Die Frage nach Unterschieden zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen ist ein viel diskutiertes Thema in der Neurowissenschaft. Während lange Zeit die Überzeugung vorherrschte, dass sich die Gehirne der Geschlechter kaum unterscheiden, zeigen neuere Forschungen, dass es durchaus neuroanatomische und funktionelle Differenzen gibt. Es ist jedoch wichtig, diese Unterschiede zu verstehen, ohne in stereotype Vorstellungen zu verfallen oder gar Ungleichheiten zu rechtfertigen. Die Neurowissenschaftlerin Iris Sommer gibt einen faszinierenden Einblick in die Besonderheiten und Stärken des weiblichen Gehirns und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
Biologische Unterschiede vs. kulturelle Stereotypen
Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden nicht geschlechtsneutral geboren. Das weibliche Gehirn unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom männlichen Gehirn, ähnlich wie sich auch weibliche Leber und weibliches Herz unterscheiden. Allerdings lassen sich längst nicht alle Unterschiede und schon gar nicht die bekannten Stereotypen und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen auf diese biologischen Unterschiede zurückführen. Es ist entscheidend, zwischen tatsächlichen biologischen Unterschieden und veränderbaren Stereotypen zu differenzieren, um Gleichberechtigung zu erreichen.
Iris Sommer betont, dass die Vielfalt von Persönlichkeit, Geschlecht und Gender viel größer ist, als wir oft wahrhaben wollen. Dennoch teilen wir Menschen in Mädchen und Jungen, Frauen und Männer ein, und die damit verbundenen Klischees haben großen Einfluss auf unser Selbstverständnis.
Strukturelle Unterschiede im Gehirn
Eine der umfangreichsten Vergleichsstudien zu diesem Thema belegt, dass es neuroanatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Demnach haben Frauen mehr graue Hirnsubstanz, insbesondere im Stirnhirn und den Scheitellappen, während Männer mehr Volumen in einigen hinteren und seitlichen Arealen des Cortex aufweisen, darunter auch das primäre Sehzentrum. Das männliche Gehirn ist durchschnittlich etwa 10 bis 15 Prozent größer und schwerer als das weibliche, selbst unter Berücksichtigung der Körpergröße. Im Neokortex finden sich bei Männern etwa 15,5 % mehr Neuronen als bei Frauen.
Diese strukturellen Unterschiede zeigen sich sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch. Unterschiede in subkortikalen Strukturen, wie insbesondere dem Hypothalamus, werden mit Geschlechtsunterschieden in sexuellem und reproduktivem Verhalten in Verbindung gebracht.
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Allerdings sind diese Unterschiede nicht immer eindeutig und können von Studie zu Studie variieren. So konnten strukturelle Geschlechtsunterschiede für das Planum temporale und Corpus callosum nicht immer repliziert werden.
Funktionelle Unterschiede im Gehirn
Die Forschung deutet darauf hin, dass das männliche und weibliche Gehirn funktionell unterschiedlich organisiert sind. Es wird angenommen, dass bei Frauen eine stärkere interhemisphärische Interaktion sowie eine reduzierte funktionelle Hirnasymmetrie vorliegen.
Eine Studie von Bianca Serio und Sofie Valk deutet darauf hin, dass Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns eher kleine Unterschiede in den Netzwerken und den Verbindungen dazwischen widerspiegeln. Entgegen den Erwartungen konnten sie jedoch nicht feststellen, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern erklären können.
Hormone und Gehirn
Sexualhormone wie Östrogen, Progesteron und Testosteron sind sowohl bei Männern als auch bei Frauen im Gehirn vorhanden, jedoch in unterschiedlichen Konzentrationen. Diese Hormone können die Gehirnstruktur und -funktion beeinflussen. So soll Östradiol, ein Östrogen, neuroprotektiv wirken und das Gehirn schützen.
Eine Studie von Svenja Küchenhoff und Sofie Valk hat gezeigt, dass Sexualhormone eine wichtige Rolle in der Modulierung und Plastizität der Mikrostruktur des Gehirns spielen. Sie fanden heraus, dass es geschlechtsspezifische regionale Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus gibt, die sich je nach Hormonprofil der Frauen verändern können.
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Auswirkungen auf Kognition und Verhalten
Es gibt einige wenige Unterschiede, die sich durchgängig zeigen, wenn es um die Fähigkeiten von Männern und Frauen geht. Im Schnitt sind Männer besser im räumlichen Vorstellungsvermögen und Frauen sind sprachlich stärker. Allerdings ist dies meist auf mehr Übung zurückzuführen.
Die Suche nach sexuellen Dimorphismen im menschlichen Gehirn beruht auf der Annahme, dass sich bestimmte Strukturen oder Schaltkreise zwischen Männern und Frauen überproportional unterscheiden. Die Idee dabei ist, dadurch bestimmte Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen erklären zu können.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Unterschiede im Durchschnitt bestehen und es innerhalb der Geschlechter große individuelle Unterschiede gibt. Wie Lise Eliot betont, ist das Gehirn zwischen Mann und Frau nicht unterschiedlicher oder ähnlicher als das zwischen zwei willkürlich ausgesuchten Individuen. Laut Joel bestehen Gehirne aus einzigartigen »Mosaiken« von Merkmalen, wobei manche Merkmale häufiger bei Frauen vorkommen als bei Männern und umgekehrt.
Stereotypen und Neurosexismus
Es ist wichtig, sich vor Stereotypen und sogenanntem "Neurosexismus" zu hüten. Neurosexismus liegt vor, wenn Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen als Erklärung für die Unterlegenheit von Frauen angeführt werden. Dies ist eine problematische Herangehensweise, da sie die Wissenschaft benutzt, um schon bestehende Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zu untermauern.
Die Studie von Madhura Ingalhalikar und Kolleginnen, die behauptete, dass Männer und Frauen unterschiedlich stark vernetzte Gehirnhälften haben und dass dies die Ursache für unterschiedliche Fähigkeiten im Multitasking bzw. Fokussieren sei, ist ein Beispiel für eine solche stereotype Interpretation von Forschungsergebnissen.
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Die Rolle von Erziehung und Umwelt
Die Umwelt und die Erziehung spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Gehirns und der Ausbildung von Fähigkeiten. Kinder lernen schon sehr früh den Unterschied zwischen Männern und Frauen und machen unterschiedliche Erfahrungen, die ihre Entwicklung beeinflussen.
Wie Lise Eliot betont, haben wir verschiedene Wörter, die wir bei der Kommunikation mit Jungen und Mädchen benutzen. Wir haben einen anderen Ton, andere Gesten und andere Erwartungen an Mädchen und Jungen. Daraus resultieren ihrer Meinung nach sehr viele Geschlechterunterschiede.
Es ist wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten und Interessen unabhängig von Geschlechterstereotypen zu entwickeln. Förderprogramme sollten sowohl Jungen als auch Mädchen unterstützen, ihre Potenziale in allen Bereichen auszuschöpfen.
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