Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems: Ein umfassender Überblick

Neurologische Erkrankungen umfassen Störungen des Gehirns, des Rückenmarks sowie der peripheren Nerven. Die Ursachen und die Pathogenese, die neurologischen Erkrankungen zugrunde liegen, sind vielfältig und teilweise noch nicht vollständig aufgeklärt. Entsprechend der vielfältigen Körperfunktionen, die das Nervensystem steuert, können die Symptome von neurologischen Erkrankungen sehr unterschiedlich sein. Entzündliche Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) spielen eine zunehmende Rolle in der Neurologie. Diese können erregerbedingt durch Bakterien, Pilze, Protozoen und Viren sowie nicht erregerbedingt/autoimmun (wie Multiple Sklerose, Vaskulitis) auftreten. Der folgende Artikel bietet einen umfassenden Überblick über Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems.

Einführung in Autoimmunerkrankungen des ZNS

Autoimmunologische Prozesse entstehen, wenn der Organismus nicht in der Lage ist, bestimmte Strukturen als körpereigene zu erkennen. Dies kann am Nervensystem Entzündungen hervorrufen. Das Immunsystem, das eigentlich krankmachende Einflüsse (wie Bakterien) ausschalten soll, produziert in diesen Fällen Antikörper gegen Gewebestrukturen des eigenen Körpers, zum Beispiel gegen bestimmte Teile des Nervensystems.

Häufige Autoimmunerkrankungen des ZNS

Zu den häufigsten Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems gehören:

  • Multiple Sklerose (MS)
  • Neuromyelitis optica (NMO)
  • MOG-Antikörper-assoziierte Erkrankungen (MOGAD)
  • Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
  • Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
  • Neurosarkoidose

Multiple Sklerose (MS)

Die MS ist eine chronisch entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Sie ist eine der bekanntesten und häufigsten Autoimmunerkrankungen des ZNS. Die MS ist eine chronisch entzündliche, demyelinisierende Erkrankung mit axonaler Schädigung des zentralen Nervensystems. Der Erkrankungsbeginn liegt meist im jungen Erwachsenenalter, typischerweise zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen an MS erkrankt. Frauen erkranken etwa zwei- bis dreimal häufiger an MS als Männer.

Ursachen und Auslöser der MS

Die genauen Ursachen der MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es gibt aber einige Erklärungen zu vermutlichen Auslösern. Vieles deutet darauf hin, dass genetische Faktoren sowie verschiedene Umwelteinflüsse bei der Entstehung eine Rolle spielen. Zwar ist MS selbst nicht erblich, es gibt aber vermutlich eine gewisse Veranlagung dafür. Es müssen jedoch noch weitere Faktoren hinzukommen, damit eine MS ausgelöst wird. Als Auslöser werden verschiedene Krankheitserreger diskutiert, insbesondere Viren und Bakterien. Experten vermuten, dass Vitamin D bei der Entstehung von MS eine bislang unbekannte Rolle spielt, da tendenziell in den sonnigen, äquatornahen Regionen weniger Menschen an MS erkranken.

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Symptome der MS

MS kann alle Teile des ZNS betreffen und vielfältige Symptome auslösen. Häufige Symptome sind:

  • Sehstörungen
  • Taubheit
  • Konzentrationsstörungen
  • Müdigkeit
  • Sprechstörungen
  • Koordinationsschwierigkeiten
  • Spastik
  • Blasenstörung
  • Sexualfunktionsstörung
  • Sprachstörungen
  • Schluckstörungen
  • Doppelbilder

85 - 90 % der neu diagnostizierten MS-Patienten haben eine schubförmige Verlaufsform, die als „rezidivierend-remittierende MS“ (RRMS) bezeichnet wird. Sie ist die häufigste Form der MS, die in deutlich abgrenzbaren Schüben verläuft. Die Symptome bilden sich anfangs vollständig zurück. Im späteren Verlauf können aber auch dauerhaft bleibende Schäden auftreten. Zwischen den Schüben gibt es zeitweise stabile, symptomfreie Phasen. Bei etwa 60 - 80 % der RRMS-Patienten entwickelt sich im Laufe von 10 - 20 Jahren eine sekundär-progrediente Form der MS (SPMS). Ungefähr 10 - 15 % der Patienten werden mit der sogenannten primär-progredienten Form (PPMS) diagnostiziert. Bei dieser Verlaufsform der MS kommt es von Beginn an zu einer kontinuierlichen Verschlechterung, ohne dass Schübe im eigentlichen Sinn auftreten.

Diagnose und Behandlung der MS

Die MS ist heute gut behandelbar. Je früher die Diagnose und Therapie begonnen werden, desto besser lässt sich der Verlauf verlangsamen. Der therapeutische Erfolg von immunsupprimierenden Therapien, sogenannten verlaufsmodifizierenden Medikamenten, legt eine autoimmune Pathogenese nahe.

Neuromyelitis optica (NMO)

Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) umfassen eine Gruppe von seltenen Autoimmunerkrankungen. Nur 1-3/100.000 Menschen sind betroffen. Die Entzündungen bei NMOSD betreffen vor allem das Rückenmark und die Sehnerven. Die Entzündungen können jedoch auch andere Bereiche des Gehirns betreffen.

Pathogenese der NMO

Bei der NMOSD greifen fehlgeleitete Abwehrzellen des Immunsystems fälschlicherweise körpereigenes Gewebe an. Dadurch kommt es zu Entzündungen und letztendlich zur Schädigung des Gewebes. Bei der NMOSD betrifft diese Schädigung die Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn. Bestimmte Immunzellen, die sogenannten B-Zellen, bilden zur Abwehr Eiweißmoleküle, sogenannte Antikörper. Bei Autoimmunerkrankungen bilden die fehlgeleiteten B-Zellen fälschlicherweise Antikörper, die sich nicht gegen Krankheitserreger richten, sondern an körpereigene Strukturen binden und dort Entzündungen auslösen. Auch bei NMOSD werden Autoantikörper gebildet. Einer dieser Autoantikörper bindet an Aquaporin 4 (AQP4). AQP4 ist ein körpereigenes Eiweiß, das unter anderem auf bestimmten Stützzellen in Gehirn und Rückenmark vorkommt, den sogenannten Astrozyten. Durch die Bindung des Autoantikörpers an AQP4 und die dadurch ausgelöste Entzündungsreaktion kommt es zur Schädigung der Astrozyten. Warum sich die Abwehrzellen plötzlich gegen den eigenen Körper richten, ist noch nicht vollständig aufgeklärt.

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Interleukin-6 (IL-6), Aquaporin-4-Autoantikörper (AQP4-AK) und das Komplementsystem (K) sind derzeit die wichtigsten bekannten Mechanismen der Krankheitsentstehung bei NMOSD. Bei einem Großteil der NMOSD-Patienten werden AQP4-AK gefunden. Diese werden von einer bestimmten Form der B-Zellen gebildet. IL-6 trägt dazu bei, dass vermehrt AQP4-AK durch die B-Zellen gebildet werden. Die AQP4-AK gelangen durch die Blut-Hirn-Schranke in das ZNS. Die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke wird durch eine hohe Konzentration von IL-6 im Körper begünstigt. AQP4-AK binden an das AQP4 der Stützzellen (Astrozyten) im ZNS, was zu einer Aktivierung des sogenannten Komplementsystems führt.

Symptome der NMO

Die NMOSD verläuft schubförmig. Als Schub bezeichnen Mediziner das plötzliche Auftreten von Beschwerden oder die Verschlechterung von bestehenden Symptomen. Allerdings bilden sich bei NMOSD die Beschwerden nach einem Schub häufig nicht mehr zurück. In der schubfreien Phase schreitet die Erkrankung nämlich nicht voran. Die Symptome der NMOSD entstehen durch die Schäden an den Nervenzellen. Da NMOSD vor allem die Sehnerven und/oder das Rückenmark betrifft, kommt es häufig zu Sehstörungen und Muskelschwäche in den Armen und Beinen. Die Schädigung der Nerven kann aber auch in anderen Bereichen des Gehirns auftreten und so verschiedene weitere Symptome verursachen.

Mögliche Symptome bei NMOSD sind:

  • Sehstörungen
  • Mobilitätseinschränkungen
  • Sensibilitätsstörungen
  • Störungen der Blasen- oder Darmfunktion
  • Area-postrema-Syndrom
  • Fatigue oder erhöhte Tagesschläfrigkeit
  • Kognitive Beeinträchtigungen
  • Schmerzen
  • Sprachstörungen und epileptische Anfälle
  • Schwindel und Kopfschmerzen

Diagnose der NMO

Besteht der Verdacht auf NMOSD, erfolgt die Diagnose mithilfe von verschiedenen Untersuchungen. Zu den wichtigsten Diagnoseverfahren gehören die Magnetresonanztomographie (MRT) und der Nachweis der NMOSD-typischen Autoantikörper gegen AQP4 im Blut. Seit der Entdeckung der Autoantikörper gegen AQP4 im Jahr 2004 können Ärzte mit einem einfachen Test sicher die Diagnose NMOSD bestätigen - zumindest bei 80 Prozent der Patienten.

Die Diagnose umfasst in der Regel:

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  • Ausführliches Gespräch (Anamnese)
  • Körperliche Untersuchung
  • Blutuntersuchung
  • Test auf AQP4-Autoantikörper
  • MRT
  • Untersuchung des Nervenwassers (Liquor-Diagnostik)

Der Nachweis der AQP4-Autoantikörper spielt nicht nur für die Diagnose eine wesentliche Rolle; der Serostatus ist auch entscheidend für die anschließende medikamentöse Langzeittherapie. Denn derzeit stehen nur für seropositive NMOSD-Betroffene zugelassene Medikamente zur Verfügung.

Differentialdiagnose: Multiple Sklerose

Die Multiple Sklerose (MS) gehört ebenfalls zu den Autoimmunerkrankungen und betrifft Gehirn und Rückenmark. Daher kann es zu sehr ähnlichen Symptomen wie bei NMOSD kommen. Zudem verläuft die MS auch überwiegend in Schüben. Die Abgrenzung der NMOSD von der MS ist besonders wichtig, da einige MS-Medikamente bei NMOSD unwirksam sind oder den Verlauf der NMOSD negativ beeinflussen können.

Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal sind Autoantikörper gegen AQP4. Während 80 Prozent der Patienten mit NMOSD diese aufweisen, fehlen sie bei MS-Patienten. Auch bei den MRT-Befunden gibt es Unterschiede: Charakteristisch für die NMOSD sind größere, zusammenhängende Entzündungsherde, vor allem in den Sehnerven und dem Rückenmark. Bei MS finden sich eher viele kleine Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark. Ein weiteres Verfahren zur Unterscheidung stellt die Untersuchung des Nervenwassers dar: Während sich bei der NMOSD vermehrt Zellen im Nervenwasser befinden, sind es bei der MS bestimmte Eiweiße (oligoklonale Banden).

Behandlung der NMO

Bleiben trotz intensivierter Schubtherapie Restsymptome eines NMOSD-Erkrankungsschubes zurück, gelten grundsätzlich die Prinzipien der symptomatischen Therapien bei MS. Neben medikamentösen Ansätzen nimmt die Physio- und Ergotherapie einen besonderen Stellenwert ein. Bei Bedarf kann auch eine logopädische oder neuropsychologische Therapie erfolgen.

MOG-Antikörper-assoziierte Erkrankungen (MOGAD)

MOGAD ist eine weitere Autoimmunerkrankung des ZNS, die durch Antikörper gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) gekennzeichnet ist.

Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) gehört zu den eher seltenen ZNS-Erkrankungen. Es ist eine akut oder subakut verlaufende, häufig postinfektiös auftretende Polyradikuloneuritis, die innerhalb von Tagen bis Wochen das Erkrankungsmaximum erreicht. Es kommt zu einer multifokalen Demyelinisierung und/oder axonalen Schädigung der peripheren Nerven und der Rückenmarkwurzeln. Sie ist seit dem Rückgang der Poliomyelitis die häufigste Ursache akuter schlaffer Lähmungen in der westlichen Welt. Die jährliche Inzidenz beläuft sich auf 1-2/100.000. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, tritt jedoch häufig nach Infektionen auf, wie Campylobacter jejuni, Mycoplasma pneumoniae, CMV und EBV. Bei 90 Prozent der Patienten treten initial unspezifische sensible Reizerscheinungen wie Kribbelparästhesien an Füßen und Händen sowie Rückenschmerzen auf, im Anschluss sind schlaffe Lähmungen typisch, die sich innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen von den Beinen zu den Armen ausdehnen. Aufgrund lebensbedrohlicher Komplikationen einer Dysautonomie und Ateminsuffizienz sollten Patienten immer auf einer neurologischen Intensivstation behandelt werden.

Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)

Lähmungserscheinungen sind auch Symptome der chronischen inflammatorischen demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP). Diese tritt ebenfalls meist nach Infektionskrankheiten auf, beispielsweise nach einer Hepatitis-Erkrankung (Hepatitis B und C), oder als Begleiterkrankung bei HIV-positiven Patienten.

Neurosarkoidose

Bei Patienten, die an einer Neurosarkoidose erkrankt sind, bilden sich kleine Gewebeknötchen, die sogenannten Granulome, im Nervengewebe. Das Immunsystem verstärkt die Immunantwort und richtet diese auch gegen das körpereigene Nervengewebe. Die Granulome können Druck auf die Nerven ausüben und diese so in ihrer Funktionalität einschränken.

Diagnose von Autoimmunerkrankungen des ZNS

Die Diagnose von Autoimmunerkrankungen des ZNS erfordert eine sorgfältige Anamnese, neurologische Untersuchung und spezielle Tests, um andere mögliche Ursachen auszuschließen. Zu den diagnostischen Verfahren gehören:

  • Magnetresonanztomographie (MRT): Bildgebung des Gehirns und Rückenmarks, um Entzündungsherde oder Läsionen zu identifizieren.
  • Liquoruntersuchung: Analyse des Nervenwassers, um Entzündungszeichen oder spezifische Antikörper nachzuweisen.
  • Blutuntersuchungen: Nachweis von Autoantikörpern, die für bestimmte Autoimmunerkrankungen spezifisch sind.
  • Elektrophysiologische Untersuchungen: Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, um Schäden an den Nerven zu erkennen.

Behandlung von Autoimmunerkrankungen des ZNS

Die Behandlung von Autoimmunerkrankungen des ZNS zielt darauf ab, die Entzündung zu reduzieren, das Immunsystem zu unterdrücken und die Symptome zu lindern. Zu den gängigen Behandlungsansätzen gehören:

  • Immunsuppressiva: Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken, um die autoimmune Reaktion zu stoppen.
  • Kortikosteroide: Entzündungshemmende Medikamente, die bei akuten Schüben eingesetzt werden.
  • Plasmaaustausch (Plasmapherese): Entfernung von Antikörpern aus dem Blut.
  • Intravenöse Immunglobuline (IVIG): Verabreichung von Antikörpern, um das Immunsystem zu modulieren.
  • Physiotherapie und Rehabilitation: Verbesserung der Funktion und Lebensqualität.

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