Emeran Mayer, ein renommierter Gastroenterologe, hat sich mit seinem Werk "Das zweite Gehirn" einen Namen gemacht. Mayer ist Geschäftsführer des Oppenheimer Center for Stress and Resilience und Kodirektor des Digestive Diseases Research Center an der University of California in Los Angeles. Er verbindet in diesem Buch topaktuelle Erkenntnisse der Neurowissenschaft mit den neuesten Forschungsergebnissen zur menschlichen Darmflora und zeigt die untrennbare Verbindung zwischen unserem Verstand und Verdauungssystem auf.
Emeran Mayer: Ein Experte der Darm-Hirn-Forschung
Wenn sich Medizinstudentin und Bestsellerautorin Giulia Enders in "Darm mit Charme" auf einen Fachmann bezieht, dann ist es der renommierte Gastroenterologe Prof. Emeran Mayer. Er hat die letzten 40 Jahre über das Zusammenspiel von Gehirn und Darm geforscht und hat über 300 Publikationen und diverse Bücher zu diesem Thema veröffentlicht. Mayer ist gebürtiger Deutscher und studierte Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, bevor er in die USA übersiedelte und sich dort auf die Gastroenterologie spezialisierte. 2016 erhielt er den prestigeträchtigen Paul D.
Inhaltliche Schwerpunkte des Buches
Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Darm-Gehirn-Achse beschäftigen.
Das enterische Nervensystem: Aufbau und Funktionsweise des "Bauchhirns"
Im ersten Teil des Buches beschäftigt sich Mayer mit dem Aufbau und der Funktionsweise des Darmnervensystems, dem sogenannten enterischen System. Dieser Teil ist eher biologisch-medizinisch ausgerichtet und führt auf faszinierende Art und Weise in eine Welt der Mikroorganismen ein. Diese sind kleinste Lebewesen, die mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen sind, jedoch überall um uns herum in der Welt vorkommen.
Der Einfluss des Darms auf Entscheidungen und Emotionen
Der zweite Teil ist besonders relevant für psychologisch Interessierte. Hier geht es um die Frage, ob und wie der Darm menschliche Entscheidungen und Emotionen beeinflussen kann. Gerade im Hinblick auf Intuitionen oder Gefühle, die im Bewusstsein auftauchen, ohne dass man den Grund dafür kennt, ist dies relevant. Der Autor erläutert hier, dass sensorische Signale, die im Darmnervensystem entstehen, über spezifische Nervenbahnen ans Gehirn geleitet werden. Diese sensorischen Signale, die besonders in der Inselregion des Gehirns verarbeitet werden, werden dann vom Menschen als sogenannte „Bauchgefühl“ wahrgenommen, so der Autor. Diese Aussage erinnert an Antonio Damasios Hypothese der somatischen Marker, die im Prinzip etwas Ähnliches postuliert: Hier wird angenommen, dass emotionale Erfahrungen „verkörperlicht“ werden. Das bedeutet, dass Signale aus dem Körperinneren (nicht nur aus dem Darm) auftreten, in der Folge als Emotionen bewusst wahrgenommen werden und schließlich unbewusst als Entscheidungsgrundlage genutzt werden.
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Gesundheit und Wohlbefinden: Praktische Tipps für einen gesunden Darm
Der dritte Teil schließlich widmet sich dem Thema Gesundheit. Der Autor geht hier der Frage nach, was wir Menschen tun können, um gesund zu bleiben. Gesundheit fängt dabei laut dem Autor bei einem gesunden und funktionsfähigen Darm an. Hier gibt er auch eine ganze Reihe praktischer Tipps zum Thema Ernährung, die ebenfalls einen maßgeblichen Effekt auf psychische Parameter hat.
Die Rolle der Darmmikroben bei psychischen Störungen
Für Psychologinnen und Psychologen mag im dritten Teil vor allem Folgendes interessant sein: Hier werden Darmmikroben beispielsweise auch mit psychischen Störungen in Verbindung gebracht, wie zum Beispiel der Depression. Der Autor erläutert, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, die typischerweise bei schweren Depressionen verschrieben werden, das serotonerge Neurotransmittersystem anregen. Dies alleine ist nicht weiter neu. Der Autor führt jedoch weiter aus, dass Serotonin nicht wie lange angenommen ausschließlich im Gehirn wirkt, sondern dass ein Großteil des Serotonins in dafür spezialisierten Darmzellen gespeichert ist. Diese Zellen weisen enge Verbindungen zum Gehirn auf und ganz besonders zu Hirnarealen, die am emotionalen Erleben beteiligt sind. Der Autor mutmaßt, dass diese Darmmikroben daher möglicherweise auch bei der Entstehung der Depression eine Rolle spielen könnten. Dies ist jedoch, wenn auch sehr interessant, ein bislang noch kaum erforschtes Gebiet.
Körper und Geist: Eine untrennbare Einheit
Laien erfahren an dieser Stelle einmal mehr in eindrucksvoller Weise, wie Körper und Geist miteinander verbunden sind. Dies ist in der Tat ein Thema, welches lange bekannt und in der Fachsprache als Leib-Seele-Problem bekannt ist. Es tauchte schon früh in der Literatur auf (z. B. in der Philosophie des Geistes). Der Autor des Buches positioniert sich dabei ganz klar und postuliert, dass Körper und Geist zusammengehören und Wohlbefinden oder Unwohlsein immer auf körperlicher und geistiger Ebene zu verstehen sind.
Kritik und Anmerkungen
Kritisch anzumerken ist, dass sich Forscher an der einen oder anderen Stelle etwas mehr methodische Klarheit in Bezug auf die wissenschaftlichen Studien, auf die der Autor im Laufes des Buches Bezug nimmt, gewünscht hätten. Es wird zwar häufig erwähnt, dass wissenschaftliche Studien zu einem bestimmten Thema durchgeführt worden sind, allerdings geht der Autor kaum darauf ein, wie diese Studien genau ausgesehen haben. Angaben zum genauen Studiendesign oder Informationen zur Art der Studie und den exakten Ergebnissen fehlen. Innerhalb des Fließtextes finden sich zudem keinerlei Quellenbelege. Zwar findet sich am Ende ein ausführliches Literaturverzeichnis, die Quellen werden allerdings nicht im Fließtext erwähnt. Falls eine Studie im Fließtext erwähnt wurde, obliegt es also der Leserschaft selbst, diese ausfindig zu machen, was teilweise kaum möglich ist. Dies hat zu dem Gefühl geführt, dass einige Thesen des Autors (besonders im Bereich der Interaktion von Darmprozessen und psychischen Phänomenen) schlecht nachprüfbar sind.
Durch die stets anschauliche Schreibart weiß man zudem nicht immer, welche Ideen bereits mit empirischen Studien untermauert worden sind und welche erst mal Spekulation sind und in zukünftigen Experimenten getestet werden müssen. Psychologinnen und Psychologen, die sich mit dem Themengebiet auskennen, können diesbezüglich sicher eine Einordnung anhand des eigenen Faktenwissens vornehmen. Für Laien dürfte es schwierig sein, zu unterscheiden, was bereits gesicherte Erkenntnis ist und was noch der empirischen Überprüfung bedarf.
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