Der renommierte deutsche Autor David Wagner hat sich in seinem Werk oft persönlichen Themen gewidmet. In seinem Buch "Der vergessliche Riese" setzt er sich mit der Demenzerkrankung seines Vaters auseinander und beleuchtet die Veränderungen in ihrer Vater-Sohn-Beziehung. Das Buch ist nicht nur ein Krankenbericht, sondern auch eine autobiografische Reise zu seinen Wurzeln und seiner Kindheit.
Der vergessliche Riese: Ein Vater wird zum Kind
David Wagners Vater war eine Symbolfigur der bundesdeutschen Wohlstands- und Aufstiegsgesellschaft. Er lebte in Bonn und arbeitete im Dunstkreis der Macht. Im Laufe der Zeit erkrankte er an Demenz, was zu einer veränderten Dynamik zwischen Vater und Sohn führte.
Wagner beschreibt, wie er seinem Vater nach langer Zeit wieder näherkam. Nachdem der Vater zum zweiten Mal verwitwet war, waren die Kinder wieder gefragt. In einer Lebensphase, in der die eigenen Kinder eigene Wege gingen und neue Freiheiten entstanden, rückten die Eltern wieder in den Fokus und wurden gewissermaßen selbst wieder zu Kindern.
Der Vater selbst erkannte oft klar, was mit ihm geschah, und bezeichnete sich selbst als "vergesslichen Riesen". Er vergaß, was eben noch gewesen war, und wiederholte sich ständig. Doch trotz seiner Vergesslichkeit blieb er ein liebenswerter Mensch mit liebenswerten Eigenheiten.
Die Konfrontation mit der Krankheit
Die Demenzerkrankung des Vaters stellte die Familie vor große Herausforderungen. Zunächst wurde er zu Hause von Pflegekräften betreut. Doch als dies nicht mehr möglich war, musste er in ein Pflegeheim umziehen.
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Wagner beschreibt den Tag des Umzugs als einen schmerzhaften Moment. Er fuhr mit seinem Vater zum Schwimmen, während seine Schwestern dessen Sachen für den Umzug packten. Der Vater wusste nicht, dass es sein letzter Tag im Eigenheim war.
Im Pflegeheim, der "Villa am Rhein", fand der Vater einen schönen Ort zum Leben. Er hatte dort bereits Urlaub gemacht und erkannte den Ort wieder. So funktionierte der Trick: "Ah, dann darf ich wieder Urlaub machen".
Literarische Heimkehr und Versöhnung
Die Auseinandersetzung mit der Demenzerkrankung des Vaters führte David Wagner zu einer Art literarischen Heimkehr. Er kehrte zurück in die Landschaft seiner Kindheit, an den Rhein.
Wagner hatte lange Zeit nichts mit dem Rheinland zu tun haben wollen. Doch durch die Beschäftigung mit seinem Vater konnte er diese Region neu entdecken und eine andere Perspektive auf seine westdeutsche Herkunft gewinnen.
Das neue Verhältnis zum Vater war von Freundschaft geprägt. Wagner erkannte, dass sich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Laufe des Lebens verändert. Während die Eltern bei der Geburt der Kinder viel älter sind, nähern sich die Generationen im Alter immer weiter an.
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Ein Buch gegen das Vergessen
David Wagners "Der vergessliche Riese" ist mehr als nur ein Krankenbericht. Es ist ein Buch über das Leben, die Familie und die Vergänglichkeit. Es ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und eine Versöhnung mit der Vergangenheit.
Wagner zeigt, wie wertvoll die Auseinandersetzung mit älteren Menschen sein kann, auch wenn sie an Demenz erkrankt sind. Er erinnert daran, dass jeder Mensch, unabhängig von seinem Zustand, eine Geschichte hat, die es wert ist, erzählt zu werden.
Das Buch ist ein Plädoyer für mehr Achtsamkeit und Empathie im Umgang mit Demenzkranken. Es zeigt, dass es möglich ist, auch in schwierigen Situationen Humor und Lebensfreude zu bewahren.
Stilmittel und literarische Besonderheiten
David Wagner verwendet in seinem Buch verschiedene literarische Stilmittel, um die Demenzerkrankung seines Vaters darzustellen. Ein wichtiges Element sind die Dialoge zwischen Vater und Sohn. Durch die Wiederholungen, Auslassungen und Verwechslungen in der Sprache des Vaters wird die Krankheit auf eindringliche Weise erfahrbar.
Wagner verzichtet bewusst auf eine distanzierte Beschreibung der Krankheit. Stattdessen lässt er den Vater selbst sprechen und gibt ihm so eine Stimme. Dadurch entsteht eine große Unmittelbarkeit und Nähe zum Leser.
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Der Autor vermeidet Frustemotionen und Sentimentalität. Stattdessen zeigt er den zärtlichen Umgang mit dem Vater und die stillen Momente der Komik und Tragik, die mit der Krankheit einhergehen.
Rezeption und Bedeutung
David Wagners "Der vergessliche Riese" wurde von der Kritik hoch gelobt und mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Das Buch hat viele Leser berührt und eine breite Diskussion über das Thema Demenz angestoßen.
Es wurde als ein wichtiges Buch über das Leben, die Familie und die Herausforderungen des Alterns bezeichnet. Es hat dazu beigetragen, das Thema Demenz zu enttabuisieren und das Verständnis für die Betroffenen zu fördern.
Das Buch kann auch als bibliotherapeutisches Werk gelesen werden. Es bietet Trost, Hoffnung und neue Perspektiven im Umgang mit der Krankheit. Es zeigt, dass es möglich ist, auch in schwierigen Zeiten eine erfüllte Beziehung zu einem demenzkranken Menschen zu führen.