Cora van der Kooij und ihre Bedeutung für die Demenzforschung und Pflege

Einführung

Dr. phil. Dipl.-Psychol. Cora van der Kooij war eine bedeutende niederländische Krankenschwester, Pflegewissenschaftlerin und Historikerin, deren Arbeit einen nachhaltigen Einfluss auf die Demenzforschung und -pflege in Deutschland und international hatte. Ihr Name ist eng mit der Entwicklung und Verbreitung des mäeutischen Pflegemodells verbunden, einem Ansatz, der die Individualität und das Erleben von Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt stellt. Sie verstarb am 08.08.2018 in ihrer Heimatstadt Utrecht.

Das mäeutische Pflegemodell: Ein Paradigmenwechsel in der Demenzpflege

Das von Cora van der Kooij entwickelte mäeutische Pflegemodell stellt einen Paradigmenwechsel in der Demenzpflege dar. Es rückt von traditionellen, oft defizitorientierten Ansätzen ab und betont stattdessen die Bedeutung des Verstehens und der Wertschätzung der Erlebenswelt von Menschen mit Demenz. Der Begriff "Mäeutik" leitet sich vom altgriechischen Wort "Maieutik" (μαιευτική) ab, was "Hebammenkunst" bedeutet und auf die sokratische Dialogik verweist. Im übertragenen Sinne geht es darum, durch einen dialogischen Prozess unbewusste Kompetenzen ins Bewusstsein zu bringen und damit anwendbar zu machen. Cora van der Kooij bezeichnet Mäeutik als Hebammenkunst für Pflegeprofessionalität.

Grundlagen und Prinzipien

Das mäeutische Pflegemodell basiert auf folgenden zentralen Prinzipien:

  • Personenzentrierung: Der Mensch mit Demenz wird als Individuum mit einer einzigartigen Lebensgeschichte, Persönlichkeit und Bedürfnissen betrachtet. Die Pflege wird an diesen individuellen Bedürfnissen ausgerichtet.
  • Erlebnisorientierung: Im Mittelpunkt steht das Erleben des Menschen mit Demenz. Pflegekräfte versuchen, die Welt aus seiner Perspektive zu verstehen und darauf einzugehen.
  • Empathie: Pflegekräfte entwickeln ein tiefes Verständnis für die Gefühle und Emotionen des Menschen mit Demenz.
  • Kommunikation: Die Kommunikation erfolgt auf einer wertschätzenden und respektvollen Ebene. Nonverbale Kommunikation spielt eine besonders wichtige Rolle.
  • Partizipation: Menschen mit Demenz werden, soweit wie möglich, in Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, einbezogen.

Die Erlebenswelten nach Cora van der Kooij

Cora van der Kooij unterscheidet zwischen verschiedenen Erlebenswelten, in denen sich Menschen mit Demenz zeitweise befinden können:

  • Bedrohte Welt: Menschen in dieser Welt fühlen sich ängstlich und unsicher. Sie benötigen Schutz und Sicherheit.
  • Verirrte Welt: Menschen in dieser Welt sind desorientiert und verwirrt. Sie benötigen Orientierung und Struktur.
  • Verborgene Welt: Menschen in dieser Welt ziehen sich zurück und kapseln sich ab. Sie benötigen Anregung und Aktivierung.
  • Versunkene Welt: Menschen in dieser Welt leben in ihrer eigenen Realität und sind kaum ansprechbar. Sie benötigen Akzeptanz und Wertschätzung.

Die mäeutische Bewohnerbesprechung

Ein zentrales Element des mäeutischen Pflegemodells ist die mäeutische Bewohnerbesprechung. Dabei machen sich die Pflegenden strukturiert Gedanken über den Bewohner. Wie erlebt der Bewohner sein Umfeld, seine Mitbewohner, seine Angehörigen? Wie verhält er sich? Ist der Bewohner dement? Welche psychosozialen Bedürfnisse hat er? Woran erkenne ich das? Jeder Teilnehmer berichtet über einen positiven Kontaktmoment, bei dem er den Bewohner auf eine schöne Art und Weise erreicht hat, in einem Moment, in dem der Bewohner, aber auch der Pflegende sich über den Kontakt gefreut haben. Aus allen gesammelten Informationen werden dann ‚Umgangsempfehlungen‘ entwickelt. Diese dienen dazu, dass der Bewohner sich gekannt und bestätigt fühlt. Sofern möglich ist es von großem Vorteil, wenn Angehörige an der Besprechung teilnehmen. Ein gut geführtes Gespräch kann viele Türen öffnen, so dass man mit- und nicht übereinander spricht.

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Die Bedeutung der Mäeutik für die Pflege von Menschen mit Demenz

Das mäeutische Pflegemodell bietet zahlreiche Vorteile für die Pflege von Menschen mit Demenz:

  • Verbesserung der Lebensqualität: Durch die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Erlebenswelten der Menschen mit Demenz kann ihre Lebensqualität deutlich verbessert werden.
  • Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten: Durch das Verstehen der Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten können diese reduziert oder vermieden werden.
  • Stärkung der Beziehung zwischen Pflegekraft und Bewohner: Durch die wertschätzende und respektvolle Kommunikation wird die Beziehung zwischen Pflegekraft und Bewohner gestärkt.
  • Förderung der Selbstbestimmung: Menschen mit Demenz werden, soweit wie möglich, in Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, einbezogen.
  • Erhöhung der Arbeitszufriedenheit der Pflegekräfte: Durch die Anwendung des mäeutischen Pflegemodells können Pflegekräfte ihre Arbeit als sinnvoller und erfüllender erleben.

Implementierung des mäeutischen Pflegemodells

Die Implementierung des mäeutischen Pflegemodells erfordert eine umfassende Schulung der Pflegekräfte. Sie müssen lernen, die Prinzipien des Modells zu verstehen und in ihrer täglichen Arbeit anzuwenden. Cora van der Kooij hat selbst Trainerkurse geleitet, um die Verbreitung des Modells zu fördern. Die Seniorenhaus GmbH der Cellitinnen zur hl. Maria arbeitet seit 2003 nach dem mäeutischen Pflegemodell, zunächst in einem Modellprojekt in zwei Kölner Seniorenhäusern und nach einer Implementierungsphase in allen Senioreneinrichtungen. Es geht in erster Linie eine ‚Haltung‘ bei allen Mitarbeitern zu entwickeln, die geprägt ist von Sensibilität und Empathie gegenüber alternden Menschen und Demenzbetroffenen im Besondern.

Van der Kooijs Beitrag zur Wundversorgung bei Demenz

Auch in der Wundversorgung von Menschen mit Demenz kann das mäeutische Konzept hilfreich sein. Wolfgang Schanz, Pflegeberater am Marienhaus St. Johann in Freiburg, erklärte auf dem Freiburger Wundsymposium, dass die Wundversorgung bei Menschen mit Demenz erfordert, dass sich die Behandelnden in hohem Maß auf die Erlebenswelt der Betroffenen einstellen. Die wichtigste Grundvoraussetzung sei dabei eine angemessene Kontaktaufnahme vor jeder Intervention, etwa einem Verbandswechsel, besonders aber vor der ersten Versorgung. Die betroffene Person soll ausreichend Zeit haben, zu erkennen, wer vor ihr steht, und sich auf das vorzubereiten, was ihr im nächsten Moment geschieht. Wer das nicht beachtet, riskiert, dass sie in Panik gerät und oppositionell bis aggressiv reagiert.

Cora van der Kooijs Vermächtnis

Cora van der Kooij hat mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Demenz geleistet. Ihr mäeutisches Pflegemodell hat die Demenzpflege nachhaltig verändert und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Sie war eine begeisterte Autorin, die ihre Ideen in ihren Büchern lebendig werden lies. Sie fügte immer viele Beispiele an, so dass ihre Konzepte von den Praktikern gerne gelesen wurden und weiterhin gelesen werden. Die Akademie für Mäeutik e.V. mit Sitz in Köln wurde gegründet, die nun die Arbeit von Cora in Deutschland fortsetzt und in ihrem Sinne weiterentwickelt.

Kritische Auseinandersetzung und Weiterentwicklung

Obwohl das mäeutische Pflegemodell viele Vorteile bietet, ist es wichtig, sich auch kritisch damit auseinanderzusetzen. Einige Kritikpunkte sind:

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  • Hoher Personalaufwand: Die Umsetzung des Modells erfordert einen hohen Personalaufwand, da die Pflegekräfte viel Zeit für die individuelle Betreuung und Kommunikation mit den Bewohnern aufwenden müssen.
  • Hohe Anforderungen an die Qualifikation der Pflegekräfte: Die Pflegekräfte müssen über ein hohes Maß an Empathie, Kommunikationsfähigkeit und Fachwissen verfügen.
  • Mangelnde Evidenz: Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit des Modells ist noch begrenzt.

Trotz dieser Kritikpunkte bleibt das mäeutische Pflegemodell ein wertvoller Ansatz für die Demenzpflege. Es ist wichtig, das Modell kontinuierlich weiterzuentwickeln und an die sich ändernden Bedürfnisse der Menschen mit Demenz anzupassen.

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