Einleitung
Die moderne Neurowissenschaft hat unser Verständnis des Gehirns revolutioniert. Doch neben der Erforschung seiner Funktionen als Organ des Denkens und der Steuerung rückt zunehmend seine Rolle als Vermittler unserer Beziehungen zur Umwelt und zu anderen Menschen in den Fokus. Dieser Artikel beleuchtet die Forschung zu diesem Thema, insbesondere die Arbeit von Thomas Fuchs, der eine phänomenologisch-ökologische Konzeption des Gehirns als Beziehungsorgan entwickelt hat.
Das Gehirn: Mehr als nur eine Schaltzentrale
Die traditionelle Sichtweise der Neurowissenschaften reduziert das Gehirn oft auf ein Organ, das primär für kognitive Prozesse zuständig ist. Fuchs stellt dieser reduktionistischen Sichtweise einen Gegenentwurf entgegen. Er argumentiert, dass das Gehirn in erster Linie ein Organ des Lebewesens ist und seine Funktionen nicht isoliert von dessen Interaktionen mit der Umwelt und anderen Menschen betrachtet werden können.
Die methodologische Sackgasse des Reduktionismus
Fuchs kritisiert, dass der in den Naturwissenschaften übliche Ansatz der schrittweisen Elimination des Subjektiven in eine methodologische Sackgasse führt, wenn es um die Reduktion der Subjektivität selbst geht. Die Rede über Gehirne setzt nämlich bereits voraus, was angeblich von ihnen hervorgebracht werden soll: bewusste und sich miteinander verständigende Personen. Er sieht die Neurobiologie als eine spezialisierte Form menschlicher Praxis, die der Lebenswelt entstammt und keinen Standpunkt außerhalb von ihr einnehmen kann. Die alltäglich erlebte und vertraute Welt, in der wir gemeinsam leben, bleibt unsere primäre und eigentliche Wirklichkeit. Sie ist nicht das bloße Produkt einer anderen, nur wissenschaftlich erkennbaren Realität, kein Scheinbild oder Konstrukt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis.
Das Gehirn als Vermittler zwischen Organismus und Umwelt
Das Gehirn vermittelt unsere Beziehungen zur Welt, zu anderen Menschen und zu uns selbst. Es ist ein Mediator, der uns den Zugang zur Welt ermöglicht, ein Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Fuchs betont, dass das Gehirn an sich nur ein totes Organ wäre. Lebendig wird es erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen. Das Gehirn lässt sich nur als Organ eines Lebewesens in seiner Umwelt adäquat begreifen. Es ist sowohl in den Organismus selbst eingebunden als auch über dessen vielfältige, insbesondere sensomotorische Interaktionen, eingebettet in die natürliche und soziale Umwelt. Der Körper stellt immer das Bindeglied dieser Interaktionen dar, und diese fortwährende Vermittlung wird verfehlt, wenn man Gehirn und Umwelt einander gegenüberstellt und dann in einen direkten Bezug zueinander bringen will.
Die Bedeutung des Leibes für das Erleben
Alles bewusste Erleben ist nicht nur an den physiologischen Körper als seine biologische Basis gebunden, sondern auch an den subjektiven Leib. Selbst das vermeintlich „reine Denken“ vermag sich nicht vom leiblichen Bewusstsein abzulösen, denn wenn das Denken sich auch hinsichtlich seiner intentionalen Gehalte in allen Räumen und Zeiten frei bewegen kann, so stellt es als Vollzug doch eine Lebenstätigkeit dar, die an das leibliche Selbstempfinden und „Hiersein“ gebunden bleibt - an das „Befinden“. Der Leib ist das Ensemble aller Fähigkeiten und Vermögen, die uns zur Verfügung stehen. Leib ist der Mensch auch für die anderen, die ihn selbst in seinem Ausdruck, seiner Haltung und seinen Äußerungen unmittelbar „leibhaftig“ wahrnehmen - also nicht als eine Kombination von reinem Körper und verborgener Psyche, sondern als ein geeintes Ganzes. Fuchs sieht damit Subjektivität wesentlich verkörpert: Der Körper ist nicht bloßer Inhalt oder Objekt, sondern als Leib selbst konstitutives Moment des Subjekts. Wir sind in all unseren Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen leibliche und damit zugleich auch physische Wesen.
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Die Doppelnatur menschlicher Lebensvollzüge
In den menschlichen Lebensvollzügen und Lebensäußerungen zeigt sich diese Doppelnatur: Sie zeigen einerseits bestimmte Konfigurationen physiologischer (insbesondere auch neuronaler) Prozesse, andererseits auch Äußerungen, Erlebnisse und Tätigkeiten des gesamten Individuums als eines lebendigen Ganzen: Der Organismus muss zugleich ein Subjekt sein. Diese Auffassung des Lebendigen unter einem Doppelaspekt unterscheidet sich grundlegend vom geläufigen Dualismus von Körperlichem und Geistigem und den verschiedenen daraus folgenden Lösungsversuchen. Denn seelisch-geistige Lebensäußerungen werden nicht in eine eigene „mentale“ Sphäre verlegt, sondern bleiben immer auch physische Begebenheiten. Als solche stellen sie aber nun gerade nicht physikalisch beschreibbare Einzelprozesse in bestimmten Körperregionen dar, sondern Äußerungen und Erlebnisse des gesamten Lebewesens als eines einheitlichen physischen Organismus.
Das Lebewesen als primäre Einheit
Fuchs sieht das Lebewesen als die primäre Einheit, an der sich von einer Seite her integrale (leibliche, seelische, geistige) Lebensäußerungen, von der anderen Seite her physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit feststellen lassen. Diese Komplementarität der Aspekte lässt sich mit den zwei Seiten einer Münze vergleichen, von denen immer nur eine ohne die andere sichtbar wird, die also weder miteinander identisch sind noch einander überlappen, sondern die allenfalls aufeinander verweisen können. Als autopoietische Systeme setzen sich Lebewesen von ihrer Umgebung ebenso ab wie sie zu ihr in Wechselbeziehung stehen. Aufgrund ihrer inneren Struktur erzeugen Lebewesen selbst erst den Ausschnitt der Umgebung, der für sie als Umwelt bedeutsam und wirksam wird. An die Stelle linearer Kausalität tritt eine spezifische Verknüpfung von Reiz und Reaktion, von Wahrnehmung und Antwort. Lebewesen werden daher nicht von physikalischen Einwirkungen aus der Umgebung determiniert, sondern sie antworten auf wahrgenommene Reize aus ihrem Zentrum heraus, durch eine Reizkonfiguration ihres Gesamtsystems. Dabei kann das Gehirn als ein Vermittlungsorgan oder „Transformator“ sowohl im Funktionskreis von Organismus und Umwelt als auch im Funktionskreis von Ganzem oder Teilen innerhalb des Organismus aufgefasst werden. Beide Funktionskreise sind in den Vermögen von Lebewesen ineinander verschränkt.
Vermögen als Schlüssel zur Umwelt
Vermögen bedeutet dabei die strukturell gegebene Fähigkeit eines Lebewesens, bestimmte Leistungen zu vollziehen. Ein Vermögen wirkt für Fuchs wie ein Schlüssel zu passenden Schlössern in der Umwelt, denn es hat sich - phylo- oder ontogenetisch - in und an dieser Umwelt herausgeformt. Das Gehirn dient als zentrales Organ für diese Ausformung, insofern sich wiederholende Erfahrungen des Lebewesens im hochgradig plastischen neuronalen System niederschlagen. Tritt nun die geeignete Gelegenheit ein, so kann das Lebewesen sein Vermögen realisieren, wobei sich innerorganismische Teilprozesse (vertikal) ebenso wie Organismus und Umwelt (horizontal) zu einer kooperierenden Einheit zusammenschließen. Daher realisieren sich die entsprechenden Leistungen auch nicht starr und mechanisch, sondern immer flexibel angepasst an die Erfordernisse der konkreten Situation. Auch die Affekte sind als Kern unseres subjektiven Erlebens an die ständige Interaktion von Gehirn und Körper gebunden. Stimmungen und Gefühle sind biologisch betrachtet prototypische gesamtorganische Zustände, die nahezu alle Subsysteme des Körpers einbeziehen. Die Beziehung von Organismus und Objekt bedeutet nun nicht das Einwirken von einem System auf das andere, sondern eine Rekonfiguration des Gesamtsystems von Organismus und Umwelt, in der sich eine bereits vorbestehende komplementäre Beziehung neu aktualisiert. Der Leib ist, in den Worten des französischen Phänomenologen Merleau-Ponty, ein „System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen“, „ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen“, die sich mit der jeweiligen Situation zu einer funktionellen Einheit verknüpfen. Das Gehirn stellt durch seine Gedächtnisbildung ein zentrales Teilstück für diese Einheit zur Verfügung, freilich ohne dass sich die Funktion in ihm lokalisieren ließe.
Kritik am Repräsentationsbegriff
Fuchs kritisiert den von den Philosophen in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff der Repräsentation. Dieser beruht auf einer prinzipiellen Trennung von Organismus und Umwelt und damit auf einer Wahrnehmungstheorie, die uns nicht mit der Welt selbst in Verbindung bringt, sondern nur mit internen Abbildern oder Konstrukten. Doch Hirnzustände weisen als solche keine mentalen bzw. semantischen Gehalte aus; sie können die Welt nicht „beschreiben“, denn sie sind nur beteiligt an den Situationen, aus deren Kontext sich jene Gehalte ergeben. Der Hirnzustand für sich genommen ist nur ein Fragment des gesamten Funktionskreises, der bestimmten Umweltbestandteilen Bedeutungen zuweist bzw. die Leerstellen erzeugt, in die sie einrücken können.
Die soziale Dimension des Gehirns
Die Entwicklung des verkörperten menschlichen Geistes bedarf aber nicht nur der Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt, sondern vor allem der Interaktion mit anderen Menschen. Im Zuge dieser biographisch fortschreitenden Interaktionen wird das Gehirn zu einem sozialen, kulturellen und geschichtlichen Organ. Freilich handelt es dabei nicht um eine Vernetzung von „Gehirnen“, wie es Neurobiologen gerne formulieren, sondern um die Interaktion und gemeinsame Praxis von leiblichen Wesen, also um verkörperte Intersubjektivität.
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Drei Thesen gegen den neuronalen Reduktionismus
Fuchs formuliert drei Thesen, die dem neurowissenschaftlichen Projekt der „Naturalisierung des Geistes“ widersprechen:
- Die Welt ist nicht im Kopf.
- Das Subjekt ist nicht im Gehirn.
- Im Gehirn gibt es keine Gedanken.
Diese Aussagen wenden sich gegen die Vorstellung, dass alles, was wir erleben, und alles, was uns als Subjekte ausmacht, in den Strukturen und Funktionen des Gehirns besteht. Fuchs betont, dass Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln Lebensvollzüge sind, die sich nur von uns als Wesen aus Fleisch und Blut und nur im Zusammenhang mit unserer Lebenssituation aussagen lassen. Das Gehirn mag der zentrale Ort bewusstseinstragender Prozesse sein, aber Bewusstsein hat es nicht. Von einem denkenden, fühlenden oder wahrnehmenden Hirn zu sprechen, ist ein begrifflicher Unsinn. Menschliche Subjektivität ist verkörperte oder leibliche Subjektivität.
Der Körper als Grundlage der Subjektivität
Fuchs beruft sich auf René Descartes, der erkannte, dass wir unserem Körper nicht nur wie ein Schiffer seinem Fahrzeug gegenwärtig sind, sondern dass wir ganz eng mit ihm verbunden und gleichsam vermischt sind, so dass wir mit ihm eine Einheit bilden. Im Gegensatz dazu steht das Paradigma der kognitiven Neurowissenschaften, in dem Bewusstsein als eine subjektive Repräsentation der Außenwelt gilt, die im Gehirn konstruiert wird. Der Körper bleibt in dieser Sicht eine physiologische Trägermaschine für das Gehirn, in dem die unkörperliche Innenwelt des Bewusstseins entsteht. Dieser Ansatz vernachlässigt die Wechselbeziehungen und Kreisläufe, in denen das Gehirn steht. Die Hirnforschung geht von zwei konzeptuell und phänomenal voneinander verschiedenen Ebenen aus, nämlich von „Körper“ und „Geist“, also von physiologischen bzw. physikalischen und von mentalen Vorgängen. Die mentalen Vorgänge müssen dann je nachdem als mit den neuronalen Prozessen identisch, als zu ihnen epiphänomenal, supervenient, emergent oder aber als gänzlich eigenständig im dualistischen Sinne angesehen werden. Entscheidend ist: Das Lebewesen tritt in all diesen Theorien nicht als eigene Entität auf. Mentale Prozesse werden nicht als Funktionen eines lebendigen Organismus angesehen. Daher können mentale Prozesse und Gehirnprozesse nur direkt aufeinander bezogen bzw. miteinander „kurzgeschlossen“ werden. Ludwig Feuerbach erkannte, dass hier der Leib und das Leben fehlen. Weder die Seele denkt und empfindet, noch das Hirn denkt und empfindet; denn das Hirn ist eine physiologische Abstraktion, ein aus der Totalität herausgerissenes Organ. Das Hirn ist aber nur solange Denkorgan, als es mit einem menschlichen Kopf und Leibe verbunden ist.
Das Lebewesen als primäre Entität
Fuchs stellt dem Dualismus von Mentalem und Psychischem eine Konzeption gegenüber, in der das Lebewesen oder der lebendige Organismus die primäre Entität darstellt, an der sich einerseits bewusste (seelische, geistige) Lebensäußerungen, andererseits aber auch physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit feststellen lassen.
Kritik am neuronalen Determinismus
Die Vorstellung, dass das Gehirn unser Handeln determiniert, wird von Fuchs kritisiert. Er wendet sich gegen die Popularisierung eines strikten Materialismus, der das Gehirn als Akteur betrachtet, der denkt, fühlt und entscheidet. Er betont, dass diese Sprechweise nicht unserem Erleben entspricht. Wir erfahren uns selbst und unsere Mitmenschen nicht als Gehirne.
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Das Gehirn als Vermittler, nicht als Schöpfer
Fuchs beruft sich auf Henri Bergson, der das Gehirn als „eine Art Telephonzentrale“ sieht, als Vermittler zwischen Empfindungen und Bewegungen. Er kritisiert die Suche nach Gedächtnisspuren an einzelnen Punkten des Gehirns als sinnlos.
Die Plastizität des Gehirns
Fuchs betont die Plastizität des Gehirns, seine Fähigkeit, sich durch Erfahrungen zu verändern. Allerdings warnt er davor, diese Plastizität zu überbetonen. Das Gehirn ist keine „Tabula rasa“, die sich in alle Richtungen verformen lässt. Es ist der „erfahrungsabhängige Selektionsprozess“, der in dieser Darstellung das erwachsene Hirn formt. Erst die „Interaktion mit der Umwelt“ schafft die Bedingungen, „die zur Erfahrung dieser Umwelt erforderlich sind.“ Fuchs stimmt ein Hohelied auf die Plastizität des Gehirns an, ohne den rationalistischen Einwand eines Leibniz zu akzeptieren: „Nihil est in intellectu, quod no prius fuerit in sensu“ (nichts ist im Verstand als das, was zuvor in den Sinnen war), woraufhin Leibniz erwiderte: „nisi intellectus ipse“ (nichts als der Verstand selbst).
Das Gehirn und der Instinkt
Fuchs' Buch thematisiert nicht den Instinkt, was ein Manko darstellt, da die Insekten ganz und gar von Instinkten bestimmt sind. Und der Blick auf den Instinkt ist wichtig, wenn es um das Gedächtnis geht.
Die Bedeutung der Inkorporierung des Gedächtnisses
Fuchs zeigt an zahlreichen Beispielen, dass das Gedächtnis „inkorporiert“ ist, also nicht etwa von einzelnen Organen wie dem Gehirn, sondern vom ganzen Organismus getragen wird. Ein Pianist zum Beispiel hat ein „Fingergedächtnis“, und sein impliziertes Können liegt nach jahrelangem Üben besonders „in den Händen“, aber eben nicht nur dort.
Die Relevanz für die Bildungspolitik
Die Einsichten von Fuchs sind relevant für die Diskussion der Bildungspolitik. Lernen, soziale Interaktion und körperliche Bewegung sollten immer gekoppelt sein - und vor einem Bildschirm sind sie es ganz gewiss nicht.
Leib und Körper
Eine für Fuchs‘ Argumentation zentrale Einsicht ist die Erkenntnis Helmuth Plessners aus seinen „Stufen des Organischen“ (1929), dass wir einen Leib und einen Körper haben. Plessner spricht vom „Doppelaspekt“, der den Menschen auszeichne, und es gelingt ihm, in seinem Werk das Paradoxe des menschlichen Verhältnisses zu seiner Umwelt zu beschreiben.
Eine philosophische Anthropologie
Fuchs' Buch kann als eine gute Einführung in die philosophische Anthropologie genommen werden. Dabei ist seine Perspektive immer eine doppelte; einerseits, weil er im Sinne von Plessner und anderen den Doppelaspekt von Leib und Körper thematisiert - die Innenperspektive des Erlebens wird durch den objektiven Blick von außen ergänzt -, zusätzlich, weil er sowohl als Naturphilosoph wie auch als praktischer Arzt argumentiert.
Forschungsprojekte zum Gehirn als Beziehungsorgan
Mehrere Forschungsprojekte widmen sich der Erforschung des Gehirns als Beziehungsorgan. Ein interdisziplinäres Projekt der Universitäten Heidelberg, München und Berlin untersucht, wie das Gehirn durch die soziale Umwelt mitgeprägt wird. Das Gehirn wird also durch Beziehungen geformt, es ist aber auch ein Organ, das wesentlich unsere Beziehungen vermittelt, das unsere Interaktionen und unsere Beziehungen zur natürlichen und sozialen Umwelt trägt, sodass wir in der Welt leben und mit den Anderen, mit der Umwelt interagieren können. In diesem Sinne ist das Gehirn eben ein vermittelndes oder ein Beziehungsorgan.
Spiegelneurone und der soziale Kontext
Die Forschung zu Spiegelneuronen zeigt, wie stark das Gehirn auf soziale Beziehungen hin orientiert ist. Allerdings interpretieren manche Neurowissenschaftler sie so, als ob das soziale Geschehen durch die Spiegelneurone konstruiert werde. Fuchs argumentiert, dass der Kontext mit erfahren und gelernt werden muss, damit die jeweiligen Spiegelneurone spezifisch auf die Situation reagieren können.
Die Entwicklung des Gehirns als soziales Organ
Ein weiteres Forschungsprojekt untersucht die Entwicklung des Gehirns des Säuglings und Kleinkinds als soziales Organ. Sabina Pauen widmet sich der Unterscheidung zwischen unbelebten und belebten Objekten, die mit dem siebten Monat einsetzt und den Weg für ein soziales Verständnis der Welt ebnet. Bei Lebewesen hängt es davon ab, welche Erfahrungen ich mache: sind die zuverlässig oder sind sie es nicht? Mein Wissen über Lebewesen baue ich als eigenständigen Wissensbereich auf und es könnte sein, dass wenn die Kinder keine normalen Erfahrungen in dieser Hinsicht machen, sich auch ihr Wissen über Menschen, über Psychologie anders entwickelt und sie dann natürlich auch in sozialen Interaktionen mehr Verhaltensprobleme haben, wenn sie keine richtigen Ideen darüber entwickeln, wie Menschen sich verhalten.
Depressive Mütter und die Entwicklung des Kindes
Ein weiteres Projekt untersucht die Interaktionen zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern. Wenn die Mutter nicht immer rechtzeitig, sondern nur verzögert oder gar nicht auf Beziehungsangebote des Kindes reagiert, dann wird das Kind nicht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen und sich nach und nach zurückziehen. Bisherige Studien zeigen auch: Wenn Kinder in den ersten Lebensmonaten regelmäßig solchen depressiven Verhaltensmustern ausgesetzt sind, ist ihre geistige Leistungsfähigkeit im frühen Schulalter oft generell eingeschränkt. Sabina Pauen möchte daher zwei Hypothesen nachgehen: Ist bei solchen Kindern langfristig der Stresslevel erhöht oder bestehen eher Mängel in der normalerweise immer besser werdenden Fähigkeit, die Vielfalt der Welt zu kategorisieren?
Tagungen zum Thema
Es gibt Tagungen, die sich mit dem Thema "Das Gehirn - ein Beziehungsorgan" beschäftigen. Diese Tagungen sollen einen Beitrag dazu leisten, die Verschränkung von Biologie und Kultur in der menschlichen Ontogenese zu erforschen.
Konsequenzen für das Verständnis psychischer Krankheiten
Die Konzeption des Gehirns als Beziehungsorgan hat Konsequenzen für das Verständnis von psychischen Krankheiten. Fuchs stellt die verbreitete Deutung der Neurowissenschaften in Frage, dass das Gehirn der Schöpfer der erlebten Welt, der Konstrukteur des Subjekts und die Ursache aller psychischen Krankheiten sei. Er betont, dass es nicht das Gehirn für sich ist, sondern der lebendige Mensch, der fühlt, denkt und handelt.
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