Dieser Artikel bietet einen detaillierten Einblick in neurologische Normwerte, die in verschiedenen diagnostischen Verfahren der Neurologie verwendet werden. Ziel ist es, ein umfassendes Verständnis für die Interpretation neurologischer Tests zu vermitteln, sowohl für medizinische Fachkräfte als auch für interessierte Laien.
Einleitung
In der Neurologie spielen Normwerte eine entscheidende Rolle bei der Diagnose und Beurteilung von Erkrankungen des Nervensystems. Sie dienen als Referenz, um pathologische von physiologischen Zuständen zu unterscheiden. Dieser Artikel beleuchtet verschiedene neurologische Untersuchungsmethoden und die zugehörigen Normwerte, um eine fundierte Interpretation der Ergebnisse zu ermöglichen.
Elektroneurografie (ENG)
Die Elektroneurografie (ENG) ist eine Methode zur Untersuchung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) in peripheren motorischen und sensiblen Nerven. Sie basiert auf der Reizung peripherer Nerven mit definierten Rechteckstromimpulsen über Oberflächen- oder Nadelelektroden.
Motorische Neurografie
Bei der motorischen Neurografie wird ein EMAP (evoziertes Muskelaktionspotential) registriert, indem Oberflächenelektroden über dem Muskel platziert werden. Die differente Elektrode liegt über der Endplattenregion, die indifferente Elektrode über der Sehne des Muskels (Belly-Tendon-Montage). Eine supramaximale Nervenreizung ist wichtig für die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse.
Parameter der motorischen Neurografie:
- Distal-motorische Latenz (DML oder distale Latenz [dL])
- Distale und proximale EMAP-Amplitude (Peak-to-peak oder negativer Peak)
- Dauer und Fläche (des negativen Peaks oder gesamten Potenzials)
- Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), errechnet aus der Strecke zwischen den Stimulationsorten und der Latenzdifferenz
Normwerte für die motorische Nervenleitgeschwindigkeit:
| Nerv | Ableitemuskel | Distale Latenz (ms) | NLG (m/s) | Amplitude (mV) |
|---|---|---|---|---|
| Mittelwert | Mittelwert | Mittelwert | ||
| N. medianus | M. abductor pollicis brevis | 3,7 | 56,7 | 13,2 |
| N. ulnaris | M. abductor digiti minimi | 2,5 | 59,8 | 12,2 |
| N. peronaeus | M. extensor digitorum brevis | 3,7 | 49,5 | 10,1 |
| N. tibialis | M. abductor hallucis | 3,7 | 48,9 | 14,3 |
Sensible Neurografie
Bei der sensiblen Neurografie wird ein SNAP (sensibles Nervenaktionspotential) von sensiblen oder gemischten Nerven abgeleitet. Dies geschieht mittels Oberflächenelektroden oder subkutanen nervennahen Nadelektroden bei orthodromer Technik nach Reizung des zugehörigen sensiblen Nervs. Alternativ kann in antidromer Technik nach Reizung des gemischten Nervs vom sensiblen Endast ein Potenzial abgeleitet werden.
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Normwerte für die antidrome sensible Neurografie:
| Nerv | Reizort/Ableiteort | NLG (m/s) | Amplitude (μV) |
|---|---|---|---|
| Mittelwert | Mittelwert | ||
| N. medianus | Handgelenk/Finger | 54,2 | 13,7 |
| N. ulnaris | Handgelenk/Finger | 53,8 | 11,0 |
| N. radialis, Ramus superficialis | Distaler Unterarm/radialer Handrücken | 63,5 | 39,1 |
| N. peronaeus superficialis | Distaler Unterschenkel/medialer Fußrücken | 51,2 | 18,3 |
| N. suralis | Distaler Unterschenkel/lateraler Fußrand | 52,5 | 20,9 |
Einflussfaktoren auf die Neurografie
Verschiedene Faktoren können die Ergebnisse der motorischen und sensiblen Neurografie beeinflussen:
- Innervationsanomalien: Z. B. Martin-Gruber-Anastomose am Unterarm
- Submaximale Reizung: Führt zu fälschlicherweise zu langen Latenzen oder erniedrigten Nervenleitgeschwindigkeiten
- Geringe Abstände: Erhöhen den relativen Fehler bei Abstandsmessungen
- Alter: Die NLG nimmt bis zum 3.-5. Lebensjahr zu und ab dem 60. Lebensjahr ab.
- Temperatur: Mit zunehmender Temperatur nehmen Latenz und Amplitude ab, die NLG steigt.
- Lokalisation der untersuchten Nervensegmente: Proximale Nervensegmente haben eine schnellere NLG als distale.
F-Welle
Die F-Welle ist eine spiegelreflektorische Antwort der motorischen Vorderhornzelle nach antidromer Erregung. Sie wird bei der motorischen Neurografie abgeleitet und ermöglicht die Beurteilung proximaler Nervenabschnitte.
Normwerte für F-Wellen:
| Nerv | Ableiteort/Reizort | Latenz (ms) |
|---|---|---|
| Oberer Grenzwert | ||
| N. medianus | M. abductor pollicis brevis/Handgelenk | 31 |
| N. ulnaris | M. abductor digiti minimi/Handgelenk | 31 |
| N. peronaeus | M. extensor digitorum brevis/distaler Unterschenkel | 52,7 |
| N. tibialis | M. flexor hallucis brevis/Kniekehle | 52,9 |
H-Reflex
Der H-Reflex (Hoffmann-Reflex) ist ein monosynaptischer Reflex, bei dem die afferente Impulswelle über Ia-Fasern zum Rückenmark gelangt und auf das α-Motoneuron umgeschaltet wird. Er wird hauptsächlich zur Beurteilung von S1-Läsionen oder Polyneuropathie eingesetzt.
Elektromyographie (EMG)
Die Elektromyographie (EMG) misst die elektrische Aktivität von Muskeln mithilfe einer dünnen Nadelelektrode, die in den Muskel injiziert wird. Sie dient zur Feststellung von Schädigungen am zuführenden Nerven oder Erkrankungen des Muskels selbst.
Vorgehensweise
- Der Patient wird aufgefordert, den untersuchten Muskel zu entspannen.
- Bei leichter und starker Anspannung des Muskels werden elektrische Potentiale abgeleitet.
- Die Untersuchung ermöglicht Rückschlüsse auf Schädigungen des Nerven an der Wirbelsäule (z.B. durch einen Bandscheibenvorfall) oder Erkrankungen des Muskels selbst.
Evozierte Potentiale (EP)
Evozierte Potentiale (EP) sind Hirnstromaktivitäten, die durch einen Sinnesreiz ausgelöst werden. Sie ermöglichen eine objektivierbare und quantifizierbare Darstellung von Störungen im Nervensystem.
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Sensibel Evozierte Potentiale (SEP)
Die Messung der sensibel evozierten Potentiale (SEP) untersucht die Leitung im sensiblen System. Ein elektrischer Impuls wird über einem Nerven am Bein, Arm oder Gesicht gegeben, und die hervorgerufenen Nervenpotentiale werden über Elektroden am Kopf bzw. an der Wirbelsäule oder Schulter abgeleitet und vermessen.
Durchführung:
- Nervenstimulation am Innenknöchel über dem N. tibialis oder am N. medianus/ulnaris knapp proximal des Handgelenks.
- Ableitung der Potentiale über Elektroden am Kopf bzw. an der Wirbelsäule oder Schulter.
- Wichtig ist, dass der Patient entspannt ist und sich nicht bewegt.
SEP-Komponenten und Generatoren:
| Ableiteort | Potenzialkomponente | Latenz (ms) | Generator |
|---|---|---|---|
| Erb | N9 | 10,9 | Vorbeiziehendes gemischtes NAP des N. medianus |
| HWK6 | N13a | 11,6 | Vorbeiziehendes gemischtes NAP des N. medianus |
| HWK2 | N13b | 12,8 | Potenzial des Nucleus cuneatus |
| Skalp | N20 | 20,0 | Kortikal C3′ bzw. C4′ |
| Skalp | P25 | 26,0 | Kortikal C3′ bzw. C4′ |
Normwerte für Medianus- und Tibialis-SEP:
| Nerv | Ableiteort | Potenzialkomponente | Latenz (ms) |
|---|---|---|---|
| Mittelwert ± SD | |||
| N. medianus | Erb | N9 | 10,9 ± 0,9 |
| N. medianus | HWK6 | N13a | 11,6 ± 0,9 |
| N. medianus | HWK2 | N13b | 12,8 ± 1,2 |
| N. medianus | Skalp | N20 | 20,0 ± 1,6 |
| N. medianus | Skalp | P25 | 26,0 ± 2,6 |
| N. tibialis | Skalp | P40 | 40,0 ± 2,0 |
| N. tibialis | Skalp | N50 | 50,0 ± 3,0 |
Visuell Evozierte Potentiale (VEP)
Visuell evozierte Potentiale (VEP) werden in Abhängigkeit eines einfachen, wiederholt dargebotenen Reizes über dem okzipitalen Kortex aus der Hintergrund-EEG-Aktivität herausgemittelt. Sie dienen zur Dokumentation von Funktionsstörungen im visuellen System bei Erkrankungen des N. opticus oder des ZNS.
Durchführung:
- Der Patient sitzt in einem Abstand von etwa 1 m vor einem Monitor mit einem wechselnden Schachbrettmuster.
- Die Ableitung erfolgt über dem okzipitalen Kortex mit der differenten Elektrode in Position Oz gegenüber der Referenzelektrode Fz (oder Fpz).
- Die Musterumkehr erfolgt mit einer Frequenz von 1-2 Hz.
VEP-Normwerte (Altersgruppe 20-60 Jahre):
| Potenzialkomponente | Latenz (ms) |
|---|---|
| Mittelwert ± SD | |
| P2 (=P100) | 97,3 ± 4,4 |
Akustisch Evozierte Potentiale (AEP)
Die akustisch evozierten Potentiale (AEP) werden von der Kopfhaut nach ein- oder beidseitiger Applikation von Klicklauten abgeleitet. Sie dienen zur Untersuchung der Funktion des Hörnervs und der nachgeschalteten Hörbahn des Hirnstamms.
Durchführung:
- Monaurale Klicklaute werden über Kopfhörer appliziert.
- Die Ableitung erfolgt von Cz gegen Mastoid ipsilateral.
- Die Wellen I-V werden in der klinischen Diagnostik zur Auswertung herangezogen.
Weitere Diagnostische Verfahren
- Ultraschalldiagnostik von Nerven (Nervensonographie): Kann Nervenverletzungen, Nerventumoren oder Einklemmungen von Nerven sichtbar machen.
- Untersuchung der neuromuskulären Übertragung: Dient zur Diagnose von Erkrankungen wie Myasthenia gravis.
- Elektroenzephalographie (EEG): Wird zur Untersuchung von Funktionsstörungen des Gehirns eingesetzt.
- Doppler- und Duplex-Sonographie: Dienen zur Darstellung von Verengungen oder Verschlüssen der Blutgefäße, die das Gehirn mit Blut versorgen.
- Lumbalpunktion: Ermöglicht die Untersuchung des Nervenwassers auf entzündliche Erkrankungen des Nervensystems.
Karpaltunnelsyndrom (KTS)
Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist ein Kompressionssyndrom des Nervus medianus im Bereich der Handwurzel.
Symptome
- Schmerzen oder Missempfindungen in Hand, Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, oft nachts
- Muskelschwund im Bereich des Daumenballens
- Schwäche beim Greifen
- Minderung des Tastgefühls
Diagnostik
- Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten (motorische Überleitungszeit des N. medianus)
- Ultraschalluntersuchung des Karpaltunnels
Therapie
- Konservativ: Schiene, schmerzstillende und entzündungshemmende Medikamente
- Operativ: Spaltung des Retinaculum flexorum
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