Das Gehirn als wichtigstes Geschlechtsorgan: Fakten und Erkenntnisse

Sex und Sexualität sind tiefgreifende menschliche Erfahrungen, die weit über die rein körperliche Ebene hinausgehen. Das Gehirn spielt dabei eine zentrale Rolle, oft unterschätzt, aber von entscheidender Bedeutung für sexuelle Lust, Erregung und Befriedigung. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen neuronalen Prozesse, die während sexueller Aktivität ablaufen, und untersucht, wie das Gehirn als Dirigent im Orchester der menschlichen Sexualität fungiert.

Die Rolle des Gehirns bei sexueller Erregung und Orgasmus

Viele fiebern auf ihn hin, den Orgasmus. Aber warum ist der Orgasmus eigentlich so befriedigend? Während des Orgasmus ist die Aktivität des Gehirns größer als zu jeder anderen Zeit - sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Barry Komisaruk von der Rutgers University stellte fest, dass die erste Gehirnregion, die aktiv wird, der genitale sensorische Cortex ist, der im Scheitellappen sitzt (Lobulus paracentralis). Die verschiedenen Geschlechtsorgane stimulieren jeweils unterschiedliche Regionen des genitalen Cortex. Der Mythos, dass Frauen die Stimulation der Vagina oder des Muttermunds gar nicht direkt spüren können, hat sich somit als falsch herausgestellt. Je mehr erotisch sensible Körperregionen gleichzeitig stimuliert werden, desto größer ist die im genitalen Cortex aktivierte Region, und desto intensiver kann ein Orgasmus werden.

Der genitale Cortex aktiviert das limbische System, zum Beispiel den Hippocampus und die Amygdala, die beide bei der Emotionsverarbeitung eine Rolle spielen. Die Amygdala trägt auch dazu bei, dass Herzfrequenz und Blutdruck jetzt ansteigen. Während sich der Orgasmus aufbaut, löst das Kleinhirn vielfältige Muskelspannungen aus. In der Insula und im Gyrus cinguli wird Aktivität beobachtet, die man sonst sieht, wenn jemand Schmerz empfindet. Interessanterweise lässt die Schmerzempfindlichkeit während des Orgasmus eigentlich deutlich nach. Dazu trägt sicherlich auch das Schmerzunterdrückungssystem des Gehirns bei, das ebenfalls stark während des Orgasmus aktiviert wird: das periaquäduktale Grau und die Raphe-​Kerne, die Serotonin ins Rückenmark schicken. Es kann aber auch sein, dass die Insula und der Gyrus cinguli selbst eine schmerzhemmende Wirkung während des Orgasmus haben - im Hirnscanner sieht man keinen Unterschied zwischen Hemmung und Aktivierung. Ihre Wirkung auf die Gesichtsmuskeln scheint allerdings ähnlich zu sein wie beim Schmerz: das orgasmische Gesicht ähnelt stark dem schmerzverzerrten.

Auf dem Höhepunkt des Orgasmus spielen vor allem der Nucleus accumbens und der Hypothalamus eine Rolle. Der Nucleus accumbens ist Teil des Lustzentrums des Gehirns und reagiert sehr empfindlich auf Dopamin. Wie wichtig Dopamin für die Erotik ist, zeigte schon vor Jahrzehnten die Beobachtung, dass Parkinson-​Patienten, die mit der Dopamin-​Vorstufe L-​Dopa behandelt wurden, plötzlich anfingen, den Krankenschwestern nachzustellen. Auch manche Drogen wie etwa Kokain stimulieren das Dopamin-​System - viele Konsumenten beschreiben den Kokainrausch als orgasmisch. Die Zellen im vorderen Teil des Hypothalamus produzieren Oxytocin, das auch als „Kuschelhormon“ bekannt ist und zum starken orgasmischen Wohlgefühl beitragen mag. Auch Oxytocin treibt Herzschlag und Blutdruck in die Höhe, und es sorgt auch dafür, dass sich die Pupillen beim Orgasmus weiten.

Wenn der Orgamus dann vorbei ist, hört das Hirnfeuerwerk schlagartig auf. Und bei Männern - aber nicht Frauen! - bleibt es auch erstmal still. Sie erleben eine so genannte Refraktärzeit. Während dieser können sie eine erneute Stimulation der Genitalien zwar spüren, doch im Orgasmussystem im Gehirn tut sich derweil nichts. Je besser wir die Refraktärzeit und die genaue Sequenz und Kontrolle des Erotikempfindens im Gehirn verstehen, desto eher könnten wir in Zukunft begreifen, was bei Personen schiefläuft, die keinen Orgasmus erleben können. Vielleicht können wir diese Störung dann eines Tages besser behandeln.

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Neuronale Prozesse und Botenstoffe

Sexuelle Lust kann auf verschiedene Weise ausgelöst werden: durch Fantasien, Berührungen oder auch durch Duftstoffe des Partners oder der Partnerin, den Pheromonen. Wenn das aber erstmal aktiviert ist, leitet es Signale an tiefergelegene Hirnregionen, den Hirnstamm und das Rückenmark, wo das autonome oder vegetative Nervensystem verläuft. Das ist im Wesentlichen der Teil unseres Nervensystems, den wir nicht kontrollieren können. Und dieses vegetative Nervensystem sorgt dafür, dass unser Herz schneller schlägt und wir schneller atmen. Und dass sich der Blutfluss in den Genitalien erhöht. Dadurch kommt es bei Männern zu einer Erektion. Bei Frauen schwellen Klitoris und die inneren Labien an. Also: Frequenz von Herz und Atem nehmen zu.

Ab einem bestimmten Punkt schütten Hypothalamus und Hypophyse im Gehirn einen Cocktail aus verschiedenen Botenstoffen aus, darunter Oxytocin. Wenn die Konzentration von Oxytocin in unserem Gehirn ihren Höhepunkt erreicht, erreichen auch wir unseren Höhepunkt. Genau da übernimmt der Sympathikus die Steuerung des autonomen Nervensystems - das ist der Gegenspieler des Parasympathicus. Er löst Muskelkontraktionen im ganzen Körper aus. Besonders in der Beckenbodenmuskulatur um die Genitalien. Bei der Frau ziehen sich die Muskeln um die Vagina zusammen. Die Gebärmuttermuskulatur kontrahiert rhythmisch. Genauso wie die Muskeln am Penis. Bei Männern kommt es zur Ejakulation. Ein euphorisches Gefühl überzieht den ganzen Körper, der sogenannte „sex flush“. Dann fällt die aufgebaute Spannung plötzlich ab. Unsere Geschlechtsteile kehren zu ihrer normalen Größe zurück. Herzschlagrate und Atemfrequenz normalisieren sich. Nach dem Orgasmus steigt in unserem Gehirn die Konzentration der Hormone Serotonin und Prolaktin. Sie sorgen dafür, dass sich im Körper ein Wohlgefühl ausbreitet und wir uns müde fühlen. Viele Frauen können direkt nach dem Orgasmus weitere Orgasmen erleben.

Eine wichtige Rolle spielen diverse als Neurotransmitter bezeichnete Botenstoffe. Wie etwa Dopamin, das auf dem Gipfel der Lust in großen Mengen ausgeschüttet wird. Dopamin aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn massiv, wodurch wir in einen Rausch der Euphorie geraten. Die Vorgänge, die sich dabei in unserem Oberstübchen abspielen, gleichen den Effekten von Heroin oder Kokain. Tatsächlich ist Dopamin wohl auch dafür verantwortlich, dass wir uns beim Schmusen mitunter wie Süchtige verhalten. Einen großen Anteil an der rauschhaften Euphorie von Verliebten hat das Noradrenalin. Der in der Nebenniere gebildete Neurotransmitter hebt auch die Laune, erhöht unsere Aufmerksamkeit, vertreibt Hunger und Müdigkeit und dämpft Schmerzen. Wie körpereigene Schmerzmittel wirken die so genannten Endorphine. Beim Sex fördern sie die Entspannung und helfen so vor allem Frauen, zum Höhepunkt zu gelangen. Für viele Frauen spielt das Loslassen-Können eine große Rolle. Je mehr sie dem Partner vertraut und sich von ihm begehrt fühlt, desto leichter klappt es mit dem Höhepunkt. Dass der Körper nach dem Höhepunkt wieder herunterfährt und - zumindest beim Mann - eine Weile nicht für sexuelle Stimuli empfänglich ist, liegt an einem Neurotransmitter, der nach dem Orgasmus vermehrt ausgeschüttet wird. Der Hirnbotenstoff Serotonin steigert zwar das Wohlempfinden, kann aber gleichzeitig die Erregung blockieren. Dreh- und Angelpunkt unserer Lust ist der Hypothalamus. Die Hirnregion stellt eine Verbindung zwischen Nervensystem und Hormonen her. Lange Zeit war dieser Teil unseres Denkorgans vor allem dafür bekannt, dass er uns ermöglicht, in Angst- und Stresssituationen blitzschnell zu reagieren. Doch nicht nur Bedrohung aktiviert den Hypothalamus, sondern auch Zärtlichkeit. Berührungssignale beim Sex steigern seine Aktivität stetig weiter - bis sie in der Freisetzung großer Mengen des Bindungshormons Oxytozin beim Orgasmus gipfelt. Nach dieser Entladung nimmt die Aktivität des Hypothalamus schlagartig ab.

Auch das Belohnungssystem des Gehirns ist beim Sex aktiv. Zwei Hirnbereiche, der Nucleus accumbens und der Nucleus caudatus, sowie der Botenstoff Dopamin regulieren Motivation und Lust. Sie reagieren auf ganz unterschiedliche Reize und lassen uns nach den verschiedensten Belohnungen streben: einem guten Essen etwa, Geld - oder einer Droge die direkt auf die Dopamin-Ausschüttung im Hirn wirkt.

Geschlechtsunterschiede im Gehirn und ihre Auswirkungen auf die Sexualität

Dass Männer im Durchschnitt größere Gehirne haben als Frauen, ist in den Neurowissenschaften weithin bekannt. Wie sich das Gehirn zwischen Geschlechtern jedoch funktionell unterscheidet, ist weniger gut verstanden. Ausgehend von der Prämisse, dass die Gehirnstruktur die Funktion unterstützt, untersuchten Bianca Serio und Sofie Valk vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und dem Forschungszentrum Jülich, ob Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns auf Unterschiede in der Gehirngröße, der Mikrostruktur und dem Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche zurückzuführen sind. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass die Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns eher kleine Unterschiede in den Netzwerken und den Verbindungen dazwischen widerspiegeln.

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Die Forscherinnen haben für ihre Analyse Datensätze des Human Connectome Project genutzt, welches öffentlich zugänglich die Gehirn-Daten von 1000 Studienteilnehmerinnen und Teilnehmern enthält. Entgegen ihren Erwartungen konnten sie herausfinden, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht widerspiegeln können. Sie haben sich deswegen weiter angeschaut, welche Merkmale der Funktion der grundsätzlichen funktionellen Gestaltung des Gehirns erklären könnten. Hier haben sie festgestellt, dass es kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken gibt, was die kleinen Unterschiede in der funktionale Netzwerktopographie zwischen den Geschlechtern allgemein erklären könnte. Die Unterschiede sind klein, aber kleine Effekte können manchmal teilweise helfen, bedeutsame Unterschiede in Mechanismen zu erklären. Da kognitive und verhaltensbezogene Assoziationen im Rahmen ihrer Studie nicht geprüft wurden, sollten man dennoch vorsichtig sein, Spekulationen darüber anzustellen, was diese Unterschiede im Gehirn für beobachtbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern bedeuten könnten. Eine Frage, die sie aber persönlich fasziniert, ist zum Beispiel warum Frauen statistisch gesehen zweimal mehr anfällig für Depressionen sind als Männer. Hierbei spielen zum Beispiel die Sexualhormone vermutlich eine bedeutsame Rolle, was sich wiederum eine Kollegin aus ihrem Team genauer angeschaut hat.

Dass dies dringend nötig ist, findet auch Svenja Küchenhoff, auf deren Studie sich Bianca Serio bezieht. Wir haben leider immer noch eine ‚Female Data Gap‘ - auch in den Neurowissenschaften. Der männliche Körper wird als Standard angesehen und viele medizinische Lösungen passen daher nicht für viele Frauen. Um zu verstehen, was wirklich hinter medizinischen Problemen steckt, die Männer oder Frauen stärker betreffen, ist es wichtig, die darunterliegenden Faktoren zu betrachten - wie zum Beispiel Variation im Hormonspiegel. Deshalb hat sie in einer Studie gemeinsam mit Sofie Valk untersucht, inwieweit Sexualhormone die Gehirnstruktur beeinflussen. Sexualhormonrezeptoren sind sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen weit verbreitet, was es ihnen ermöglicht, über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns zu interagieren. Diese Mechanismen führten zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Gehirnstruktur sowie zu hormonbedingter Plastizität im Gehirn - sowohl durch körpereigene und künstliche Sexhormone, wie Svenja Küchenhoff beschreibt. Sie haben sich die regionalen Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde, des Kortex, angeschaut und zwar mithilfe von Magnetresonanztomographie bei über 1000 gesunden Frauen und Männern. In einem ersten Schritt haben sie in der Studie gezeigt, dass es geschlechtsspezifische regionale Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus gibt. Allerdings verändern sich diese geschlechtsspezifischen Unterschiede, je nachdem, welches Hormonprofil man bei den Frauen betrachtet - teilweise verschwinden sie sogar ganz oder drehen sich um. Außerdem finden sie diese Effekte vor allem in Hirnregionen, in denen Gene von Östrogenrezeptoren und der Synthese von Sexualsteroiden besonders stark ausgeprägt werden. Zusammengenommen können sie also sagen, dass Sexualhormone eine wichtige Rolle in der Modulierung und Plastizität der Mikrostruktur des Gehirns haben.

Beide Forscherinnen betonen, dass auch das biologische Geschlecht nicht binär ist: die Interaktion aus Chromosomen, Hormonen und Geschlechtsorganen ergibt ein Geschlechtskontinuum.

Ob sich die Erregungsmuster im Hirn von Mann und Frau unterscheiden, wird noch erforscht. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, als gesichert können diese Erkenntnisse jedoch noch nicht angesehen werden. Beobachtet wurde zum Beispiel ein Unterschied in der Amygdala. Dieses Hirnareal ist für die (Wieder-)Erkennung von möglichen Gefahrsituationen und die Entstehung von Angst mit all ihren körperlichen Reaktionen zuständig. Bei Frauen, so berichteten niederländische Forscher, sei die Amgydala während des Höhepunkts regelrecht lahmgelegt.

Der somatosensorische Cortex und die Repräsentation des Körpers im Gehirn

Alle sensorischen Einflüsse, etwa Berührungen oder Hitze, werden zunächst von speziellen Sinneszellen in unserer Haut erfasst. Diese schicken über Nerven und über das Rückenmark ein Signal bis hin zum somatosensorischen Cortex. Der somatosensorische Cortex ist also der Teil der Hirnrinde, in dem die Empfindungen aus der Körperperipherie verarbeitet werden. Jede Region des Körpers ist in diesem Cortex in einem eigenen Areal repräsentiert. So kann das Gehirn hinterher genau unterscheiden, ob uns jemand an der Schulter oder etwa am Kopf berührt hat.

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In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Wissenschaftler ein Modell dafür, wo im somatosensorischen Cortex welche Körperregion abgebildet ist. Sie ordneten den Arealen im Cortex also die entsprechenden Körperareale zu. Körperregionen mit einer hohen Dichte an Sinneszellen, wie zum Beispiel unsere Finger oder unsere Zunge, nehmen ein größeres Cortex-Areal ein als etwa die Arme oder Beine. Malt man jetzt einen menschlichen Körper in den Proportionen, wie er im somatosensorischen Cortex abgebildet ist, entsteht ein sehr verzerrtes Bild, das in etwa so aussieht: Der sogenannte “Homunculus” - lateinisch für “Menschlein”. Bis heute hat sich diese Zuordnung von Körperregion und Hirnareal als erstaunlich genau herausgestellt. Die Zuordnung erfolgte schließlich auch nach einer simplen Regel: Benachbarte Körperregionen werden auch in benachbarten Arealen im Cortex dargestellt. Die Finger liegen also neben der Hand und die Nase neben den Augen. Genannt wird dieses Prinzip Somatotopie.

Einzige Ausnahme für diese Regel bildet der Genitalbereich, der - ganz logisch - unter den Füßen dargestellt ist. Ein kurzer Blick in den Spiegel sollte den meisten von uns genügen, um festzustellen: Der Genitalbereich liegt nicht unter den Füßen. Warum sollte es dann im somatosensorischen Cortex so sein? Tatsächlich gelang es in den vergangenen Jahren mittels moderner MRT-Technik, die Genitalregion im Gehirn genauer zu lokalisieren. Und es scheint, als sei die Areal-Zuordnung unter den Füßen falsch. In Wirklichkeit werden Empfindungen von den Genitalien wohl neben den Cortex-Arealen des Beckens verarbeitet. Das wiederum würde wieder dem Prinzip der Somatotopie entsprechen.

Das Rückenmark: Ein wichtiger Vermittler sexueller Reaktionen

Der somatosensorische Cortex ist zwar eine tolle Sache, viele Nervenimpulse werden aber schon weit vor dem Gehirn “abgefangen” und verschaltet, nämlich im Rückenmark. Solche schnellen Umschaltungen auf Rückenmarksebene kennen wir vor allem als Reflexe. Reflexreaktionen laufen ab, ohne dass wir sie willentlich initiieren. Auch für den Geschlechtsverkehr spielt das Rückenmark eine ganz entscheidende Rolle. Um diese zu verstehen, lohnt es sich, den sexuellen Reaktionszyklus genauer anzuschauen.

Den sexuellen Reaktionszyklus haben der Gynäkologe William Masters und die Wissenschaftlerin Virginia Johnson in den 1960er Jahren erstmals beschrieben. Er besteht aus insgesamt vier Phasen: der Erregungsphase, der Plateauphase, dem Orgasmus und schließlich der Rückbildungsphase. Vor allem Berührungen erogener Zonen lösen den Eintritt in die Erregungsphase und die folgende Plateauphase aus. Erogene Zonen variieren individuell von Mensch zu Mensch. Grundsätzlich können jeder Part der Körperoberfläche und natürlich die Körperöffnungen als erogene Zonen empfunden werden. Die spezifischen erogenen Zonen, etwa die Eichel und der Penisschaft beim Mann oder die Klitorisspitze bei der Frau, haben eine besonders hohe Dichte an Nervenendigungen. Die Klitorisspitze soll bis zu 8000 solcher Nervenendigungen haben - damit wäre sie das am besten innervierte Hautareal des Körpers.

Berührungen der erogenen Zonen werden über Nerven bis ins Erektionszentrum im unteren Rückenmark weitergeleitet. Dort werden die ankommenden (afferenten) Signale auf vom zentralen Nervensystem ausgehende (efferente) Signale umgeschaltet. Diese ausgehenden Signale führen zum Beispiel zu einer Ausschüttung von Stickstoffmonoxid (NO) in den Genitalorganen. Stickstoffmonoxid führt zu einer Erweiterung von Gefäßen. Dadurch fließt mehr Blut in die Organe hinein und der Penis, die Klitoris und die Schwellkörper an der Vulva schwellen an - es kommt also zur Erektion. Ein weiterer Botenstoff ist das vasoaktive intestinale Peptid (VIP). Dieses regt bei Frauen unter anderem die Geschlechtsdrüsen zur Sekretproduktion an. Das wiederum führt zur Lubrikation, also zur Befeuchtung von Vulva und Vagina. Hält die Reizung der erogenen Zonen an, zum Beispiel durch Einführen des Penis in die Scheide, steigen die Nervenerregungen im Rückenmark bis ins etwas höher gelegene Ejakulationszentrum auf. Auch hier erfolgt eine Umschaltung auf Nerven, die zurück in die Genitalregion führen. Wie der Name Ejakulationszentrum vermuten lässt, führt diese Nerven-Aktivierung dazu, dass sich Muskeln zusammenziehen und so dafür sorgen, dass das Ejakulat heraus befördert wird. Beim Mann geht dieser Vorgang häufig mit einem Orgasmus einher, bei Frauen hingegen deutlich seltener. Zeitgleich kommt es zu rhythmischen Muskelkontraktionen der Beckenmuskulatur und manchmal auch der Skelettmuskulatur. Der Orgasmus hält individuell unterschiedlich meist nur einige Sekunden an. Daran schließt sich die Rückbildungsphase an. Ein spannender Unterschied ist, dass Männer nach einem Orgasmus häufig in eine Refraktärphase rutschen. Während dieser Zeit können sie nicht oder nur erschwert eine erneute sexuelle Erregung erlangen. Die Refraktärphase hält, ebenfalls individuell unterschiedlich, Minuten bis Stunden an. Frauen hingegen kennen solch eine Hemmphase meist nicht und können auch mehrmals direkt hintereinander Orgasmen erleben.

Sowohl das Erektionszentrum als auch das Ejakulationszentrum gehören zu dem Teil des Nervensystems, den wir größtenteils nicht mit unserem eigenen Willen beeinflussen können. Es wird deshalb als autonomes oder vegetatives Nervensystem bezeichnet. Innerhalb dieses autonomen Nervensystems gibt es zwei Systeme: den Sympathikus und den Parasympathikus. Der Sympathikus wirkt eher aktivierend auf den Körper. Er beschleunigt zum Beispiel den Herzschlag und weitet die Pupillen. Damit bereitet er uns auf "fight-or-flight"-Reaktionen vor. Der Parasympathikus hingegen trägt zur Erholung des Körpers bei. Er regt zum Beispiel den Speichelfluss und die Verdauung an, damit wir Energie aufnehmen können. Sein typisches Aufgabengebiet ist also "rest and digest". Sympathikus und Parasympathikus bewirken an Organen häufig genau das Gegenteil (z.B. Puls beschleunigen vs Puls senken). Aus diesen Gründen werden sie oft als Gegenspieler angesehen. Das mag in vielen Fällen auch stimmen, doch für die Sexualfunktion ist es wichtig, dass beide Systeme gut zusammen harmonieren. Das Erektionszentrum nutzt nämlich parasympathische Nervenstränge und das Ejakulationszentrum sympathische Nervenstränge. Für die erste Hälfte des sexuellen Zyklus ist demnach der Parasympathikus zuständig. Wenn es Richtung Orgasmus und Ejakulation geht, übernimmt der Sympathikus. Das zeigt sich unter anderem daran, dass beim Orgasmus nochmal stark Puls und Blutdruck hochgehen, Muskeln anspannen, die Atmung noch schneller und flacher wird und viele Menschen anfangen zu schwitzen. Nur wenn beide Systeme im Gleichgewicht sind, ist Sex möglich. Im REM-Schlaf hingegen sind Teile des Sympathikus abgeschaltet. Das Gleichgewicht gerät ins Wanken, der Parasympathikus überwiegt. Das ist vermutlich die Ursache, warum es im Schlaf zu ungewollten nächtlichen Erektionen kommt (übrigens sowohl bei Männern als auch bei Frauen).

Hemmende und aktivierende Einflüsse des Gehirns auf die Sexualität

Das Rückenmark ist zweifellos der Antreiber, wenn es um Erektion und Ejakulation geht. Dennoch darf man die Rolle des Gehirns nicht vernachlässigen. Die sexuelle Erregung ist nämlich ein Zusammenspiel aus den bereits beschriebenen autonomen, aber auch aus emotionalen und kognitiven Faktoren. Das Ansehen oder Riechen des Partners/der Partnerin, aber auch die eigene Vorstellungskraft im Sinne sexueller Fantasien kann ebenfalls zu einer Aktivierung des Erektionszentrums führen. Dies kann in Kombination mit der oben beschriebenen Reizung erogener Zonen oder auch ganz unabhängig davon ablaufen. Absteigende Bahnen aus dem Gehirn können aber auch einen hemmenden Einfluss auf die sexuelle Erregung ausüben. Gründe dafür können soziale Normen, Ängste oder Stress sein. Während des Geschlechtsverkehrs sind gleich mehrere Zentren im Gehirn aktiv. Im Belohnungszentrum etwa wird Dopamin ausgeschüttet, was zu einem positiven Gefühl führt. Die Hirnanhangdrüse bildet Prolaktin, was ebenfalls ein positives Gefühl auslöst, aber vor allem bei Männern auch für die Hemmphase nach dem Orgasmus verantwortlich zu sein scheint. Gleich mehrere Zentren im Gehirn hemmen sexuelle Erregungen, um unter anderem sozialen Normen zu entsprechen (diese Hemmung entfällt bei einigen neurologischen Erkrankungen). Der Hypothalamus bildet außerdem das als Kuschelhormon bekannte Oxytocin. Dieses wirkt aktivierend auf das Erektionszentrum und unterstützt bei Frauen wohl die rhythmischen Muskelkontraktionen der Gebärmutter (ähnlich wie unter Geburt). Ein erhöhtes Oxytocin in Kombination mit einem erniedrigten Stresshormon Cortisol hat übrigens noch einen weiteren Nebeneffekt. Laut eines Reviews aus dem Jahr 2016 führt Geschlechtsverkehr vor dem Schlafengehen bei Frauen mit Schlafproblemen zu einer Stressreduktion und zu einem besseren Ein- und Durchschlafen. Damit ist Sex nicht nur neurowissenschaftlich sehr faszinierend, sondern für viele Menschen vielleicht auch Therapie.

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