Covid nervt nicht nur, es geht auch tatsächlich auf die Nerven. Denn SARS-CoV-2 kann auch neurologische Erkrankungen auslösen. Die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Infektion auf das Nervensystem sind mannigfaltig und betreffen nicht nur die Akutphase. Viele Betroffene leiden unter Langzeitfolgen - auch solche mit nur milden COVID-19-Verläufen. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie kamen Infizierte mit Symptomen in die München Klinik, die nichts mit der Atmung zu tun hatten. Schnell wurde klar, dass das Virus mehrere Organe und vor allem das Nervensystem in Mitleidenschaft ziehen kann.
Neuro-Covid: Ein Angriff aufs Gehirn
Viele Covid-19-Patientinnen entwickeln neurologische Beschwerden, die unter dem Begriff "Neuro-Covid" zusammengefasst werden. Anhaltende Erschöpfung, Schmerzen, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme und Schlafstörungen - nicht nur viele Intensivpatientinnen, sondern auch leicht Erkrankte leiden während und noch Monate nach einer Covid-19-Erkrankung unter Neuro-Covid. In extremen Fällen kommt es sogar zu demenzähnlichen Symptomen oder Psychosen.
Professor Dr. Helge Topka, Chefarzt der Neurologie in der München Klinik Bogenhausen, betont, wie wichtig es ist, neurologische Komplikationen frühzeitig zu erkennen und dann gezielt zu behandeln. "Wir haben in den letzten 15 Jahren große Fortschritte in der Schlaganfallversorgung gemacht und die Schlaganfallsterblichkeit in Deutschland halbiert."
Häufigkeit neurologischer Manifestationen
Anosmie und Ageusie sind bei COVID-19 pathognomonisch und treten häufig auf, auch als Erstsymptome. Die Anosmie entsteht zum Teil direkt durch virale Invasion in den Bulbus olfactorius, aber auch indirekt durch lokale Entzündung, mikrovaskuläre Schäden und Hypoperfusion. Die Anosmie normalisiert sich meistens schnell wieder und geht (wie auch Kopfschmerz) mit einer günstigeren Prognose einher. In einer Studie mit mehr als 1 000 Patienten kam es bei Riechstörungen signifikant seltener zur Hospitalisierung (OR 0,69) oder Intensivtherapie (OR 0,38). In 20 % der Fälle persistierte die Anosmie länger als 5 Monate. Bei diesen Patienten ließen sich MR-tomografisch Veränderungen des Bulbus olfactorius nachweisen. Daten zur Therapie mit Kortikoid-Nasenspray sind widersprüchlich.
Schwere neurologische Komplikationen sind bei jüngeren ambulanten Patienten selten (ca. 1 %). In einer Studie aus Singapur waren nur 90 von 47 572 Patienten von neurologischen Manifestationen betroffen (> 98 % Männer). Am häufigsten waren dabei zerebrovaskuläre Komplikationen (n = 25; darunter 19 zerebrale Ischämien), Erkrankungen des peripheren Nervensystems (n = 7; z. B. Guillain-Barré-Syndrom, Fazialisparesen), Enzephalitis und Enzephalomyelitis (n = 4), sowie autonome Störungen (n = 4; Hyperhidrose, Orthostase, Pupillotonie).
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Bei stationär behandelten Patienten sind neurologische Manifestationen häufiger und zeigen eine schlechtere Prognose an. Vorrangig sind dies Enzephalopathien, Enzephalomyelitiden und zerebrovaskuläre Komplikationen. In einer prospektiven Studie aus New York mit fast 5 000 stationären COVID-19-Patienten hatten 13,5 % schwere neurologische Komplikationen, die Mortalität war dabei um 38 % erhöht (HR 1,38).
Eine prospektive Untersuchung von 102 Patienten der Universitätsklinik Essen zeigte bei 23,5 % schwere neurologische Symptome mit erhöhter Mortalität. Auffällig war, dass über 80 % dieser schwer Erkrankten neurologische Vorerkrankungen hatten.
Eine Studiengruppe aus UK erstellte im Rahmen wöchentlicher multidisziplinärer COVID-19-Konferenzen bei hospitalisierten Patienten 4 neurologische Diagnosegruppen. Dies waren Enzephalopathien, inflammatorische ZNS-Syndrome, ischämische Schlaganfälle und peripher-neurologische Störungen.
Dass auch bei Kindern und Jugendlichen schwere neurologische Manifestationen vorkommen, belegt eine Studie aus den USA mit 1 695 Patienten unter 21 Jahren. 22 % hatten eine neurologische Beteiligung (88 % transiente Symptome, 12 % lebensgefährliche mit schlechtem Outcome: am häufigsten schwere Enzephalopathien und Schlaganfälle). Auch hier traten neurologische Manifestationen häufiger bei neurologischer Vorerkrankung (neuromuskulär, Epilepsie, Autismus, Entwicklungsstörungen) auf.
Neurologische Komplikationen und Risikogruppen
Etwa 80% der Patient*innen, die mit einer Coronaviruserkrankung im Krankenhaus behandelt werden, haben neurologische Beschwerden. Einige Menschen leiden in den Monaten nach einer Covid-Erkrankung selbst bei leichtem Verlauf noch unter neurologischen Problemen. Menschen, die schon einmal einen Schlaganfall hatten, gehören zur Hochrisikogruppe für einen schweren Covid-19-Verlauf.
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Das Coronavirus Sars-CoV-2 kann auch das Nervensystem befallen. Riechstörungen, Erschöpfung und kognitiven Defiziten können die Folge sein. Covid-19 erhöht das Schlaganfallrisiko. Schwere neurologische Komplikationen wie Schlaganfälle und Hirnblutungen haben ihre Ursache in der Blutgerinnung. Störungen der Gerinnung sind bei Covid-19-Pneumonie eher die Regel als die Ausnahme und bilden eine eigene Entität der Covid-19-Erkrankung. Es bilden sich in der Folge Gerinnsel, die ischämische Schlaganfälle oder Embolien auslösen können. Gefäßverschlüsse gehören zu den häufigen Komplikationen von Covid-19. Die vorbeugende Behandlung der Gerinnungsstörung durch Medikamente ist deshalb eine wichtige Therapiesäule.
Erhöhte Schlaganfallsterblichkeit auch ohne Infektion
In der Pandemie haben Menschen das Krankenhaus gemieden - mit fatalen Folgen. Betroffen vom Schlaganfallrisiko sind aber auch Patient*innen, die das Virus nicht haben. Im Laufe der Pandemie kamen deutlich weniger Menschen vor allem mit leichteren Schlaganfallsymptomen in die Kliniken. Eine beunruhigende Entwicklung, die Menschenleben kostet. „Aus Angst vor Ansteckung erreichten Betroffene zu spät oder gar nicht die Notaufnahmen. Deshalb nahm die Schlaganfallsterblichkeit zu.“ Prof. Dr. Helge Topka.
Long-COVID-Syndrom (LCS) und Post-COVID-19-Syndrom (PCS)
Das Long-COVID(„coronavirus disease“)-Syndrom (LCS) umfasst vielfältige Symptome, die sämtliche Organsysteme betreffen können. Etwa 10-40 % der an COVID-19 Erkrankten berichten, an residuellen oder neu aufgetretenen Beschwerden zu leiden. Die häufig fehlende Kontrollgruppe in den bislang hierzu publizierten Daten birgt das Risiko der Überschätzung des LCS.
Die Terminologie zur Bezeichnung und zeitlichen Abgrenzung des LCS ist im allgemeinen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch mitunter uneinheitlich. Nach den britischen, mittlerweile international verwendeten NICE (National Institute for Health and Care Excellence)-Guidelines umfasst das LCS Symptome, die 4 Wochen nach der Akutinfektion fortbestehen. Das Post-COVID-19-Syndrom (PCS) beschreibt Beschwerden, die auch noch 12 Wochen nach der Akutinfektion vorhanden sind. Mit Postakutphase ist der Zeitraum bis 4 Wochen nach der Akutinfektion gemeint.
Die häufigsten neurologischen Manifestationen des LCS und PCS sind Fatigue und neurokognitive Störungen, die in weiteren Artikeln dieser Ausgabe von Der Nervenarzt diskutiert werden. Syndrome des ZNS umfassen Enzephalopathien, entzündliche Erkrankungen wie Enzephalitis und Myelitis, zerebrovaskuläre Erkrankungen und andere, bislang unvollständig verstandene Syndrome.
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Enzephalopathie
Als Enzephalopathie wird eine diffuse Funktionsstörung des Gehirns mit qualitativer und quantitativer Bewusstseinsstörung, aber auch fokalneurologischen Defiziten und/oder epileptischen Anfällen beschrieben. Sie ist als neuropsychiatrische Komplikation der akuten COVID-19-Erkrankung mittlerweile bekannt. Parainfektiöse Enzephalopathien traten im Mittel 13 Tage nach Beginn der Akutsymptomatik auf. Dennoch gibt es auch einige Berichte über persistierende oder verspätet auftretende Enzephalopathien im Rahmen einer leichten COVID-19-Erkrankung.
Enzephalitis
Im Unterschied zur Enzephalopathie findet sich bei der Enzephalitis ein entzündlich veränderter Liquor. Ätiologisch unterscheidet man direkt erregerbedingte und autoimmunvermittelte Enzephalitiden. Bei letzteren gibt es sowohl paraneoplastische als auch parainfektiöse, kreuzreaktive Autoantikörper (Auto-Ak), wobei hier die NMDAR(N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor)-Enzephalitis nach HSV(Herpes-simplex-Viren)-Infektion das bekannteste Beispiel ist. Auch hier liegen bereits multiple Fallberichte vor, die über eine Enzephalitis oder Enzephalomyelitis als mögliche Komplikation der akuten SARS-CoV-2(„severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“)-Infektion berichten. Da bei den parainfektiösen Enzephalitiden eine para- bzw. postinfektiöse Autoimmunreaktion angenommen wird, ist es nicht verwunderlich, dass diese auch in der Postakutphase von COVID-19 auftreten.
Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) und akute nekrotisierende hämorrhagische Leukoenzephalitis (ANHLE)
Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) und die Variante akute nekrotisierende hämorrhagische Leukoenzephalitis (ANHLE) wurden seit Beginn der Pandemie im Zusammenhang mit COVID-19 beschrieben. ADEM ist eine demyelinisierende, autoimmun vermittelte Erkrankung, die meist parainfektiös und in seltenen Fällen postvakzinal auftritt. Es gibt mehrere Fallberichte über das Auftreten von ADEM und ANHLE in der Postakutphase von COVID-19-Erkrankungen, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern.
Zerebrovaskuläre Ereignisse
Metaanalysen zeigen einen Zusammenhang der akuten COVID-19-Erkrankung mit dem Auftreten zerebrovaskulärer Ereignisse, insbesondere ischämischer Schlaganfälle v. a. bei kritisch kranken Patient:innen und solchen mit vaskulären Risikofaktoren. Als Pathomechanismus scheint hier maßgeblich ein Zusammenspiel aus einem hyperinflammatorischem und hyperkoagulativem Zustand, getriggert durch die Virusinfektion, vorzuliegen.
Intrazerebrale Blutungen treten sowohl als Komplikation intensivstationärer Therapieeskalation auf. Gleiches gilt für das Auftreten zerebrovaskulärer Ereignisse mit längerem Abstand zur COVID-19-Erkrankung: In einer großen Kohortenanalyse konnte gezeigt werden, dass bis zu einem Jahr nach einer COVID-19-Erkrankung ein substanziell erhöhtes Risiko für Schlaganfälle und transitorische ischämische Attacken (TIA) besteht - unabhängig von Alter und kardiovaskulären Risikofaktoren der Patient:innen.
Opsoklonus-Myoklonus-Ataxie-Syndrom (OMAS)
Das Opsoklonus-Myoklonus-Ataxie-Syndrom (OMAS) ist eine bislang unvollständig verstandene Erkrankung, welche sich durch das plötzliche Auftreten der namensgebenden Symptome auszeichnet, wobei nicht alle drei Symptome gleichzeitig vorliegen müssen. Es wird bei Erwachsenen meist durch paraneoplastische antineuronale Ak ausgelöst oder durch onkoneuronale Ak angezeigt. Im Zusammenhang mit COVID-19 gibt es mehrere Fallberichte über das Auftreten eines OMAS in der Postakutphase - die meisten Patient:innen entwickelten die Symptome etwa 2 Wochen (10 Tage bis 6 Wochen) nach der Akutinfektion.
Posteriores reversibles Enzephalopathiesyndrom (PRES)
Das posteriore reversible Enzephalopathiesyndrom (PRES) ist ein pathophysiologisch noch unvollständig verstandenes klinisch-radiologisches Syndrom, das durch hypertensive Krisen oder zytotoxische Substanzen wie Zytostatika ausgelöst werden kann. Es gibt Fallberichte, in denen ein PRES nach bereits überstandener schwerer COVID-19-Erkrankung auftrat. Die Symptomatik entwickelte sich auch hier jeweils in der Postakutphase (3 bis 5 Wochen nach Beginn der Akuterkrankung).
Pathomechanismen des LCS und PCS
Verschiedene Pathomechanismen bzw. ihr Zusammenspiel werden als Ursache des LCS und PCS diskutiert. Hierzu zählen insbesondere para- und postinfektiöse Autoimmunmechanismen, hyperinflammatorische Prozesse, Koagulopathien und zerebrale Mikrozirkulationsstörungen. Eine direkte ZNS-Schädigung durch das Virus selbst wird mittlerweile für nachrangig gehalten. Dafür spricht auch, dass nur in seltenen Fällen bei schwer und akut an COVID-19 erkrankten Patient:innen mit neurologischen Manifestationen SARS-CoV‑2 mittels PCR („polymerase chain reaction“) im Liquor festgestellt werden konnte. In neuropathologischen Untersuchungen zeigen sich inflammatorische Veränderungen des Hirnstamms, aber auch im Bulbus olfactorius und entlang des Riechtraktes. Dies wird als mögliche Eintrittspforte in das ZNS diskutiert.
Das Phänomen der para- oder postinfektiösen virusgetriggerten Auto-Ak-Bildung ist von anderen Viruserkrankungen wie der HSV-Enzephalitis bekannt. Die Kreuzreaktivität antiviraler Ak mit körpereigenen Oberflächenstrukturen ist auch für andere neurologische Erkrankungen wie das Guillain-Barré-Syndrom bereits beschrieben. Dass Autoreaktivität bei COVID-19 eine wichtige Rolle spielt, konnte bereits mehrfach gezeigt werden. Der häufig fehlende Nachweis bekannter, oft syndromspezifischer antineuronaler Ak in Liquor oder Serum macht diesen Mechanismus nicht unwahrscheinlicher, da etliche antineuronale Ak eine Rolle spielen dürften und noch nicht bekannt sind.
Erhöhte Serumspiegel proinflammatorischer Zytokine sind mit einem schlechteren Outcome der akuten COVID-19-Erkrankung assoziiert, weshalb postuliert wurde, dass (neurologische) Komplikationen und schwere Verläufe durch hyperinflammatorische Prozesse wie den sog. Zytokinsturm bedingt sein könnten. Zytokine, v. a. Interleukin‑6, erhöhen die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke, wodurch es zur Aktivierung von Mikroglia und daraus folgenden weiteren Schädigungen des ZNS kommt.
Das vermehrte Auftreten zerebrovaskulärer Ereignisse in der Postakutphase von COVID-19 lässt Gerinnungsstörungen als pathophysiologischen Mechanismus vermuten. Hierfür spricht, dass sich während der Akutinfektion häufig erhöhte D‑Dimer-Werte finden. Zudem wurden Cardiolipin-Ak (Lupus-Antikoagulans), die in der Akutinfektion als Marker für die Schwere der Erkrankung gelten, teilweise auch bei PCS-Patient:innen festgestellt. Auch eine zytokinvermittelte zerebrale Hypoperfusion ist für bestimmte ZNS-Manifestationen des LCS/PCS denkbar.
Die ZNS-Manifestationen des LCS und PCS sind vielfältig. Insbesondere während der Postakutphase sind entzündliche, autoimmune, demyelinisierende und vaskuläre Syndrome beschrieben, die den ZNS-Manifestationen der Akutinfektion ähnlich sind. Ein kausaler Zusammenhang der ZNS-Symptome mit der SARS-CoV-2-Infektion ist auch in der Akutphase nicht immer eindeutig. Dies gilt gleichermaßen bzw. noch mehr für das Auftreten von Symptomen in der Postakutphase und im weiteren zeitlichen Verlauf. Unserer Erfahrung nach sind prämorbider Status und Verlauf der Akutinfektion nur bedingt hilfreich im Hinblick darauf, ob und welche Beschwerden residuell nach COVID-19 bestehen. Beschrieben ist das gehäufte Auftreten von Kopfschmerzen und Fatigue bei Patient:innen, die auch schon während der Akutinfektion unter Kopfschmerzen litten.
Spezifische Biomarker für LCS/PCS existieren bislang nicht. Umso wichtiger ist die Einleitung einer umfassenden (Differenzial‑)Diagnostik entsprechend den aktuellen DGN-Leitlinien, um potenziell anders zu behandelnde Ursachen auszuschließen bzw. adäquat zu behandeln. Insbesondere bei Patient:innen mit intensivpflichtigem COVID-19-Akutverlauf und anhaltenden neurologischen Beschwerden ist eine ursächliche Zuordnung der neurologischen Manifestationen besonders herausfordernd.
Es existieren derzeit keine kausalen oder etablierten Therapien zur Behandlung des LCS/PCS. Erste Befunde zu Inflammation und Autoimmunität sind vielversprechend und könnten zu neuen Therapieansätzen führen.
Neurologische Symptome nicht Folge einer SARS-CoV-2-Infektion des Gehirns
Liegt es daran, dass SARS-CoV-2 das Gehirn infiziert? Oder sind die Beschwerden eine Folge der Entzündung im Rest des Körpers? Eine Studie der Charité - Universitätsmedizin Berlin liefert jetzt Belege für letztere Theorie. Kopfschmerzen, Gedächtnisprobleme oder Fatigue, also eine krankhafte Erschöpfung, sind nur einige der neurologischen Beeinträchtigungen, die während einer Corona-Infektion auftreten und auch darüber hinaus andauern können. Forschende vermuteten schon früh in der Pandemie, dass eine direkte Infektion des Gehirns die Ursache dafür sein könnte.
„Auch wir sind von dieser These zunächst ausgegangen. Einen eindeutigen Beleg dafür, dass das Coronavirus im Gehirn überdauern oder sich gar vermehren kann, gibt es allerdings bislang nicht“, erklärt Dr. Helena Radbruch, Leiterin der Arbeitsgruppe Chronische Neuroinflammation am Institut für Neuropathologie der Charité. „Dazu wäre zum Beispiel ein Nachweis intakter Viruspartikel im Gehirn nötig.“ Einer zweiten These zufolge wären die neurologischen Symptome stattdessen eine Art Nebenwirkung der starken Immunreaktion, mit der der Körper sich gegen das Virus wehrt. Vergangene Studien hatten auch hierfür Anhaltspunkte geliefert.
Für die Studie analysierte das Forschungsteam verschiedene Bereiche des Gehirns von 21 Menschen, die aufgrund einer schweren Corona-Infektion im Krankenhaus, zumeist auf der Intensivstation, verstorben waren. Zum Vergleich zog es 9 Patient:innen heran, die nach intensivmedizinischer Behandlung anderen Erkrankungen erlegen waren. Die Forschenden prüften zunächst, ob das Gewebe sichtbare Veränderungen aufwies, und fahndeten nach Hinweisen auf das Coronavirus.
Wie andere Forschungsteams auch konnten die Charité-Wissenschaftler:innen in einigen Fällen das Erbgut des Coronavirus im Gehirn nachweisen. „SARS-CoV-2-infizierte Nervenzellen haben wir jedoch nicht gefunden“, betont Helena Radbruch. „Wir gehen davon aus, dass Immunzellen das Virus im Körper aufgenommen haben und dann ins Gehirn gewandert sind. Sie tragen noch immer Virus in sich, es infiziert aber keine Gehirnzellen.“
Dennoch beobachteten die Forschenden, dass bei den COVID-19-Betroffenen die molekularen Vorgänge in manchen Zellen des Gehirns auffällig verändert waren: Die Zellen fuhren beispielsweise den sogenannten Interferon-Signalweg hoch, der typischerweise im Zuge einer viralen Infektion aktiviert wird. „Einige Nervenzellen reagieren offenbar auf die Entzündung im Rest des Körpers“, sagt Prof. Christian Conrad, Leiter der Arbeitsgruppe Intelligent Imaging am Berlin Institute of Health in der Charité (BIH). Zusammen mit Helena Radbruch hat er die Studie geleitet. „Diese molekulare Reaktion könnte die neurologischen Beschwerden von COVID-19-Betroffenen gut erklären. Zum Beispiel können Botenstoffe, die diese Zellen im Hirnstamm ausschütten, Fatigue verursachen.“
Die reaktiven Nervenzellen fanden sich hauptsächlich in den sogenannten Kernen des Vagusnervs, also Nervenzellen, die im Hirnstamm sitzen und deren Fortsätze bis in Organe wie Lunge, Darm und Herz reichen. „Vereinfacht interpretieren wir unsere Daten so, dass der Vagusnerv die Entzündungsreaktion in unterschiedlichen Organen des Körpers ‚spürt‘ und darauf im Hirnstamm reagiert - ganz ohne eine echte Infektion von Hirngewebe“, resümiert Helena Radbruch.
Die Nervenzellen reagieren dabei nur vorübergehend auf die Entzündung, wie ein Vergleich von Menschen zeigte, die entweder während der akuten Corona-Infektion oder erst mindestens zwei Wochen danach verstorben waren. „Wir halten es für möglich, dass eine Chronifizierung der Entzündung bei manchen Menschen für die oft beobachteten neurologischen Symptome bei Long COVID verantwortlich sein könnte“, sagt Christian Conrad. Um dieser Vermutung weiter nachzugehen, plant das Forschungsteam nun, die molekularen Signaturen im Hirnwasser von Long-COVID-Patient:innen genauer zu untersuchen.
Einzelzell-Transkriptomik Analyse von Neuro-COVID
Patienten, die an COVID-19 erkranken, können Begleit- und Folgeerscheinungen entwickeln, die das Nervensystem betreffen. Am bekanntesten ist der Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns, aber auch schwere Komplikationen, wie Schlaganfälle, Krampfanfälle oder Hirnhautentzündung, sind möglich. Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Medizinischen Fakultäten der Universitäten Münster und Duisburg-Essen hat dies als Neuro-COVID bezeichnete Phänomen nun genauer analysiert. Die im hochrangigen Fachjournal Immunity veröffentlichte Studie zeigt eine deutlich geschwächte Immun- und Interferonantwort bei den COVID-19-Patienten.
Die standortübergreifende Arbeitsgruppe machte sich die moderne Methode der Einzelzell-Transkriptomik zunutze. Mit ihr wird die Expression tausender Gene auf Einzelzellebene gleichzeitig untersucht. „So konnten wir die Immunantwort von Neuro-COVID im Nervenwasser in unmittelbarer Nähe zum Gehirn im Detail charakterisieren“, erläutert Privatdozent Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Oberarzt in der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster und Letztautor der neuen Studie. „Wir haben in einer Gruppe von 102 COVID-19-Patienten diejenigen identifiziert, die neurologische Symptome entwickelten und die aus diagnostischer Sicht eine Nervenwasserentnahme benötigten“, so Privatdozent Dr. Dr. Mark Stettner, Oberarzt der neurologischen Universitätsklinik in Essen, der zusammen mit Meyer zu Hörste die Studie leitete.
Gemeinsam konnten die Forscher feststellen, dass sich im Nervenwasser der Patienten vermehrt T-Zellen fanden, die erschöpft wirkten. Auch die Interferonantwort von Neuro-COVID-Patienten war im Vergleich zur viralen Gehirnentzündung abgeschwächt. Interferone sind der wichtigste frühe Abwehrmechanismus bei Viruserkrankungen. Zudem wies die Forschungsgruppe im Nervenwasser der Untersuchten vermehrt entdifferenzierte Vorläufer von Fresszellen nach. Diese Funde deuten auf eine eingeschränkte antivirale Immunantwort bei Neuro-COVID-Patienten hin. Ein detailliertes Verständnis des Phänomens Neuro-COVID ist die Grundlage, um die Krankheit schneller zu erkennen und gezielter zu behandeln.
Spike-Protein und langfristige Auswirkungen auf das Gehirn
Das sogenannte Spike-Protein des Corona-Virus SARS-CoV-2 verbleibt nach einer Infektion im Gehirn. Chronische Entzündungen des zentralen Nervensystems mit entsprechenden anhaltenden Symptomen im Rahmen von Long COVID können die Folge sein. Forschende von Helmholtz Munich und der Ludwig-Maximilians-Universität München konnten bisher nicht feststellbare Ablagerungen des Spike-Proteins in Gewebeproben von Menschen und Mäusen nachweisen. Dazu nutzten sie eine neuartige, KI-gestützte Bildgebungstechnik.
Die Forschenden konnten im Knochenmark des Schädels und in den Hirnhäuten statistisch eindeutig (signifikant) erhöhte Konzentrationen des Spike-Proteins nachweisen - sogar noch Jahre nach der Infektion. Die Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass diese Ansammlungen des Spike-Proteins zu den langfristigen Effekten von COVID-19 auf das Nervensystem und Long COVID beitragen können. Die Forschenden stellten außerdem fest, dass der mRNA-basierte Corona-Impfstoff von BioNTech/Pfizer die Anreicherung des Spike-Proteins im Gehirn deutlich reduzieren konnte.
Anhaltende Aktivierung des angeborenen Immunsystems im Gehirn von COVID-19-Genesenen
Freiburger Forscherinnen haben wichtige Fortschritte im Verständnis der immunologischen Veränderungen im Gehirn von COVID-19-Genesenen gemacht. Im Gehirn von Personen, die eine SARS-CoV-2-Infektion überstanden haben, fanden sie Anzeichen einer anhaltenden Aktivierung des angeborenen Immunsystems. Diese Erkenntnisse könnten entscheidend für die Entwicklung neuer Therapien für Patientinnen mit langfristigen neurologischen Symptomen nach COVID-19 sein.
Die Forscherinnen untersuchten die Gehirne von Personen, die an COVID-19 erkrankt, vollständig genesen und zu einem späteren Zeitpunkt an einer anderen Ursache verstorben waren. Bei diesen ermittelten sie immunologische Veränderungen im zentralen Nervensystem. Die Forscherinnen setzten dafür hochmoderne Methoden des maschinellen Lernens und eine räumliche Auflösung auf Einzelzell-Ebene ein. Im Vergleich zu ebenfalls untersuchten Personen ohne vorherige SARS-CoV-2-Infektion fanden die Forscher*innen in den Gehirnen von Genesenen zahlreiche sogenannte Mikrogliaknötchen. Diese charakteristischen Immun-Zellansammlungen weisen auf eine chronische Immunaktivierung hin, ähnlich einer Narbe, die nicht vollständig ausheilt. „Die Mikrogliaknötchen könnten eine zentrale Rolle bei den neurologischen Veränderungen spielen, die bei einigen Genesenen beobachtet werden“.
Es ist gut möglich, dass die anhaltende Aktivierung des angeborenen Immunsystems im Gehirn zu den langfristigen neurologischen Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion beiträgt.
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