menschen mit Autismus beeinträchtigt ist.

Diese Befunde deuten auf eine Ausreifungsstörung des Gehirns hin, die bereits im Mutterleib beginnt (vermutlich vor der 30. Schwangerschaftswoche) und vielleicht lange anhält. Das Gehirn scheint sich nicht so zu strukturieren, wie dies der Fall sein sollte. Es ist z.T. mehr Hirnmasse und eine erhöhte Zelldichte vorhanden bei einer gleichzeitig verminderten Funktion.

Wahrnehmungsverarbeitung und Reizfilter

Die Wahrnehmung ist bei Autistinnen und Autisten prinzipiell anders; der sogenannte Reizfilter im Gehirn funktioniert schlechter oder eingeschränkt. Er filtert nicht so gut, wie er das bei nichtautistischen Menschen tut. Es wird oft gesagt, dass Autisten eine schlechtere Wahrnehmung haben. Das stimmt aber nicht, denn sie haben die bessere Wahrnehmung, weil weniger herausgefiltert wird. Ein "normaler" Mensch kann bis zu etwa 70 Reize pro Sekunde bewusst verarbeiten; im Thalamus kommen aber bis zu 70.000 Reize in der Sekunde an. Das heißt, nur ein Tausendstel der Reize kommt bei einem nichtautistischen Menschen wirklich durch.

Aufgrund von neurologischen Unterschieden des Zentralen Nervensystems verlaufen die Verarbeitungsprozesse im Gehirn anders. Informationen aus den Sinnesorganen können sehr intensiv wahrgenommen werden (intensiv angenehm, aber auch intensiv unangenehm). Es können teilweise auch Informationen ins Bewusstsein kommen, welche üblicherweise nicht registriert werden (zum Beispiel das Hören des Herzschlags, der Geräusche von Neonröhren und ähnliches). Dadurch reagieren viele sehr empfindlich auf Reize in verschiedenen Situationen. Filterprobleme in Bezug auf bedeutende und unbedeutende Reize können in manchen Situationen zur Folge haben, dass beispielsweise bei einem Gespräch die Hintergrundgeräusche gleich laut sind wie die Sprache, auf die man seine Aufmerksamkeit richten möchte. Manchmal wird das Gehirn von Reizen regelrecht „überschwemmt“ und es kommt zu Reizüberflutungen. Diese können zu einem völligen Chaos im Gehirn führen und sich in körperlichen Schmerzen, Stress, Angst und Panikreaktionen sowie völliger Handlungsunfähigkeit ausdrücken.

Es besteht die Tendenz, die Aufmerksamkeit in vielen Situationen eher auf Details zu richten und nicht auf die Situation als Ganzes und die Zusammenhänge. Durch das Zusammensetzen von Einzelheiten können zum einen sehr kreative Ideen entstehen. Zum anderen können nicht immer alle Details miteinander in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden. Eine flexible Zusammenarbeit aller Sinnesorgane ist nicht immer möglich. Intuitives Lernen durch Beobachtung ist deutlich schwieriger, vieles muss ausschließlich bewusst gelernt werden.

Hirnasymmetrie und Autismus

Eine Ursache für die Unterschiede im Gehirn von Menschen mit Autismus verorten Forschende in gestörten Mustern der Hirnasymmetrie, die möglicherweise mit einer abweichenden Lateralisierung funktioneller Prozesse zusammenhängen. Asymmetrie ist ein Schlüsselmerkmal der Gehirnorganisation, sie unterstützt ein flexibles Zusammenspiel zwischen lokalen neuronalen Modulen, die mit der funktionellen Spezialisierung verknüpft sind, die der menschlichen Kognition zugrunde liegt.

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Eine Studie, die Hirnscan-Daten von 140 autistischen Personen und 143 nicht-autistischen Personen im Alter von fünf bis vierzig Jahren auswertete, beobachtete eine verminderte linksgerichtete funktionelle Asymmetrie der Sprachnetzwerksorganisation bei Personen mit Autismus im Vergleich zu nicht-autistischen Personen. Während die Asymmetrie der Sprachnetzwerke bei letzteren in verschiedenen Altersgruppen variierte, war dies bei Autismus nicht der Fall. Dies deutet darauf hin, dass es große Unterschiede in der Asymmetrie der funktionellen Organisation bei autistischen und nicht-autistischen Personen gibt. Diese Unterschiede sind möglicherweise in der Entwicklung begründet und variieren stark von Person zu Person. Die Ergebnisse legen nahe, dass sowohl genetische als auch umweltbedingte Komponenten in diesem Zusammenhang wichtig sein könnten.

Genetische und umweltbedingte Faktoren

Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Autismus genetisch bedingt ist. Hat der Vater oder die Mutter eine Autismus-Störung, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch das Kind betroffen ist. Unterschiedliche Studien identifizieren jedoch jeweils andere Erbgut-Abschnitte als autismusverdächtig - zum Beispiel das Fehlen oder eine Verdopplung bestimmter Abschnitte der Chromosomen. Eine bekannte und gut erforschte Veränderung ist das sogenannte fragile-X-Syndrom. Dabei ist ein Abschnitt des X-Chromosoms verändert. Nicht alle Menschen mit einem fragilen-X-Syndrom haben jedoch auch eine Autismus-Störung. Forscher vermuten daher, dass erst ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen und umweltbedingten Faktoren zu Autismus führt. Welche Faktoren das sind und wie sie zu gewichten sind, gilt es noch zu entschlüsseln.

Die Forschergruppe um Prof. Dr. POUSTKA führte Studien durch mit Familien, in denen mehrere Mitglieder von Autismus betroffen sind. Aufgrund der Ergebnisse dieser Studien kommt Dr. POUSTKA zu dem Schluss: "Die Ursachen des Autismus scheinen fast ausschließlich eine genetische Basis zu haben." Dabei findet man keine Familienstammbäume mit Autismus, sondern nur eine so genannte horizontale Transmission: Es sind meist nur die Geschwister betroffen. Diese haben nach Prof. Dr. POUSTKA ein Risiko von 3 Prozent, dass sie auch autistisch sind oder werden. Bei eineiigen Zwillingen mit Autismus gibt es hohe Konkordanzraten, d. h. Übereinstimmungen. Nach Prof. Dr. POUSTKA interagieren mehrere verursachende Gene und rufen das Zustandsbild "Autismus" hervor, er geht also von einer "polygenetischen Ursache" aus.

Kohärenzschwäche und die Schwierigkeit, Zusammenhänge zu erkennen

Die Forschergruppe um UTA FRITH hat sich die Frage gestellt, was das Eigentliche, das Typische im Erleben autistischer Menschen ist. FRITH prägte den Begriff der "Kohärenzschwäche": Personen mit Autismus können nur schwer verschiedene Informationen und Erfahrungen kombinieren, um die Bedeutung eines Zusammenhanges zu erkennen. Sie verstricken sich oft in Details und verlieren den Blick für das Ganze.

Autistische Menschen haben Schwierigkeiten, sich Humor und Ironie zu erschließen. Gesunde Menschen können intuitiv andere Menschen einschätzen, sie können erspüren, was im anderen Menschen gerade vor sich geht, bzw. sozialen Situationen auch abstrakte Aspekte ab, wie Meinungen, Überzeugungen, Einstellungen, Emotionalität, usw. Autistischen Menschen fehlt der Mechanismus, das, was andere glauben könnten, aufzunehmen, zu repräsentieren.

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