Dein Gehirn weiß mehr als du denkst: Eine kritische Zusammenfassung

Niels Birbaumers Buch "Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst" verspricht einen revolutionären Blick auf unser Gehirn. Es wird dargestellt als ein formbares Organ mit nahezu unerschöpflichen Potentialen. Diese Zusammenfassung bietet eine kritische Auseinandersetzung mit den Hauptthesen und Argumenten des Buches.

Einführung

Das Buch des Leiters des Instituts für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, Prof. Dr. Niels Birbaumer, in Zusammenarbeit mit dem Journalisten Jörg Zittlau, argumentiert, dass unser Gehirn weit mehr kann, als wir ahnen. Es zeigt anhand von Experimenten die (Selbst-)Bildungsfähigkeit und Plastizität des Gehirns. Das Buch gibt Einblicke in spektakuläre Versuche, die Locked-in-Patienten eine Sprache verschafften, Epileptikern und Schlaganfallpatienten Hoffnung geben und die Therapie bei Parkinson, Demenz und ADS revolutionieren sollen. Es wird eine neue Sichtweise auf das Gehirn als erfolgsgeleitetes Organ eröffnet, das zur Selbstheilung und -korrektur angeregt werden kann.

Inhaltliche Schwerpunkte und Argumentation

Die Formbarkeit des Gehirns

Ein zentrales Thema des Buches ist die These von der nahezu unerschöpflichen Formbarkeit unseres Gehirns. Dies wird der weit verbreiteten Annahme entgegengestellt, dass Gehirn und Verhalten als fest und unveränderlich anzusehen sind. Das Gehirn wird als ethisch prinzipienlos dargestellt, da es ausschließlich darauf achtet, ob Handlungen einen Gewinn bringen (Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Prestige, Liebe). Wenn dies der Fall ist, werden Handlungen wiederholt, andernfalls unterlassen.

Persönlichkeit und äußere Umstände

Kapitel 1 thematisiert die Frage, inwieweit wir eine konsistente Persönlichkeit haben oder situationsbedingt handeln. Laut Birbaumer spielen äußere Umstände und Zufälle eine größere Rolle, als wir glauben wollen. Das Gehirn wählt jeweils die Option, die den gewünschten Effekt verspricht.

Plastizität des Gehirns am Beispiel von Taxifahrern

Kapitel 2 zeigt das Gehirn als Organ mit erstaunlicher Plastizität. Birbaumer illustriert dies am Beispiel der Londoner Taxifahrer, die für ihre Zulassung 25.000 Straßen und einige Hundert Sehenswürdigkeiten kennen müssen. Er hält die Plastizität ihrer Gehirne für vergleichbar mit der von Geistesgrößen wie Einstein.

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Locked-in- und Wachkoma-Patienten

Die Kapitel 3 und 4 sind Locked-in- und Wachkoma-Patienten gewidmet. Diese Patienten benötigen aufwendige technische Apparate und Training, um sich sprachlich mitzuteilen. Birbaumer wendet sich gegen das Abschalten von Geräten und gegen Sterbehilfe und warnt vor Patientenverfügungen. Er argumentiert, dass ein gesunder Mensch mit vierzig Jahren kaum voraussehen könne, was er als siebzigjähriger Alzheimer- oder ALS-Patient wollen würde.

Selbstheilungskräfte des Gehirns

Kapitel 5 handelt von den Fähigkeiten des Gehirns zur Selbstreparatur. Nach einem Schlaganfall können Nachbarzellen der zerstörten Gehirnzellen deren Aufgaben übernehmen, allerdings nur, wenn man sie dazu zwingt. Birbaumer kritisiert unzureichende Fortschritte in der Therapie und plädiert für die Nutzung der enormen Plastizität des Gehirns zur Selbstheilung.

Behandlung von Angststörungen und Depressionen

Im 6. Kapitel geht es um die Behandlung irrationaler Ängste und Depressionen. An Beispielen wird gezeigt, wie es möglich ist, diesen Störungen ohne Pillen beizukommen. Birbaumer demonstriert die Wirksamkeit kognitiver Therapie bei Depression und konstatiert, dass es keinen Grund gibt, eine Depression als irreparables Schicksal zu betrachten.

Veränderbarkeit von Psychopathen

Kapitel 7 liefert die optimistische Nachricht, dass auch Psychopathen sich ändern können. Birbaumer argumentiert, dass psychopathisches Verhalten nicht auf einer abstrakten Geisteshaltung beruht, sondern auf einer Unterfunktion verschiedener Gehirnregionen, die an Ängsten beteiligt sind. Er setzt auf die Plastizität der Angstfunktionskreise im Gehirn und schlägt Neurofeedback zur Reanimation der funktionsschwachen Bereiche vor.

Strategien gegen degenerative Hirnerkrankungen

Kapitel 8 zeigt Strategien im Kampf gegen die degenerativen Hirnerkrankungen Parkinson und Alzheimer. Kurz gefasst geht es um das Training kognitiver Funktionen. Birbaumer betont, dass das Gehirn ein Großmeister der Kompensation ist, und empfiehlt gezieltes Training und Stimulation.

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ADS und Alternativen zur medikamentösen Behandlung

Kapitel 9 behandelt ADS, die Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Birbaumer kritisiert die Pharmaindustrie für ihr Interesse, ADS als eine Störung zu propagieren, der man am besten mit Medikamenten beikommen kann. Er argumentiert, dass die Plastizität des Gehirns erlaubt, ADS auch ohne pharmazeutische Hilfe in den Griff zu bekommen. Mit einem Selbstkontrolltraining mittels Neurofeedback lernten Kinder in 13 Stunden ihr Gehirn selbst zu steuern.

Genie für alle?

Kapitel 10 fragt, ob ein „Genie für alle“ möglich wäre. Die ernüchternde Antwort lautet: „Kein Genie auf Knopfdruck“. Birbaumer beschreibt das Phänomen der Savants und Autisten mit Inselbegabung. Er zeigt, dass ihr Gehirn bei einer Wahrnehmung deutlich schneller aktiv wird.

Kritik und Kontroversen

Trotz der positiven Darstellung der Möglichkeiten des Gehirns, gibt es auch kritische Stimmen und Kontroversen rund um Birbaumers Forschung.

Wissenschaftliches Fehlverhalten

Im Zusammenhang mit der Kommunikation mit CLIS-Patienten (Completely Locked-In Syndrome) mittels fNIRS-Technologie wurden Birbaumer und seinem Kollegen wissenschaftliches Fehlverhalten attestiert. Untersuchungskommissionen bemängelten die Validität der Ergebnisse und die Interpretation der Daten.

Fragwürdige Behandlungsmethoden

Einige der von Birbaumer beschriebenen Behandlungsmethoden, wie die Konfrontationstherapie mit traumatisierten Patienten, sind umstritten und ethisch fragwürdig. Die hohen Risiken und Belastungen für die Patienten stehen möglicherweise nicht im Verhältnis zum potenziellen Nutzen.

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Überschätzung der Plastizität

Kritiker werfen Birbaumer vor, die Plastizität des Gehirns zu überschätzen und die Grenzen der Selbstheilungskräfte zu vernachlässigen. Nicht alle Erkrankungen und Schädigungen des Gehirns lassen sich durch Training und Stimulation vollständig kompensieren.

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