Die faszinierende Welt des sterbenden Gehirns: Was passiert nach dem Tod?

Wenn ein Mensch stirbt, ist es ein weit verbreiteter Irrglaube, dass das Gehirn sofort aufhört zu funktionieren. Neueste Forschungen zeigen jedoch, dass das Gehirn auch nach dem Herzstillstand noch eine Zeit lang aktiv sein kann. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen physiologischen Prozesse, die im sterbenden Gehirn ablaufen, und untersucht die faszinierenden Phänomene, die mit Nahtoderfahrungen verbunden sind.

Nahtoderfahrungen: Ein Blick in die Zwischenwelt?

Nahtoderfahrungen (NTEs) sind ein faszinierendes und oft diskutiertes Phänomen. Menschen, die dem Tod nahe waren und reanimiert wurden, berichten von einer Vielzahl von Erlebnissen, die von einem hellen Licht am Ende eines Tunnels bis hin zu außerkörperlichen Erfahrungen reichen. Wissenschaftler können über das, was Menschen erleben, wenn sie sterben, nur spekulieren, da die Datenlage relativ dünn ist. Nur die wenigsten Menschen haben solche Erinnerungen. Es gibt Skalen, anhand derer man bestimmt, ob etwas eine Nahtoderfahrung war oder nicht, aber die Erlebnisse sind nur bedingt standardisierbar. Dennoch deuten wiederkehrende Muster in den Berichten auf die Existenz solcher Erfahrungen hin.

Typische Merkmale von Nahtoderfahrungen

Zu den häufigsten Merkmalen von Nahtoderfahrungen gehören:

  • Das Gefühl, sich gleichzeitig in verschiedenen Epochen und an verschiedenen Orten zu befinden.
  • Abstrakte Sinneseindrücke wie ein helles Licht oder eine Verengung des Sichtfelds (Tunnelblick).
  • Außerkörperliche Erfahrungen, bei denen sich die Betroffenen außerhalb ihres Körpers wahrnehmen.
  • Das Wiedersehen mit verstorbenen Angehörigen.
  • Ein Gefühl des Friedens und der Akzeptanz.
  • Ein Gefühl der Loslösung vom Körper (autoskope Erlebnisse, beziehungsweise Out-of-Body Experiences).
  • Ein Gefühl der Liebe.
  • Das Ablaufen von Erinnerungen wie in einem Film.

Es ist wichtig zu beachten, dass nicht alle Nahtoderfahrungen positiv sind. Einige Menschen berichten von beängstigenden Erlebnissen wie Aufenthalten in tiefer Dunkelheit oder dem Hören von bedrohlichen Stimmen.

Die physiologischen Vorgänge während des Sterbens

Besser untersucht als die subjektiven Erlebnisse sind die physiologischen Vorgänge, die im Gehirn während des Sterbens ablaufen. Der Neurologe Jens Dreier vom Centrum für Schlaganfallforschung Berlin (CSB) hat sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt.

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Der Herz-Kreislauf-Stillstand

Im einfachsten Fall erleidet eine Person einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Wenige Sekunden nachdem das Herz stehen geblieben ist, sinkt die Sauerstoffkonzentration im Gehirn. Die Nervenzellen schalten in einen Sparmodus, wodurch die neuronale Aktivität massiv gedrosselt wird. Nach etwa sieben bis acht Sekunden verliert die Person das Bewusstsein, und nach 30 bis 40 Sekunden ist die gesamte Hirnaktivität erloschen. Allerdings hängt der genaue Zeitpunkt vom Ausmaß der Restdurchblutung ab.

Hyperpolarisation: Eine Art Winterschlaf für Nervenzellen

Zunächst sterben die Nervenzellen jedoch nicht ab. Es kommt zu einer Phase ohne Aktivität, in der die Neurone lediglich gehemmt, aber noch lebendig sind. Dieser Zustand wird als Hyperpolarisation bezeichnet. Nervenzellen haben ein Membranpotenzial, sie sind polarisiert. Die Innenseite der Zellmembran ist im Ruhezustand normalerweise negativ geladen. Während eines Nervenimpulses depolarisieren die Zellen, die Innenseite wird kurzzeitig positiv, um anschließend wieder zu repolarisieren. Wenn die Sauerstoffversorgung abbricht, hyperpolarisieren die Zellen jedoch. Sie werden also noch negativer, als sie es ohnehin schon sind. Aus diesem sehr negativen Zustand können sie nicht mehr erregt werden, obwohl die Batterie noch voll geladen ist.

Die "Todeswelle": Terminal Spreading Depolarization

Um die Hyperpolarisation aufrechtzuerhalten, benötigt die Zelle jedoch weiterhin ein wenig Energie. Da der Körper diese Energie normalerweise aus Glukose und Sauerstoff gewinnt und diese nun nicht mehr ausreichend vorhanden sind, können die Membranpumpen, die das Spannungsgefälle erzeugen, nicht mehr arbeiten. Nach einigen Minuten entsteht eine riesige Depolarisationswelle, auch "terminal spreading depolarization" genannt, bei der sich die Nervenzellen ähnlich wie bei einem Kurzschluss nacheinander entladen. Diese Welle breitet sich mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Millimetern pro Minute über das gesamte Gehirn aus und wandert durch alle Bereiche, in denen die Nervenzellkörper sitzen.

Diese "Todeswelle" bewirkt massive Veränderungen im Inneren der Nervenzellen. Die Konzentration von Kalzium steigt um das 1000-Fache an. Wenn dieser Zustand zu lange andauert, werden die Neurone vergiftet und sterben. Allerdings können die Zellen diesen Zustand für eine gewisse Zeit aushalten. Sofern die Membranpumpen wieder einsetzen und alles, was nicht ins Innere gehört, herausbefördern, überleben die Zellen.

Reanimation: Das Zeitfenster für die Rettung

Wie lange die Nervenzellen diesen Zustand aushalten, hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa von der Temperatur und dem Lebensalter. Bei einem ansonsten gesunden jungen Menschen bei Zimmertemperatur dauert es schätzungsweise fünf Minuten vom Herzstillstand bis zum Einsetzen des Nervenzelltods. Bereits nach etwa drei Minuten setzt sich die riesige Welle in Gang. Durch eine Reanimation, bei der das Herz massiert wird, werden Körper und Gehirn leicht durchblutet, wodurch die Nervenzellen deutlich länger durchhalten.

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Die Verbindung zu Schlaganfällen und Migräne

Interessanterweise treten Depolarisationswellen nicht nur beim Sterben auf, sondern auch bei Schlaganfällen und Migräne. Bei einem Schlaganfall kommt es zu einem lokalen Energiemangel, der eine ähnliche Depolarisationswelle auslöst. Bei Migräne kann die Welle ebenfalls auftreten, möglicherweise aufgrund eines kleinen Blutgerinnsels, das ein Gefäß verschließt.

Migräne-Aura: Ein Fenster zum Sterbeprozess?

Die Entladungswelle bei Migräne ist zwar viel größer als jeder epileptische Anfall, hinterlässt aber fast nie Folgeschäden. Einige Forscher vermuten, dass die visuellen Erscheinungen bei Nahtoderfahrungen auf die Entladungswelle zurückzuführen sein könnten. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Menschen mit Migräneauren eher zu Nahtoderfahrungen neigen.

Gammawellen und Erinnerungsabruf

Eine weitere interessante Beobachtung ist der Anstieg der Gammawellen-Aktivität im sterbenden Gehirn. Gammawellen sind die schnellste Aktivität im Gehirn und werden mit dem Bewusstsein in Verbindung gebracht. Es wird vermutet, dass diese Gammawellen für die Halluzinationen verantwortlich sein könnten, die Menschen bei einer Nahtoderfahrung durchleben. Zudem deuten Studien darauf hin, dass Gammawellen einen Abruf von Erinnerungen anzeigen. Dies könnte erklären, warum viele Menschen während einer Nahtoderfahrung das Gefühl haben, dass ihr Leben an ihnen vorbeizieht.

Die Rolle von Drogen

Bestimmte Drogen wie Ketamin und Dimethyltryptamin (DMT) können ähnliche Erfahrungen wie Nahtoderlebnisse auslösen. Interessanterweise hemmen diese Substanzen die Depolarisationswellen. Es wird vermutet, dass der Körper in Notsituationen ähnliche Stoffe freisetzt, um die Depolarisation zu verhindern oder hinauszuzögern. Die Nahtoderlebnisse könnten also auf die Wirkung dieser "inneren Drogen" zurückgehen und nicht auf die Welle selbst.

Forschungsergebnisse der University of Michigan

Ein Forschungsteam um Jimo Borjigin von der University of Michigan Medicine School hat die Hirnaktivität von vier komatösen, im Sterben liegenden Personen mittels Elektroenzephalographie (EEG) untersucht. Dabei konnten sie einen signifikanten Anstieg der Herzfrequenz sowie der Gammawellen in verschiedenen Hirnregionen erkennen. Diese Gammawellen traten auch in sogenannten "heißen Zonen" auf, die unter anderem bei Träumen und Halluzinationen aktiv sind. Möglicherweise könnten also durch die starke interhemisphärische Verknüpfung und die gesteigerte Gammawellen-Aktivität die intensiven visuellen Erlebnisse bei Nahtoderfahrungen ausgelöst werden.

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Kritische Betrachtung und offene Fragen

Trotz der faszinierenden Erkenntnisse ist es wichtig, die Ergebnisse kritisch zu betrachten. Viele Studien basieren auf kleinen Stichproben und anekdotischen Berichten. Zudem ist es schwierig, die subjektiven Erlebnisse von Nahtoderfahrungen objektiv zu messen und zu interpretieren.

Es gibt auch alternative Erklärungen für die beobachteten Phänomene. Einige Wissenschaftler vermuten, dass die Hirnaktivität im sterbenden Gehirn eine Schockreaktion auf den Tod ist, mit der das Gehirn versucht, sich selbst zu retten. Andere glauben, dass Nahtoderfahrungen durch die Wiederbelebung oder durch Medikamente verursacht werden könnten.

Dennoch liefern die Forschungen wichtige Einblicke in die komplexen Prozesse, die im Gehirn während des Sterbens ablaufen. Sie zeigen, dass das Gehirn auch nach dem Herzstillstand noch aktiv sein kann und dass Nahtoderfahrungen möglicherweise auf biologische Mechanismen zurückzuführen sind.

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