Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren rasante Fortschritte gemacht, die faszinierende Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns und der neuronalen Netze ermöglichen. Diese Entwicklung weckt Hoffnungen auf die Heilung psychischer und neurologischer Erkrankungen, aber auch Ängste vor der Möglichkeit, Gedanken zu lesen, Verhalten vorherzusagen oder Menschen zu manipulieren. Um diese Skepsis zu begegnen, haben elf deutsche Spitzenwissenschaftler ein Manifest zur Lage und Zukunft der Hirnforschung erstellt.
Fortschritte und Potenziale der Hirnforschung
Die moderne Forschung in den Neurowissenschaften begann im frühen 20. Jahrhundert mit den Arbeiten von Santiago Ramón y Cajal und Camillo Golgi zur zellulären Struktur des Nervensystems. Sie identifizierten Neuronen als funktionelle Einheiten, die über Synapsen miteinander verbunden sind. In der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde entdeckt, dass Neuronen Aktionspotentiale generieren und über ihre Axone weiterleiten.
Die Entwicklung bildgebender Verfahren hat eine Schlüsselrolle für die Fortschritte in der Hirnforschung gespielt. Diese Verfahren ermöglichen es, die Aktivitäten im Gehirn bildlich darzustellen.
- Elektroenzephalographie (EEG): Misst Hirnströme mit hoher zeitlicher Auflösung.
- Magnetenzephalographie (MEG): Misst die Magnetfelder, die durch die Aktivität der Neurone entstehen.
- Positronen-Emissions-Tomographie (PET): Misst die Strahlung einer radioaktiv markierten Substanz, die in die Blutbahn eingespritzt wurde, um Stoffwechseländerungen zu erfassen.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Erzeugt virtuelle Schnitte durch das Gehirn und ermöglicht dreidimensionale Rekonstruktionen.
- Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT): Misst den Anstieg des lokalen Sauerstoffverbrauchs im Gehirn, wenn größere Gruppen von Neuronen aktiv sind (BOLD-Signal).
- Diffusions-Tensor-Bildgebung: Eine Variante der MRT, mit der sich vor allem Faserbahnen darstellen lassen.
Die Neurowissenschaften haben in den letzten 100 Jahren rasante Fortschritte gemacht. Die Frage nach den Möglichkeiten der Neurowissenschaften in der Zukunft lässt sich kaum beantworten, da die Entwicklung in viele verschiedene Richtungen geht. Mit den modernen bildgebenden Verfahren kann man die Aktivitäten des Gehirns gleichsam direkt beobachten. Ein Nachteil besteht jedoch darin, dass die beobachteten Regionen immer noch sehr groß sind. Dem sollen neuere Experimente Abhilfe verschaffen.
Ethische und gesellschaftliche Aspekte
Die rasante Entwicklung der Hirnforschung wirft wichtige ethische Fragen auf. Ein Beispiel ist die Entwicklung des Cochleaimplantats, das bei Zerstörung des Innenohrs eingesetzt wird. Trotz der medizinischen Vorteile gibt es massive Opposition, die beklagt, dass die „Kultur der Gehörlosen“ unbeachtet bleibe. Auch Elektroden zur Behandlung von Parkinson oder Prothesen bei Querschnittlähmung stoßen auf Widerstände.
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Die Bundestagsabgeordnete Ulrike Flach (FDP) betonte, dass die Hirnforschung eine Schlüsselstellung im neuen Jahrhundert haben wird und von der Politik beachtet und diskutiert werden muss. Sie warnte jedoch davor, die Hirnforschung mit Vorurteilen und Ängsten zu befrachten und sie durch Grenzen und Regularien einzuschränken.
Prof. Dr. Randolf Menzel (Freie Universität Berlin) erklärte, dass es eine gesellschaftliche Aufgabe der Neurowissenschaften sei, eine Projektion in die Zukunft zu geben. Er betonte, dass Deutschland erhöhte Anstrengungen unternehmen müsse, um international den Anschluss zu halten.
Grenzen der Hirnforschung
Trotz der beeindruckenden Fortschritte gibt es auch Grenzen der Hirnforschung. Diese sind nicht nur technischer Natur, sondern auch ethischer und wissenschaftstheoretischer.
- Ethische Grenzen: Sind zu setzen bei Experimenten an Tieren und Menschen.
- Wissenschaftstheoretische Grenzen: Die Hirnforschung kann nur angeben, welche Gehirnvorgänge bestimmten Vorgängen im menschlichen Verhalten entsprechen. Unsere geistigen Akte, insbesondere unser Bewusstsein und unsere Freiheit, gehören nicht in ihre Zuständigkeit.
In dem 2004 veröffentlichten Manifest von elf deutschen Neurowissenschaftlern wird behauptet, dass alle geistigen Prozesse „grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind“. Diese reduktionistische Sichtweise wird jedoch von vielen kritisiert.
Die aktuelle Debatte über Gehirn und Geist unterscheidet zwischen dem persönlichen Erleben und Handeln (Perspektive der ersten Person) und der objektivierenden wissenschaftlichen Beschreibung (Perspektive der dritten Person). Die Reduktionisten geben zwar zu, dass unser „phänomenales Bewusstsein“ der ersten Person vorbehalten sei, wollen aber diese Perspektive durch die Perspektive der dritten Person ersetzen. Dies trifft jedoch nicht zu, da die Perspektive der ersten Person für uns eine ursprüngliche Gewissheit bleibt und die Grundlage für alle Formen von Wissenschaft ist.
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Die Debatte um die Freiheit
Eine besonders heftige Debatte wurde in den letzten Jahren über die Realität von Freiheit geführt. Einige Neurophilosophen behaupten, es gebe keine Freiheit und wir seien Opfer einer Illusion, wenn wir glaubten, frei entscheiden zu können. Diese Behauptung basiert auf Experimenten von Benjamin Libet und John-Dylan Haynes, die zeigen, dass neuronale Prozesse einer bewussten Entscheidung vorausgehen.
Diese reduktionistische Deutung wird jedoch kritisiert. So wird argumentiert, dass die Experimente die bewusste Entscheidung der Versuchsperson, an dem Experiment teilzunehmen, nicht berücksichtigen. Ohne diese vorgängige Entscheidung hätten die neuronalen Schaltkreise keine experimentelle Aufgabe zu bearbeiten.
Der Sonderforschungsbereich SFB 1436 in Magdeburg
Die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 14 Millionen Euro für den Sonderforschungsbereich SFB 1436 „Neuronale Ressourcen der Kognition“ erhalten. Ziel des SFB ist es, zu untersuchen, welches Potenzial das menschliche Gehirn hat und welche neurobiologischen Prozesse es daran hindern, es auszuschöpfen.
Prof. Dr. Emrah Düzel, Sprecher des SFB, erklärt, dass die Leistungsfähigkeit unseres Gedächtnisses, unseres Lernvermögens oder unserer Aufmerksamkeit durch die Architektur des Gehirns vorgegeben wird. Innerhalb dieser Vorgaben gibt es aber eine große Variabilität und Möglichkeiten, individuelle Fähigkeiten durch Training zu verbessern.
Dr. Michael Kreutz, Co-Sprecher des SFB, betont, dass es derzeit keine übergreifende Theorie zu den Kapazitäts- und Plastizitätsgrenzen des Gehirns gibt. Eine solche Theorie sei aber eine Voraussetzung, um individuell zugeschnittene Maßnahmen zur Prävention und Intervention von neurodegenerativen Erkrankungen zu entwickeln.
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Der SFB vereint Expertinnen und Experten aus den Gebieten der Neurowissenschaft, Medizin, Biologie, Pharmakologie, Physik und Psychologie. Die Forscherinnen und Forscher kooperieren mit der Freien Universität Berlin, der Charité Universitätsmedizin Berlin und den Universitäten Düsseldorf, Heidelberg und Göttingen.
In Magdeburg steht eine innovative Infrastruktur zur Verfügung, darunter ein 7-Tesla-MRT und das weltweit erste 7-Tesla-Konnektom-MRT. Diese Geräte ermöglichen es, die innerste Architektur des Gehirns und dessen Plastizität mit nie dagewesener Auflösung zu erfassen. Darüber hinaus erlauben hochauflösende Mikroskopie Einblicke in die Nanowelt von Synapsen und ein Forschungszyklotron die Darstellung molekularer Prozesse im menschlichen Gehirn.
Künstliche Intelligenz in der medizinischen Bildgebung
Künstliche Intelligenz (KI) spielt eine immer größere Rolle bei der Verarbeitung enormer Datenmengen in der medizinischen Bildgebung. KI-Experten entwickeln Augen und Gehirne für Computer, um die kognitiven Grenzen des Menschen bei der Bildauswertung zu überwinden.
KI kann weitaus mehr Bilder analysieren und somit einen höheren Durchsatz erzielen als mit einem gewöhnlichen Computerprogramm. Sie kann Dinge sehen, die für das menschliche Auge unsichtbar bleiben, und Informationen extrahieren, die das menschliche Gehirn kaum verarbeiten kann.
Hirnorganoide
Hirnorganoide sind aus Stammzellen gewonnene Gewebestrukturen, die in vitro dreidimensional wachsen und die zelluläre Architektur sowie bestimmte Funktionen eines Organs in Teilen nachahmen. Sie ermöglichen neue Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung und in die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen. Zudem ermöglichen sie die Untersuchung der Effekte von Medikamenten, Giftstoffen, Keimen oder Viren auf menschliche Gehirnzellen.
Die Forschung an Hirnorganoiden wirft jedoch auch ethische und juristische Fragen auf. So ist zum Beispiel zu klären, ob menschlichen Hirnorganoiden gegenüber eine Schutzpflicht entstehen könnte. Die hierzu vertretenen Positionen sehen solche Schutzansprüche zumeist erst dann gegeben, wenn Hirnorganoide Bewusstsein beziehungsweise Empfindungsfähigkeit besäßen - eine gegenwärtig aus Sicht der Arbeitsgruppe nicht erfüllte Voraussetzung.
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