Jeder Mensch erinnert sich gerne an Vergangenes - sei es durch Fotos, Musik oder Gerüche, die mit schönen Erinnerungen verbunden sind. Gerade Menschen mit Demenz benötigen solche positiven Erinnerungen. Die Biografiearbeit ist eine wertvolle Methode, um Demenzkranken ihre Würde und Individualität zurückzugeben. Sie ermöglicht es, auf die einzigartige Lebensgeschichte jedes Menschen einzugehen und eine bedürfnisorientierte Betreuung zu gewährleisten. Sie erlaubt es, nicht nur auf eine Krankheit oder ein momentanes Verhalten reduziert zu werden, sondern als ganzheitliche Person wahrgenommen zu werden.
Einführung in die Biografiearbeit
Biografiearbeit ist die aktive Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte eines Menschen. Sie umfasst die Bereiche der Sozialarbeit und der Psychologie und ist ein Verfahren der aktivierenden Pflege. Sie sorgt dafür, individuell auf die Bedürfnisse der KundInnen einzugehen. Sie beinhaltet die Felder der Sozialarbeit und der Psychologie.
Die Biografie umfasst die Summe aller Erlebnisse, Erfahrungen und Entwicklungen eines Menschen von der Geburt bis zum Tod. Die Wiedergabe der eigenen Biografie ist immer ein konstruktiver Prozess, wobei nicht alle Lebensereignisse erinnert werden oder das real Erlebte eins zu eins widerspiegeln.
Bedeutung der Biografiearbeit
- Individualisierte Pflege: Kenntnisse über die Biografie helfen, Signale besser zu verstehen und noch vorhandene Fähigkeiten zu fördern.
- Vertrauensbasis: Eine erfolgreiche Biografiearbeit erfordert eine Vertrauensbasis zwischen Pflegekraft und Betreutem, die Feingefühl, Sorgfalt und Verschwiegenheit voraussetzt.
- Ganzheitlicher Ansatz: Biografiearbeit betrachtet den Menschen in seiner Gesamtheit und ermöglicht es, seine Lebensleistung zu erkennen und zu würdigen.
- Ressourcenaktivierung: Sie blickt zurück in die Vergangenheit, um Ressourcen für die Gegenwart und Zukunft zu erkennen.
- Sinnfindung: Im eigenen Leben wird Sinnhaftigkeit wahrgenommen. Diese wiederum kann zu innerem Frieden und einer Versöhnung mit den Lebensphasen führen, die vielleicht nicht so optimal verlaufen sind. Glücksgefühle können intensiv wiedererlebt und Niederlagen oder Phasen der Trauer im Gesamtzusammenhang relativiert werden.
Ziele der Biografiearbeit
Die Ziele der Biografiearbeit in der Pflege erstrecken sich auf unterschiedliche Bereiche. Es gibt keine standardisierte Vorgehensweise.
- Erleichterung der Pflege: Durch den Austausch von Erfahrungen und Emotionen entsteht eine vertraute Basis, die in den gesamten Pflegeprozess eingebunden werden kann.
- Erhöhung der Lebensqualität: Biografiearbeit soll die Lebensqualität der pflegebedürftigen Person erhöhen.
- Unterstützung bei Demenz: Sie bietet die Möglichkeit, die vertraute und positiv wahrgenommene Lebenswelt im Alltagserleben wiederzufinden.
- Sterbebegleitung: Eine ausgearbeitete Biografiearbeit hilft bei der Sterbebegleitung.
- Erinnerungspflege: Biografiearbeit kann schöne Erinnerungen wecken und somit eine Quelle der Kraft für die Gegenwart und die Zukunft sein.
Methoden der Biografiearbeit
Es existiert eine weitreichende Fülle an Vorschlägen von unterschiedlichen Methoden, Techniken und Instrumente.
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Informationssammlung
Biografische Informationen können auf unterschiedlichen Wegen gesammelt werden:
- Zuhören: Die Pflegekraft hört aufmerksam zu, auch beiläufige Äußerungen.
- Gespräche mit Angehörigen: Angehörige können wertvolle Informationen beitragen.
- Hilfsmittel: Fotoalben, Schriftstücke und andere persönliche Gegenstände können Erinnerungen wecken.
Themenfelder der Biografiearbeit
Es gibt unterschiedliche Themenfelder und Betreuungsangebote, die für eine erfolgreiche Biografiearbeit in der Pflege genutzt werden können. Diese Auflistung zeigt, dass Pflegekräfte und andere betreuende Personen unzählige Möglichkeiten haben, eine Biografiearbeit zu entwickeln.
Zur Biografie eines Menschen gehören:
- Ereignisse: Kindheit, erster Schultag, Schulzeit, Konfirmation/Kommunion, Schulabschluss, Verlobung, Hochzeit, erster Arbeitstag.
- Personen: Schulkameraden, Freunde, Bekannte, Ehepartner, Verwandte, Arbeitskollegen, Vereinsmitglieder, Kinder, Enkel.
- Freizeitgestaltung: Hobbies, Vereinstätigkeiten, Urlaub, Ausflugsziele, Wanderungen, Städtereisen, Oper- oder Museumsbesuche, Kinobesuche, Kochen, Nachbarschaftshilfe, Ehrenamt, Tanzen.
- Beruf: Ausbildung, Studium, ausgeübte Berufe, Arbeitgeber, ausgeübte Tätigkeiten, Karriereentwicklung, welche Verantwortungen wurden übernommen.
- Persönliches: Kleidungsstil, Haustiere, Träume und Wünsche, Allergien, Krankheiten, besondere Talente, Tabuthemen, Vorlieben und Abneigungen.
Konkrete Methoden und Techniken
- Lebensgeschichtliches Gespräch: Durch gezielte Fragen werden Erinnerungen aktiviert und ein Austausch über die Vergangenheit gefördert.
- Erinnerungskoffer: Gegenstände aus der Vergangenheit werden in einem Koffer zusammengestellt, um Erinnerungen und Emotionen zu wecken.
- Erinnerungsalben und -boxen: Visuelle und haptische Anreize regen die Erinnerung an.
- Erzählcafés und -kreise: In Gruppen werden Erinnerungen ausgetauscht und geteilt.
- Kreative Methoden: Lebenscollagen, -bücher, -linien und -uhren helfen, die eigene Lebensgeschichte zu verarbeiten.
- Sinnesaktivierung: Musik, Gerüche, Speisen und andere sensorische Reize können Erinnerungen wecken, besonders im fortgeschrittenen Stadium der Demenz.
Der Erinnerungskoffer im Detail
Die Methode der Erinnerungskoffer ist eine besonders effektive Möglichkeit, um die Biografiearbeit bei Menschen mit Demenz und Migrationshintergrund zu unterstützen.
Warum ein Erinnerungskoffer?
Gegenstände, die die Erinnerungsarbeit anregen, werden in einem alten Koffer für unterschiedliche Formen und Anlässe der Biografiearbeit zusammengestellt. Durch die Berührung dieser Objekte werden Erinnerungen wachgerufen und Emotionen geweckt. Demente Menschen beginnen sich zu erinnern, zu erzählen und sich auszutauschen.
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Inhalt und Gestaltung
- Originale Gegenstände: Die Gegenstände sollten aus der früheren Alltagswelt der Menschen mit Migrationshintergrund stammen und wiedererkennbar sein.
- Muttersprache: Die Gegenstände sollten in der Muttersprache des Betroffenen benannt werden.
- Freie Verknüpfungen: Der Koffer kann auch Gegenstände enthalten, die freie Verknüpfungen ermöglichen, wie einen Pass oder eine Arbeitsbescheinigung.
- Kinderspiele: Murmeln, Springseil, Jo-Jo oder traditionelle Spiele aus dem Herkunftsland können Erinnerungen an die Kindheit wecken.
- Kinderreime: Ein Buch mit Kinderreimen in verschiedenen Sprachen gehört unbedingt in den Erinnerungskoffer.
- Küchengeräte: Dosenöffner, Teigroller, Schürze oder alte Rezepte können Erinnerungen an die Küche und das Kochen wachrufen.
- Schulzeit: Schultafel, Stifte oder Schulbücher können Erinnerungen an die Schulzeit hervorrufen.
- Urlaubserinnerungen: Kamera, Fahrkarten oder Fotos vom Urlaub in der Heimat oder in Deutschland.
- Arbeitsfotos: Fotos von Gastarbeitern in der Werkstatt oder in der Fabrik oder von Frauen, die im Restaurant, in der Fabrik oder im Haushalt gearbeitet haben.
- Sitten und Gebräuche: Fotos, die verschiedene Sitten und Gewohnheiten aus unterschiedlichen Ländern zeigen, das Treffen in dem Verein, das erste Auto, alte Zeitungen, alte Nähmaschine.
Einsatzmöglichkeiten
- Individuelle Nutzung: Der Erinnerungskoffer kann in das Zimmer der Betroffenen gestellt werden.
- Gesprächsanregung: Pflegende, Betreuungskräfte oder Angehörige können den Koffer als Anregung für ein Gespräch oder als Gedächtnistraining nutzen.
- Nationalitätenspezifisch: Der Koffer kann nach Nationalität zusammengestellt werden, damit die Biografiearbeit je nach Herkunftsland durchgeführt werden kann.
- Einbeziehung von Angehörigen: Die Koffer können gemeinsam mit Angehörigen zusammengestellt werden, die passende Gegenstände auswählen und bei der Übersetzung helfen können.
Herausforderungen und Chancen
Die Biografiearbeit birgt Herausforderungen, die Pflegefachkräfte sensibel angehen müssen, um eine positive und respektvolle Erfahrung für die Betroffenen zu gewährleisten.
Herausforderungen
- Zeitaufwand: Biografiearbeit ist zeitintensiv und nicht für jede Einrichtung geeignet.
- Negative Erfahrungen: Intime Momente aus der Vergangenheit können negative Erfahrungen oder Traumata erneut zu Tage treten lassen.
- Kognitive Einschränkungen: Verstehen und Sprechen können durch kognitive Einschränkungen beeinträchtigt sein.
- Unvollständige Informationen: Es ist wichtig, sich nicht auf unvollständige oder ungenaue Informationen zu stützen.
- Eigene Vorurteile: Pflegefachkräfte müssen sich ihrer eigenen Vorurteile und Stereotypen bewusst sein.
- Sensibler Umgang: Gespräche über die Biografie können schmerzhafte oder traumatische Erinnerungen hervorrufen.
Chancen
- Tiefere Bindung: Durch den intensiven Austausch kann eine tiefere Bindung zur pflegebedürftigen Person aufgebaut werden.
- Vertrauen: Großes Vertrauen zur Pflegekraft führt dazu, dass Pflegebedürftige Vorschläge annehmen und offener gegenüber neuen Betreuungsangeboten sind.
- Struktur und Bezug zur Gegenwart: Bei Demenzerkrankten kann durch den Austausch mit der Vergangenheit eine gewisse Struktur sowie ein Bezug zur Gegenwart geschaffen werden.
- Individuelle Betreuung: Die Biografiearbeit ermöglicht eine bedürfnisorientierte Betreuung, die auf die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen eingeht.
- Stärkung der Identität: Biografiearbeit hilft, Selbstbild und Identität auf Basis lebensgeschichtlicher Erfahrungen, Gewohnheiten und Schlüsselthemen aufrechtzuerhalten.
Schritte zur erfolgreichen Biografiearbeit
- Zeit nehmen: Für die Erhebung der Biografie Zeit nehmen und den Erhebungsbogen nicht sofort komplett ausfüllen.
- Gespräche nutzen: Gespräche, Verhaltensweisen und Erlebnisse mit dem Erkrankten nutzen, um seine Biografie besser zu verstehen, und Erkenntnisse dokumentieren.
- Angehörige einbeziehen: Freunde und Angehörige befragen und diese auf diese Weise gleichzeitig mit in die Betreuung und Pflege einbeziehen.
- Wissen zugänglich machen: Dokumentiertes Wissen allen an der Betreuung und Pflege Beteiligten zugänglich machen.
- Aufzeichnungen aktuell halten: Biografie-Aufzeichnungen aktuell halten.
- Mitarbeiter informieren: Sicherstellen, dass Mitarbeiter oder KollegInnen die biografischen Daten ihrer Patienten kennen und entsprechend berücksichtigen.
- Pflegeplanung berücksichtigen: Das gewonnene Wissen aus der Biografiearbeit bei der Pflegeplanung berücksichtigen.
- Datenschutz beachten: Bei biografischen Angaben den Datenschutz beachten.
Verantwortlichkeit und Organisation
- Verantwortlichen festlegen: Im Team einen Verantwortlichen festlegen, der über viel Einfühlungsvermögen verfügt und gerne die Biografiearbeit übernimmt.
- Zeitraum definieren: Einen sinnvollen Zeitraum definieren, um sich mit einem neuen Pflegekunden zusammenzusetzen.
- Äußere Form beachten: Die Form wählen, die für den Pflegekunden die angenehmste ist (persönliches Gespräch oder schriftliches Ausfüllen).
- Fallgespräch führen: Ein Fallgespräch im Team durchführen, um alle Kollegen auf einen gleichen Wissensstand zu bringen.
- Daten verwenden: Überlegen, wie die gesammelten Daten im Alltag weiterverwendet werden können.
Werte und Besonderheiten älterer Generationen
Die Generation, die in den Einrichtungen begleitet wird, ist oft durch die Kriegszeiten geprägt.
Werte wie Verantwortungsgefühl, Pünktlichkeit, Fleiß, Pflichterfüllung, Disziplin, Gewissenhaftigkeit, Ordnung, Anstand und Religiosität spielen eine wichtige Rolle.
Es ist wichtig, die Prägung und Werte der Pflegekunden ansatzweise zu kennen, um sie nicht zu verärgern.
Berücksichtigung unterschiedlicher Generationen
Die Altersbandbreite der Pflegekunden umfasst oft eine Spanne von etwa 30 Jahren oder mehr. Daher ist es wichtig, mit völlig unterschiedlichen Generationen umzugehen und deren Werte individuell zu berücksichtigen.
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Umgang mit anvertrauten Informationen
Wenn Pflegekunden unter dem Siegel der Verschwiegenheit Dinge aus ihrer Vergangenheit anvertrauen, entsteht ein Interessenkonflikt, wie mit diesem Wissen umgegangen werden soll.
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