Die visuell evozierten Potentiale (VEP) sind ein wichtiges diagnostisches Werkzeug in der Neurologie und Augenheilkunde. Sie ermöglichen eine objektive Beurteilung der Funktion der Sehbahn vom Auge bis zur Sehrinde im Gehirn. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die VEP, einschließlich der Normwerte, des Untersuchungsablaufs und der Interpretation der Ergebnisse.
Einführung in die Visuell Evozierten Potentiale (VEP)
VEP, auch bekannt als VECP (visually evoked cortical potentials), sind elektrische Spannungsänderungen, die durch visuelle Stimulation der Netzhaut hervorgerufen werden. Diese Potentialunterschiede geringer elektrischer Ladungen können über dem Bereich der Sehrinde am Hinterkopf von der Haut abgeleitet werden. Die Messung der Latenzzeit (Laufzeit) und Amplitude (Ausmaß der Erregbarkeit) der Potentiale gibt Aufschluss über die Funktion der Sehbahn und deren Bestandteile, wie Sehnerv und Sehrinde.
Grundlagen der VEP-Messung
Die Sehbahn und ihre Neuronen
Bevor wir uns mit den Details der VEP-Messung befassen, ist es wichtig, die Grundlagen der Sehbahn zu verstehen:
- Fotorezeptoren: Das erste Neuron der Sehbahn sind die Fotorezeptoren (Zapfen und Stäbchen) in der Netzhaut. Sie wandeln Lichtinformationen in neuronale Signale um.
- Bipolarzellen: Das zweite Neuron ist die Bipolarzelle. Hier werden die Signale der Stäbchen und Zapfen weitergeleitet.
- Ganglienzellen: Das dritte Neuron sind die retinalen Ganglienzellen, deren Axone den Sehnerv bilden.
- Corpus geniculatum laterale: Die Axone der Ganglienzellen projizieren in das Corpus geniculatum laterale im Thalamus, wo die Verschaltung auf die vierte Nervenzelle der Sehbahn stattfindet.
- Sehrinde: Das vierte Neuron der Sehbahn endet in der okzipital gelegenen primären Sehrinde.
Elektrodenplatzierung und Arten von Elektroden
Für elektrophysiologische Ableitungen in der Augenheilkunde werden zwei Arten von Elektroden benötigt:
- Hautelektroden: Gold- oder Silberchloridelektroden, die mit einer leitfähigen Paste an der Haut befestigt werden.
- Korneale bzw. aktive Elektroden: Kontaktlinsenelektroden, Bindehautelektroden (z. B. DTL-Elektrode) oder Lidelektroden (bei Kindern).
Die Elektroden werden typischerweise am Hinterkopf angebracht, in der Nähe der primären Sehrinde.
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Visuelle Stimulation
Die visuelle Reizung erfolgt entweder mit Lichtimpulsen oder mit einem Schachbrettmuster, bei dem die Kontraste in kurzen Abständen umgekehrt werden. Beim Gesunden liegt die Latenzzeit für das primär cortikale Potential bei etwa 100 Millisekunden. Auf dem Monitor ist ein negativer Ausschlag zu erkennen.
Untersuchungsablauf
- Aufklärungsgespräch: Der Patient wird über den Ablauf, den Zweck und mögliche Unannehmlichkeiten der Untersuchung aufgeklärt.
- Medikamentöse Vorbereitung: In der Regel ist keine spezielle medikamentöse Vorbereitung notwendig.
- Sauberkeit der Kopfhaut: Die Kopfhaut muss sauber und frei von Ölen oder Haarprodukten sein.
- Platzierung der Elektroden: Die Elektroden werden am Hinterkopf platziert.
- Sitzkomfort und Entspannung: Der Patient sitzt während der Untersuchung entspannt und bequem.
- Visueller Reiz: Der Patient wird einem visuellen Reiz ausgesetzt (Schachbrettmuster oder Lichtblitze).
- Aufzeichnung der VEPs: Die VEPs werden über eine Elektrode aufgezeichnet.
- Mittelung: Die visuell evozierten Potentiale müssen mehrmals hundertfach gemittelt werden, um sie als Potenzialänderung erkennbar zu machen.
Normwerte und Interpretation der VEP
Komponenten des VEP
Ein typisches VEP weist ein Tal seiner Potentiale bei etwa 80 ms (N80) auf, eine Spitze bei 100 ms (sog. P100) und ein weiteres Minimum bei ca. 135 ms (N135). Gemessen werden die Latenz des P100 und die Amplitude, die man entweder als Differenz P100-N80 misst, oder als mittlere Differenz ((P100-N80) + (P100-N135))/2.
Die Latenz ist dabei ein Wert für die Zeit, die ein Lichtreiz von der Netzhaut des Auges als Spannungsimpuls bis zur Sehrinde im Hinterkopf benötigt. Sie liegt bei der Normpopulation im Bereich von 95-115 ms.
Faktoren, die die VEP beeinflussen
Die VEP sind in hohem Maße von technischen Parametern der Stimulation (Monitor, Spiegel, Blitzbrille, Abstand zum Auge) abhängig. Daher ist es obligat, dass für die jeweilige Konstellation spezielle Normwerte ermittelt werden. Ferner gibt es eine Abhängigkeit vom Lebensalter mit langsamer Zunahme der Latenz ab dem 55. Lebensjahr.
Pathologische Veränderungen
Bei Durchblutungsstörungen, degenerativen Prozessen und Entzündungen im Bereich der Sehbahn kann die Latenzzeit verzögert und/oder die Amplitude verringert sein.
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- Verlängerte Latenz: Eine leichte Latenz (Verzögerung) bei normaler Amplitude deutet auf eine Demyelinisierung hin. Bei einer Entzündung im Bereich der Sehbahn ist die Latenz deutlich erhöht (um 20 ms und mehr), die Amplitude wenig reduziert.
- Reduzierte Amplitude: Eine signifikante Minderung der größten Amplitude des N2/P2/N3-Komplexes auf <50 % der Gegenseite ist pathologisch.
VEP-Befunde bei verschiedenen Erkrankungen
- Multiple Sklerose: Bei einer Entzündung im Bereich der Sehbahn ist die Latenz deutlich erhöht (um 20 ms und mehr), die Amplitude wenig reduziert.
- Erkrankungen des Auges (Katarakt, Retinaerkrankungen, Glaukom): Meist Amplitudenreduktion, u. U. normales VEP, seltener Latenzzunahme der P2.
- Erkrankungen des N. opticus (Retrobulbärneuritis, Papillitis): Im akuten Stadium meist Potenzialverlust, selten (5 %) auch normales VEP, immer pathologisches VEP bei Amaurosis. Bei Remission verzögerte P2-Latenz bzw. pathologische interokuläre Latenzdifferenz, Besserung bis auf Normwerte möglich.
- Kompression von Chiasma opticum oder N. opticus: Amplitudenreduktion, weniger häufig P2-Latenzzunahme.
- Speichererkrankungen (metachromatische Leukodystrophie): P2-Latenzzunahme.
- Photosensitive Epilepsie: Amplitudenzunahme, jedoch ohne wesentliche diagnostische Relevanz.
- Hirninfarkt: Amplitudenabnahme, Potenzialdeformierung; bei Einsatz von Halbfeldstimulation auch VEP-Verlust.
Fallbeispiel: Patientin Julia
Die von Ihnen geschilderte Situation der Patientin Julia verdeutlicht die Bedeutung der korrekten Interpretation von VEP-Ergebnissen. Julias Fall zeigt, dass die Beurteilung von VEP-Werten immer im Kontext der individuellen Situation und unter Berücksichtigung möglicher Einflussfaktoren erfolgen muss.
Weitere Elektrophysiologische Untersuchungen in der Neurologie
Neben den VEP gibt es weitere elektrophysiologische Untersuchungen, die in der Neurologie eingesetzt werden, um die Funktion des Nervensystems zu beurteilen.
Elektroenzephalographie (EEG)
Das EEG wird zur Untersuchung von Funktionsstörungen des Gehirns eingesetzt. Dabei werden Oberflächenelektroden auf den Kopf aufgesetzt, die die hirneigene elektrische Aktivität aufnehmen. Das EEG kann bei Verdacht auf Epilepsie, Schlafstörungen oder andere neurologische Erkrankungen hilfreich sein.
Elektromyographie (EMG)
Bei dieser Untersuchung wird die elektrische Aktivität von Muskeln gemessen, indem eine dünne Nadel-Elektrode in einen Muskel injiziert wird. Das EMG dient dazu, Schädigungen am zuführenden Nerven oder Erkrankungen des Muskels selbst festzustellen.
Nervenleitgeschwindigkeitsmessung (NLG)
Bei dieser Untersuchung wird die Geschwindigkeit der Nervenleitung bestimmt. Durch elektrische Reizung von Nerven in den Armen oder Beinen wird im Nerven ein elektrisches Potential erzeugt, dessen Ausbreitung in der Zeit gemessen werden kann. Eine Verlangsamung der Nervenleitung deutet meist auf eine Schädigung der Hülle des Nerven (Myelinscheide) hin.
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Somatosensibel evozierte Potentiale (SEP)
SEP prüfen die Funktion des sensiblen Systems. Durch elektrische Reize eines peripheren Nervs wird eine Impulswelle erzeugt, deren Weg entlang peripherer und zentraler afferenter Bahnen bis nach kortikal verfolgt werden kann. SEP können bei der Diagnose von Rückenmarkserkrankungen, Multipler Sklerose und anderen neurologischen Erkrankungen hilfreich sein.
Akustisch evozierte Potentiale (AEP)
Die akustisch evozierten Potentiale werden von der Kopfhaut nach Applikation von Klicklauten abgeleitet. Sie dienen der Beurteilung der Funktion des Hörnervs und der nachgeschalteten Hörbahn des Hirnstamms.
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