Seit Jahrhunderten wird das Gehirn als der Sitz des Geistes angesehen. Diese Sichtweise hat sich in der modernen Gesellschaft so weit verbreitet, dass oft nicht mehr von einem Selbst oder Ich die Rede ist, sondern vom Gehirn. Schlagzeilen wie "Die negativen Schlagzeilen überfordern unser Gehirn" oder "Emotionen: Wie das Gehirn Gefühle macht" sind allgegenwärtig. Doch diese übertriebene Fokussierung auf das Gehirn übersieht, dass die körperlichen, seelischen und geistigen Leistungen des Menschen nicht vom Gehirn allein ausgehen, sondern aus der Wechselwirkung von Organismus und Umwelt entstehen.
Die zentrale Rolle des Leibes
Die moderne Neurowissenschaft überschätzt oft die Bedeutung des Gehirns und vernachlässigt dabei die zentrale Rolle des Leibes. Der Leib gewinnt seine Bedeutung wieder, während die in der Neuzeit überbewertete Stellung des Gehirns auf ein Maß reduziert wird, das auch mit der neueren empirischen Forschung übereinstimmt. Die Autonomie des ganzheitlichen Menschen gewinnt damit die Bedeutung zurück, die ihr die spekulative Steuerungstheorie des Gehirns im letzten Jahrhundert abgesprochen hat.
Einsamkeit und ihre Auswirkungen auf das Gehirn
Fehlende soziale Kontakte lösen in uns das Gefühl von Einsamkeit aus. Gemeinschaft gehört zu unseren Grundbedürfnissen und ist damit lebensnotwendig. Jeder Mensch teilt dieses Bedürfnis, da es evolutionär bedingt ist. Schon unsere Vorfahren haben erkannt, dass es in einer Gruppe mit Arbeitsteilung leichter ist zu überleben. Einsamkeit kann jedoch tiefgreifende Auswirkungen auf unser Gehirn haben, insbesondere auf den Hippocampus und die Amygdala. Diese beiden Bereiche unseres Gehirns sind für unser Erinnerungsvermögen zuständig und regulieren unsere Emotionen.
Gedächtnis und Emotionen
Bei einsamen älteren Menschen können daher häufiger Gedächtnislücken auftreten. Sie können sich Namen schlechter merken und haben ein erhöhtes Risiko, an Demenz zu erkranken. Extreme Fälle von dauerhafter Einsamkeit verlernen auch soziale Fähigkeiten, wie einen Gesichtsausdruck zu deuten. Menschen, die jahrzehntelang in Einzelhaft eingesperrt sind, können gewisse Stimuli nicht mehr korrekt interpretieren. Sie nehmen etwa Gesichtsausdrücke viel negativer wahr als sie gemeint sind. Hebt jemand zum Beispiel verwundert die Augenbraue, kann das fälschlicherweise als offene Feindseligkeit interpretiert werden.
Das "Use-it-or-lose-it-Prinzip"
Das alles geschieht nach dem „Use-it-or-lose-it-Prinzip“: Wenn unser Gehirn bestimmte Aufgaben der sozialen Interaktion nie bewältigen muss, werden die dafür benötigten Kapazitäten in andere Bereiche des Gehirns verlagert. Einsame Menschen neigen zum Beispiel dazu, sich soziale Interaktionen vorzustellen. Die Bereiche des Gehirns, die für die Vorstellungskraft zuständig sind, werden also verstärkt beansprucht. Gleichzeitig bildet sich die soziale Intelligenz zurück. Allerdings ist dieser Vorgang reversibel.
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Physische und psychische Schmerzen
Wenn uns das Bedürfnis, dazu zugehören verwehrt wird, aktiviert sich in unserem Gehirn der anteriore singuläre Kortex. Der löst physische und psychische Schmerzen aus. Bei einer extremen Situation des sozialen Ausschlusses wie zum Beispiel einer Trennung oder dem Verlust eines geliebten Menschen kann das sogar zu herzinfakt-ähnlichen Beschwerden führen. Generell steigert Einsamkeit die Mortalitätsrate, sogar vergleichbar mit Tabakkonsum. Wenn wir nicht unterstützt werden, bewältigen wir unseren Alltag schlechter und unsere Lebensqualität und Lebensfreude nimmt ab. Ohne Kommunikation mit anderen Menschen, die uns fordert, ist es wahrscheinlicher an Demenz zu erkranken. Das führt zu einer geringeren Lebenserwartung.
Einsamkeit als Krankheitsauslöser
Einsamkeit kann Krankheiten auslösen: Bei Demenz-Erkrankungen etwa gehen allein fünf Prozent auf das Konto sozialer Isolation. Langanhaltende Phasen des Alleinseins können auch über körperliche, psychosoziale und verhaltensbedingte Mechanismen zum Anstieg des Schlaganfallrisikos führen. Zu den verhaltensbedingten Mechanismen gehören ungesunde Lebensweisen, die bei einsamen Menschen meistens häufiger anzutreffen sind. Studien zeigen, dass viele Schlaganfall-Betroffene sich zum Beispiel isoliert und einsam fühlen. Das kann auch eine direkte, rein körperliche Folge des Anfalls sein. Einsamkeit ist Gift für die Genesung und führt in einen Teufelskreis. Gerade soziale Beziehungen sollten neurologische Erkrankte daher möglichst aufrechterhalten oder sogar ausbauen.
Die neuronale Studie über Einsamkeit
Eine neuronale Studie hat nun Hinweise darauf gefunden, dass Gefühle der sozialen Isolation bestimmte Spuren im Gehirn der Betroffenen hinterlassen. Demnach wirkt bei ihnen das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk des Gehirns gleichsam wie trainiert. Der Mensch ist ein soziales Wesen - übermäßiges Alleinsein tut uns nicht gut. Studien haben bereits gezeigt, dass durch Einsamkeit ausgelöster Stress sowie psychische Effekte die körperliche und geistige Gesundheit von Menschen bedrohen. Vor allem Ältere sind vom Alleinsein und seinen Folgen betroffen: Studien haben gezeigt, dass Gefühle der Einsamkeit mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer verbunden sind.
Das Ruhezustandsnetzwerk
Die Forscher fanden heraus, dass die Teile des Ruhezustandsnetzwerks von einsamen Menschen eine besonders intensive Verdrahtung aufweisen. Außerdem war das Volumen der grauen Substanz in den beteiligten Hirnregionen im Vergleich zur Kontrollgruppe erhöht. Die Einsamkeit korrelierte zudem mit strukturellen Besonderheiten der sogenannten Fornix - einem Bündel von Nervenfasern, das Signale vom Hippocampus zum Ruhezustandsnetzwerk leitet. In Abwesenheit von erwünschten sozialen Erfahrungen sind einsame Personen möglicherweise auf nach innen gerichtete Gedankengänge wie das Erinnern oder Vorstellen von sozialen Erfahrungen geprägt. Diese kognitiven Fähigkeiten werden durch die am Ruhezustandsnetzwerk beteiligten Hirnregionen vermittelt.
Mythos und Realität der Hirnforschung
Seit vielen Jahren werden die Neurowissenschaften in der Öffentlichkeit gehypt. Überall ist es das Gehirn, das vielen Menschen als Schlüssel zum Bewusstsein gilt. Dabei gibt es gar keine einheitliche, wissenschaftliche Theorie zur Funktionsweise unseres Gehirns. Es existieren zahlreiche Mythen über das Gehirn, die in populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Selbsthilfebüchern verbreitet werden.
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Der 10-Prozent-Mythos
Ein weit verbreiteter Mythos ist die Vorstellung, dass Menschen nur 10 % ihrer Gehirnkapazität nutzen und die restlichen 90 Prozent nicht. Untersuchungen zeigen, dass bildgebende Verfahren zeigen, dass alle Areale im Gehirn die ganze Zeit aktiv sind. Evolutionswissenschaftlich gesehen, hätte der Mensch diese 90 % ungenutzte Gehirnmasse abbauen müssen, da kleiner und effizienter für das Überleben. Überhaupt weiß die Medizin heute, dass Gehirnzellen, die inaktiv sind, schnell absterben. Wären 90 % ungenützt, würde sich das bei Autopsien in Form von degenerierten Gehirnbereichen deutlich zeigen. Die lassen sich aber nur bei Verstorbenen finden, die an neuronalen Erkrankungen litten.
Der Triune-Brain-Mythos
Ein weiterer Mythos ist die Drei-Gehirn-Theorie von Paul MacLean, die das Gehirn in Reptiliengehirn, limbisches System und Neocortex unterteilt. Wissenschaftlich wurde die Theorie nicht ernst genommen. Der Begriff „reptilienartig“ weckt völlig falsche Vorstellungen, da der Mensch keine gemeinsamen Vorfahren mit Reptilien hat. Und bei der menschlichen Evolution ist nicht einfach der Neokortex “gewachsen”, vielmehr hat sich die gesamte Architektur des Gehirns verfeinert. Das sind hochkomplexe Systeme, die sich nicht in “primitive” oder “höher entwickelte” Strukturen aufspalten lassen.
Der Hirnhälften-Mythos
Auch die Vorstellung von den zwei Gehirnhälften, wobei die rechte Gehirnhälfte kreativ und die linke logisch sein soll, ist ein Mythos. In den Wissenschaften hat dieses Konzept nie Anklang gefunden. Es gibt keine Gehirnhälfte oder -Areale, die nur für bestimmte Aufgaben zuständig sind - alles ist vernetzt. Linkshänder sind also nicht per se kreativer als Rechtshänder.
Der Struktur-Funktions-Mythos
Die Theorie, dass bestimmte Gehirnareale für bestimmte Aufgaben zuständig sind (Lokalismus), ist ebenfalls unzulänglich. Die Wissenschaft weiß heute, diese einfachen Vorstellungen sind nicht richtig. Denn die Verdauung beginnt bereits mit dem Speichel, die Atmung benötigt Mund- und Nasenraum zur Luftaufnahme, und das Gehirn agiert und reagiert zusammen mit dem gesamten Organismus. Zum Beispiel beim Sehen: Dabei sind über 30 verschiedene Hirnareale und rund 900 Verbindungswege beteiligt.
Der Persönlichkeits-Mythos
Persönlichkeitstests sind beliebt, aber ihre Aussagekraft ist begrenzt. Im Grunde sind Persönlichkeitstests eine Art modernes Horoskop. Auch das Big-Five-Modell ist nicht interdisziplinär anerkannt. Es hat Logikfehler und sein Konzept kann höchstens Teilaspekte der Persönlichkeit betrachten.
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Der Hormon-Mythos
Die Vorstellung, dass Serotonin glücklich und Dopamin berauscht macht, ist ebenfalls vereinfacht. Tatsache ist, dass wir nach wie vor nur ein extrem begrenztes Wissen über die genaue Chemie im Gehirn besitzen. Es bestehen keinerlei Indikatoren, die uns zeigen könnten, wie ein „ideales“ chemisches Gleichgewicht aussieht oder wie viel von einem bestimmten Neurotransmitter tatsächlich im Gehirn vorhanden sein muss.
Der Mythos vom weiblichen und männlichen Gehirn
Dass Frauen besonders einfühlsam in zwischenmenschlichen Beziehungen und stark in Sprachen sind, während Männer hauptsächlich im analytischen und mathematischen Denken brillieren, ist ein bekannter Glaubenssatz. Diese Sichtweise ist jedoch mehr Vorurteilen geschuldet als wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Der Computer-Gehirn-Mythos
Die Vorstellung, das Gehirn funktioniere wie ein Computer, ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Das Gehirn speichert nicht einfach Daten, sondern verknüpft Wissen und Bedeutung mit einer Vielzahl von Assoziationen, Körperempfindungen und Gefühlszuständen. Überdies hat das menschliche Gehirn die beeindruckende Fähigkeit, seine Kapazität zu erweitern und nach Bedarf ganz neue Verbindungen zwischen den Neuronen zu bilden. Es ist ein dynamisches und lebendiges System, das sich ständig weiterentwickelt.
Der Mythos vom determinierten Willen
Die Willensfreiheit ist keine Illusion. Hier geht es eigentlich um Determinismus, also die Vorstellung, dass zukünftige Ereignisse bereits durch gegenwärtige Bedingungen festgelegt sind. Und in der Philosophie diskutiert man seit Jahrhunderten, ob Denken und Handel durch Naturgesetze oder höhere Mächte bestimmt sind.
Was können wir gegen Einsamkeit tun?
Zu Pandemiehochphasen, in denen viele Menschen Gefahr laufen, sich einsam zu fühlen, ist es daher wichtig, besonders wertvolle soziale Interaktionen zu pflegen. Zum Beispiel jemandem zu helfen oder um Hilfe zu bitten und diese zu erhalten. Weihnachten steht vor der Tür und vielen Menschen wird zum Fest der Liebe ihre eigene Einsamkeit besonders schmerzhaft bewusst.
Soziale Interaktion und Hobbys
Wer nun die negativen Wirkungen der Einsamkeit abmildern möchte, der könnte in einem Hobby oder durch ein Ehrenamt wertvollen Kontakt zu anderen Menschen finden, die auch das Gehirn länger rege halten und beschäftigen. Empfehlenswert für das Gehirn ist es Experten zufolge auch, wenn sich mehrere Aspekte verbinden lassen, etwa eine soziale Begegnung mit Bewegung verbunden wird.
Selbsthilfegruppen und Unterstützung
Selbsthilfegruppen können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Auch die Deutsche Hirnstiftung unterstützt beim Kampf gegen Einsamkeit. Passend zur Vorweihnachtszeit haben wir zudem einen Kochkurs für und mit Betroffenen organisiert. Selbsthilfegruppen finden Interessierte bundesweit über die Nationale Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (NAKOS).
Die Bedeutung sozialer Kontakte für ein gesundes Gehirn
Soziale Kontakte halten das Gehirn jung, Einsamkeit hingegen lässt es schneller altern. Jene Studienteilnehmenden über 50 Jahren, die zu Beginn wenig soziale Kontakte aufwiesen und bei denen die Kontaktarmut auch am Ende der Studie anhielt, wiesen eine stärkere Reduktion der grauen Hirnsubstanz im Laufe der sechs Jahre auf als Probanden mit einer höheren Zahl an Kontakten. Der Hippocampus ist Forschenden zufolge als Brennpunkt altersbedingter Abbauprozesse bekannt und eine Region, in der sich strukturelle Veränderungen einer Alzheimer-Demenz früh abzeichnen können. Allgemein ist die Hirnregion für Gedächtnisleistungen und Lernprozesse zuständig. Gerade das Lernen von neuen Inhalten, etwa einer Sprache oder eines Instrumentes, halten das Gehirn jung. Einsamkeit lässt das Gehirn jedoch nicht nur schneller altern und schadet der Gedächtnisleistung: Soziale Isolation könne auch eine spätere Alzheimer-Demenz begünstigen, folgern die Forschenden.