Das kolonisierte Gehirn und die Wege der Revolte: Eine Zusammenfassung

Der Vortrag von Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz zum Thema „Das kolonisierte Gehirn und die Wege der Revolte“ im Rahmen der Psychiatrischen Fortbildungen im ZfP Südwürttemberg wirft ein kritisches Licht auf traditionelle Theorien psychischer Erkrankungen. Diese Theorien gehen oft von einem hierarchischen Modell des Gehirns aus, in dem „höhere“ Hirnregionen die Kontrolle über „niedere“ verlieren, was zu pathologischem Verhalten führt. Heinz argumentiert, dass diese Ansätze koloniale und soziale Hierarchien auf das Gehirn projizieren und das komplexe Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen ignorieren.

Hierarchische Gehirnmodelle und ihre Wurzeln

Viele Theorien psychischer Erkrankungen basieren auf der Vorstellung, dass evolutionär jüngere und komplexere Hirnregionen die Kontrolle über ältere Hirnareale verlieren. Diese Enthemmung soll sich dann in pathologischem Verhalten äußern, das auch bei Kindern oder vermeintlich „primitiven“ Völkern zu beobachten sei. Solche hierarchischen Modelle finden sich nicht nur in neurobiologischen, sondern auch in psychoanalytischen Krankheitstheorien, wie beispielsweise bei Sigmund Freud mit seinem Modell von Es, Ich und Über-Ich.

Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung in sozialen und kolonialen Hierarchien. Um 1900, als psychiatrische Krankheitsbilder formuliert wurden, projizierte man koloniale Hierarchien auf das Gehirn und seine Funktionen. Erkrankungen wurden als Umkehrung der Evolution verstanden, bei der zuerst die evolutionär jüngsten und komplexesten Hirnzentren geschädigt sein sollen. Dies ist jedoch nachweislich falsch, da jede Hirnregion zuerst betroffen sein kann, wie beispielsweise beim Parkinson-Syndrom, bei dem Nervenzellen im Mittelhirn betroffen sind.

Man behauptete dogmatisch, dass der krankheitsbedingte Abbau immer mit den „höchsten“ Hirnfunktionen beginne und auf ein individuell wie stammesgeschichtlich „primitives Niveau“ zurückführe. Erwachsene Menschen mit psychischen Erkrankungen würden sich deshalb wie „primitive Menschen“ oder wie Kinder benehmen. Da die eigene Stammesgeschichte schwer zu erfassen ist, verglich man sie kurzerhand mit den Bewohnern der damaligen Kolonien, da sie angeblich auch „primitiv“ seien. So setzte man beispielsweise Menschen in Afrika mit Personen gleich, die schizophrene Psychosen erleben.

Kritik am Top-Down-Modell

Heinz kritisiert dieses Top-Down-Modell, das davon ausgeht, dass psychische Erkrankungen entstehen, wenn höhere Hirnzentren die Kontrolle über vermeintlich niedrigere Hirnzentren verlieren. Er betont, dass das Gehirn ein komplexes, interaktiv schwingendes Organ ist, dessen Funktionen in Netzwerken und Regelkreisen organisiert sind. Evolutionär ältere Hirnzentren wie die Basalganglien tragen nicht nur zur Bewegung, sondern auch zu intelligenten Entscheidungen bei.

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Psychische Erkrankungen sind keine „Primitivierung“. Um beispielsweise einen Wahn zu bilden, muss man sehr viel nachdenken und konstruieren, wobei Hirnzentren wie der frontale Kortex beteiligt sind, die wir als höchst komplex verstehen. Die Bewohner der ehemaligen Kolonien waren nicht „primitiv“ oder fantasierten „unlogisch“ wie im Traum. Das waren Abwertungen, die der Rechtfertigung der Sklaverei und des Kolonialismus dienten und die bis heute widerlegt wurden.

Folgen des kolonialen Hierarchiedenkens

Dieses durch koloniales Hierarchiedenken geprägte Verständnis von psychischen Erkrankungen hat schwerwiegende Folgen für die Betroffenen. Historisch wurden in der Zeit des Nationalsozialismus sowohl die schwarzen Deutschen im Rheinland als auch Personen mit einer Vielzahl von psychischen Erkrankungen zwangssterilisiert und ermordet. Bis heute werden Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert, ausgegrenzt und diskriminiert.

Wege der Revolte und notwendige Veränderungen

Gegen diese Theorien und Praktiken der sozialen Kontrolle erhoben sich Gegenbewegungen, die zur Reform der psychiatrischen Versorgung beitrugen. Heinz fordert eine grundlegende Überprüfung unserer Krankheitstheorien. Es gibt dimensionale Ansätze, die die gleitenden Übergänge zu Erkrankungen besser erfassen als starre Kategorien. Viele Erkrankungen entstehen als Ergebnisse von Lernmechanismen, also aus Erfahrungen wie Traumatisierung oder sozialer Ausgrenzung.

Expertinnen aus Erfahrung, also Betroffene und Angehörige, müssen auf allen Entscheidungsebenen beteiligt sein. Dies ist etwa im neuen Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit umgesetzt, aber längst noch nicht überall die Regel.

Weitere Perspektiven und Entwicklungen in der Psychiatrie

Die Diskussion um das „kolonisierte Gehirn“ fällt in eine Zeit, in der sich die Psychiatrie zunehmend wieder für die Sinnperspektive des Subjekts interessiert. Nachdem in den 1950er Jahren die phänomenologisch-daseinsphilosophische Psychiatrie einen Höhepunkt erlebte, verlor diese Forschungsrichtung in der Folgezeit an Bedeutung. Erst nach der Jahrtausendwende begannen sich führende Psychiater wieder für anthropologische Fragestellungen zu interessieren.

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In diesem Zusammenhang ist auch das Werk von Georg Juckel und Paraskevi Mavrogiorgou „Wie die Seele wieder Frieden findet“ zu erwähnen, das sich vor allem mit dem Sinnhorizont der Psychiatrie auseinandersetzt. Die Autoren entwickeln einen Test in Form eines Polaritätenprofils, den Fragebogen zur Selbsteinschätzung von Zeiterleben (FSZ), sowie den Bochumer Fragebogen zur Einstellung zum Tod und zur Angst vor dem Tod (BOFRETTA). Sie plädieren für die Anerkennung der Bedeutung der Liebe für den therapeutischen Prozess und betonen die Bedeutung von Dialog und Intersubjektivität.

Psychiatrie im historischen Kontext

Eine Betrachtung medizinethischer Überlegungen und ganz besonders diejenigen innerhalb der Psychiatrie ab 1800 ist ohne Bezug zu den historischen sozialen und politischen Diskussionen der Vergangenheit nicht möglich. Gerade in Zeiten politischer und/oder sozialer Krisen wirkten diese gesellschaftlichen Debatten auf Medizin und Psychiatrie ein. Dies konnte auch eine Umkehrung bis dato geltender Werte bewirken.

Die sich entfaltende medizinische Disziplin Psychiatrie war mit einem dreifachen Gestaltungsfeld ausgestattet: ordnungspolitische Funktionen, medizinischer Charakter und unterstützende Aufgaben. Dieses Dreieck war keineswegs immer in einer gleichschenkligen Weise gestaltet. Es gab Zeiten, in denen die ordnungspolitischen Aufgaben das professionelle Feld stark dominierten.

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