Ein Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule (HWS) ist eine Erkrankung, bei der Material aus dem Gallertkern einer Bandscheibe im Halsbereich austritt und auf das Rückenmark oder die Spinalnerven drückt. Dieser Artikel beleuchtet die Symptome, Ursachen, Diagnose und Therapieoptionen eines HWS-Bandscheibenvorfalls und bietet einen umfassenden Überblick für Betroffene und Interessierte.
Anatomie und Funktion der Halswirbelsäule
Die Halswirbelsäule (HWS) besteht aus sieben Halswirbeln, die von C1 bis C7 nummeriert sind, wobei "C" für Cervix (Hals) steht. Der erste Halswirbel (C1) wird Atlas genannt, der zweite (C2) Axis. Die Gelenkflächen zwischen Hinterhauptknochen und Atlas bilden das obere Kopfgelenk (Atlantookzipitalgelenk), während Atlas und Axis das untere Kopfgelenk (Atlantoaxialgelenk) bilden. Diese beiden Gelenke, umgangssprachlich als Genick bezeichnet, ermöglichen zusammen mit der restlichen Halswirbelsäule die hohe Beweglichkeit des Kopfes.
Zwischen den Halswirbeln C2 bis C7 liegen die Bandscheiben, die wie flüssigkeitsgefüllte Kissen wirken und Drehbewegungen in alle Richtungen ermöglichen. Zusätzlich puffern sie Erschütterungen und Stöße ab. Bandscheiben bestehen aus einem weichen Gallertkern (Nucleus pulposus), der von einem festen Faserring aus Bindegewebe (Anulus fibrosus) umgeben ist. Die Wirbel bilden auf der Rückseite (dorsal) die Wirbelbögen, die den knöchernen Wirbelkanal (Spinalkanal) umschließen.
Die Halswirbelsäule weist in der Seitenansicht eine leichte Krümmung nach vorne (ventral) Richtung Bauch auf, die Lordose genannt wird. Diese ventrale Biegung im Hals- und Lendenbereich bildet zusammen mit der entgegengesetzten Biegung nach dorsal (Kyphose) der Brustwirbelsäule und des Kreuzbeins die typische S-Form der Wirbelsäule. Diese Struktur ermöglicht es der Wirbelsäule, Bewegungen beim Gehen und Laufen abzufedern und Stabilität zu gewährleisten. Veränderungen in der natürlichen Krümmung können das Körpergleichgewicht stören und Fehlhaltungen verursachen.
Was ist ein Bandscheibenvorfall?
Bei einem Bandscheibenvorfall (Diskusprolaps) durchbricht der Gallertkern den Faserring der Bandscheibe. Das ausgetretene Material kann auf die Spinalnerven oder das Rückenmark drücken, was zu Schmerzen, Lähmungen oder Missempfindungen führen kann. Etwa 8 von 100 Bandscheibenvorfällen betreffen die Halswirbelsäule.
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Bandscheibendegeneration und -vorfall
Mit zunehmendem Alter kann sich die Feinstruktur des Faserrings degenerativ verändern. Es bilden sich feine Risse, und die Elastizität nimmt ab. Dringt der Gallertkern in diese Risse ein, entsteht eine Bandscheibenprotrusion (Vorwölbung). Dabei ist der Faserring noch intakt. Beim eigentlichen Bandscheibenvorfall (Prolaps) durchbricht der Gallertkern den Faserring vollständig, und das ausgetretene Material kann auf das Rückenmark oder die Spinalnerven drücken.
Bandscheiben ernähren sich passiv durch Aufnahme von Nährstoffen aus dem umliegenden Gewebe. Auch die Regeneration der Flüssigkeitsmenge im Gallertkern erfolgt über passiven Austausch, da die Bandscheiben keine eigenen Blutgefäße besitzen. Regelmäßige Bewegung fördert den Ein- und Ausstrom von Nährstoffen und Stoffwechselprodukten. Im Schlaf erholen sich die Bandscheiben, da sie in dieser Zeit keiner Belastung ausgesetzt sind und sich wieder mit Flüssigkeit vollsaugen.
Lokalisation des Bandscheibenvorfalls
Ein Bandscheibenvorfall kann unterschiedlich lokalisiert sein:
- Eher seitlich in der Nähe des Nervenaustrittskanals (Neuroforamen): Hier verlässt der Spinalnerv den Wirbelkanal und wird vom Prolaps eingeengt.
- Mittig: Dieser Bandscheibenvorfall komprimiert das Rückenmark und kann zu Lähmungen in den Beinen, Gleichgewichts- und Gangstörungen führen.
Am häufigsten ist der untere Teil der Halswirbelsäule betroffen, insbesondere die Bandscheiben zwischen den Halswirbelkörpern C5/C6 bzw. C6/C7.
Ursachen und Risikofaktoren
Bei den meisten Patienten mit einem HWS-Bandscheibenvorfall liegen degenerative Verschleißerscheinungen vor, die mit einem geschwächten Bindegewebe einhergehen. Der Faserring wird mit dem Alter weniger stabil und elastisch und kann dem Druck des Gallertkerns nicht mehr ausreichend standhalten. Stabilisierende Bänder im Bereich der Bandscheiben werden porös, wodurch die Wirbel nicht mehr stabil übereinander orientiert sind.
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Weitere Faktoren, die einen Bandscheibenvorfall begünstigen können, sind:
- Berufliche oder sportliche Fehlbelastungen der Halswirbelsäule über einen längeren Zeitraum
- Bewegungsmangel
- Erhöhte Belastung des Rückens, z.B. schweres Heben
- Übergewicht
- Hohlkreuz
- Ungesunde Ernährung
- Nicht ausreichende Flüssigkeitsaufnahme
- Rauchen
- Sitzende Tätigkeiten
- Fehlhaltung und -belastung
- Schwäche der Rumpfmuskulatur
In seltenen Fällen kann ein akuter HWS-Bandscheibenvorfall als Folge von Unfällen mit abrupten Drehbewegungen des Kopfes auftreten. Erfahrungsgemäß ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich bei Menschen ohne Vorschädigungen durch einen Unfall ein Bandscheibenvorfall der HWS ausbildet.
Symptome eines HWS-Bandscheibenvorfalls
Nicht jeder im MRT oder Röntgen erkennbare Bandscheibenvorfall verursacht Beschwerden. Wenn der Druck des ausgetretenen Gallertkerns jedoch die Wurzeln der Spinalnerven reizt, kann dies neben starken Nackenschmerzen auch Schmerzen in der Schulter, Taubheitsgefühl, Kribbeln oder Lähmungen der Muskulatur von Arm oder Hand auslösen. Die Schmerzqualität wird von den Patienten unterschiedlich beschrieben und reicht von grell einschießend über klopfend bis hin zu dumpf.
Jeder vom Rückenmark abzweigende Spinalnerv besitzt motorische und sensible Anteile, die Reize in definierte Segmente von Schulter, Arm und Fingern leiten. Aus diesem Grund kann der Wirbelsäulenspezialist sensible Missempfindungen auf der Hautoberfläche und motorische Ausfallerscheinungen einem bestimmten Halswirbelabschnitt zuordnen.
Einige typische Symptome je nach betroffenem Nervensegment sind:
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- C3/C4: Starke Nackenschmerzen
- C4/C5: Schmerzen im Schulterbereich, Schwierigkeiten beim Heben des Arms
- C5/C6: Schmerzen über den gesamten Arm bis in den Daumen
- C6/C7: Schmerzen im Zeige- und Mittelfinger
- C7/Th1: Schmerzen auf der Außenseite des Unterarms bis zum Kleinfinger
Bei einem mittig gelegenen Bandscheibenvorfall, der das Rückenmark komprimiert, können Lähmungen in den Beinen, Gleichgewichts- und Gangstörungen auftreten. In schweren Fällen kann es zu einer Querschnittslähmung kommen.
Abgrenzung zu anderen Erkrankungen
Ein Wirbelsäulenspezialist kann durch differenzierte Diagnostik andere Erkrankungen der Halswirbelsäule von einem Bandscheibenvorfall der HWS unterscheiden. Beispielsweise können Betroffene nach einem Auffahrunfall ein Schleudertrauma (HWS-Distorsion) erleiden, das ähnliche Symptome verursachen kann, aber in der Regel ohne Komplikationen von selbst ausheilt.
Auch eine Spinalkanalstenose, bei der knöcherne oder weiche Strukturen den Wirbelkanal einengen, kann ähnliche Beschwerden wie ein Bandscheibenvorfall auslösen. Der Austritt von Material aus dem Gallertkern einer Bandscheibe kann jedoch auch ein möglicher Auslöser einer Spinalkanalstenose sein.
Ein Bandscheibenvorfall der Brustwirbelsäule (BWS) kann von einem HWS-Prolaps abgegrenzt werden, da sich die Schmerzen hier von den Schulterblättern ausgehend ringförmig nach vorne um den Brustkorb ziehen.
Diagnose
Die Diagnose eines HWS-Bandscheibenvorfalls umfasst in der Regel folgende Schritte:
- Anamnese: Der Arzt erfragt die medizinische Vorgeschichte und die aktuellen Beschwerden des Patienten.
- Körperliche Untersuchung: Der Arzt führt Bewegungstests sowie Reflex- und Sensibilitätsprüfungen durch, um eine Nervenreizung festzustellen.
- Bildgebende Verfahren:
- Röntgenaufnahmen: Dienen der Übersicht über degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule und Einengungen der Foramina (Zwischenwirbellöcher).
- Computertomographie (CT): Kann in manchen Fällen die Diagnose stellen, wird aber aufgrund der besseren Auflösung und mehrdimensionalen Bildgebung meist von der MRT vorgezogen.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Ist die Untersuchungsmethode der ersten Wahl, um Lokalisation, Art und Ausdehnung des Bandscheibenvorfalls zu beurteilen.
- Myelographie: Kommt in seltenen Fällen zum Einsatz.
Bei Verdacht auf Spinalkanalstenose achtet der Orthopäde bei der Auswertung des MRT oder Röntgenbilds besonders auf Anzeichen für eine Engstelle im Spinalkanal, knöcherne Verdickungen der Facettengelenke, Knochensporne (Spondylophyten) sowie auf gegeneinander verschobene Gleitwirbel (Spondylolisthesis).
Wann zum Arzt?
Es ist ratsam, einen Arzt aufzusuchen, wenn folgende Symptome auftreten:
- Starke Nackenschmerzen, die in Arme oder Hände ausstrahlen
- Taubheitsgefühl, Kribbeln oder Lähmungen in Armen oder Händen
- Gleichgewichts- oder Gangstörungen
- Störungen beim Wasserlassen oder Stuhlgang (sofortige ärztliche Hilfe erforderlich)
Therapie
Die Therapie eines HWS-Bandscheibenvorfalls richtet sich nach der Schwere der Symptome und dem Ausmaß der Schädigung. In den meisten Fällen reicht eine konservative Behandlung aus.
Konservative Therapie
Die konservative Behandlung zielt darauf ab, die Schmerzen zu lindern, die Beweglichkeit wiederherzustellen und eine weitere Schädigung zu verhindern. Zu den Maßnahmen gehören:
- Schmerzmittel und entzündungshemmende Medikamente: Nichtsteroidale Antiphlogistika (z.B. Ibuprofen, Diclofenac) oder Kortison können zur Schmerzlinderung und Entzündungshemmung eingesetzt werden.
- Muskelrelaxantien: Können bei Muskelverspannungen helfen.
- Physiotherapie: Umfasst Übungen zur Kräftigung der Nacken- und Schultermuskulatur, Verbesserung der Beweglichkeit und Haltungsschulung.
- Wärme- oder Kälteanwendungen: Können zur Schmerzlinderung und Muskelentspannung eingesetzt werden.
- Manuelle Therapie: Kann zur Lösung von Blockaden und Verbesserung der Beweglichkeit eingesetzt werden (bei neurologischen Ausfällen kontraindiziert).
- Halskrause (Zervikalstütze): Kann für die ersten Tage nach einem HWS-Bandscheibenvorfall helfen, die Muskulatur zu entlasten und Verspannungen zu lösen.
- Injektionstherapie: Die Injektion von schmerz- und entzündungshemmenden Medikamenten direkt an die komprimierten Nervenwurzeln (Infiltration der Wirbelsäule) kann bei akuten Schmerzbeschwerden helfen.
Die Ruhigstellung und Entlastung der Halswirbelsäule zusammen mit einer individuell angepassten Schmerztherapie hilft erfahrungsgemäß bei den meisten Patienten mit Einklemmung des Spinalnerven. Es ist wichtig, möglichst zeitnah wieder körperlich aktiv zu sein, um Schonhaltungen zu vermeiden und die Genesung zu fördern.
Operative Therapie
Eine Operation wird in Erwägung gezogen, wenn die konservativen Behandlungsmaßnahmen auch nach einigen Wochen ohne spürbaren Erfolg bleiben oder wenn neurologische Ausfälle (Lähmungen, Inkontinenz) vorliegen.
Es gibt verschiedene operative Verfahren:
- Ventrale Diskektomie mit Fusion: Hierbei wird die geschädigte Bandscheibe von vorne über einen Hautschnitt nahe dem Kehlkopf entfernt und durch ein Platzhalter-Implantat (Cage) ersetzt, um eine Versteifung (Fusion) des betroffenen Segments zu erreichen.
- Ventrale Diskektomie mit Implantation einer Bandscheibenprothese: Bei diesem Verfahren wird die geschädigte Bandscheibe ebenfalls von vorne entfernt, aber anstelle eines Platzhalters wird eine künstliche Bandscheibe eingesetzt, um die Beweglichkeit des Segments zu erhalten.
- Dorsale Foraminotomie (Operation nach Frykholm): Dieses Verfahren wird angewendet, wenn der Bandscheibenvorfall nur eine Nervenwurzel in ihrem knöchernen Kanal einengt. Dabei wird der Kanal erweitert, um der Nervenwurzel wieder Platz zu verschaffen.
Nach einer Bandscheiben-OP ist meistens ein kurzer Krankenhausaufenthalt von wenigen Tagen notwendig. Vier bis sechs Wochen später können Betroffene mit einer Anschlussrehabilitation (AHB) beginnen, um ihren Körper zu kräftigen, neuen Beschwerden vorzubeugen oder restliche Beeinträchtigungen zu behandeln.
Wahl der Therapie
Bei der Entscheidung über die Behandlung spielen nicht nur die Empfehlungen der medizinischen Experten eine Rolle, sondern auch die persönlichen Präferenzen des Patienten. Kommen sowohl konservative als auch operative Ansätze infrage, erläutern die Ärzte die Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten und beziehen die Wünsche des Patienten ein, um gemeinsam die individuell richtige Behandlung zu finden.
Rehabilitation und Nachsorge
Unabhängig von der gewählten Therapie ist eine aktive Weiterbehandlung in Form von Physiotherapie und gezieltem Training der Bauch- und Rückenmuskulatur wichtig, um die Ernährung und Versorgung der Bandscheibe zu verbessern und den gesamten Körper zu stärken.
Die Spezialisten empfehlen ihren Patienten unbedingt, an einer postoperativen Reha-Maßnahme teilzunehmen, um ein abgestimmtes Übungsprogramm zu erhalten, das sie auch später zu Hause einsetzen können. Die Zeit zur Erholung variiert und kann mehrere Wochen betragen. Abhängig vom ausgeübten Beruf können Patienten mit sitzender Tätigkeit schneller wieder ins Büro zurückkehren als körperlich schwer arbeitende Menschen.
Prävention
Um das Risiko für einen Bandscheibenvorfall zu senken, ist es sinnvoll, den altersbedingten Verschleiß der Bandscheiben nicht zusätzlich zu verstärken und auf die eigene Rückengesundheit zu achten.
Folgende Maßnahmen können helfen, einem Bandscheibenvorfall vorzubeugen:
- Rückenschonendes Heben und Tragen von schweren Gegenständen
- Kräftigung der Rücken- und Bauchmuskulatur
- Regelmäßige Bewegung
- Vermeidung von Übergewicht
- Ergonomischer Arbeitsplatz
- Gesunde Ernährung
- Ausreichende Flüssigkeitsaufnahme
- Vermeidung von Rauchen
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